Ermordet zwischen Sylt und Ostfriesland: 6 Küstenkrimis. Alfred Bekker
waren mit sich selbst beschäftigt.
Der Mann zog den Inhalt des Umschlags ganz heraus. Das Schreiben eines Notars, bestehend aus zwei Blättern und einem kleineren Dokument, das er sich als erstes ansah.
Er blieb minutenlang stocksteif stehen. Nur seine Hand zitterte, und er konnte nicht glauben, was dort geschrieben stand.
Dann nahm er sich den Brief selbst vor. Seine Lippen bewegten sich lautlos, als er den Text mitlas.
Er schloss die Augen und dachte lange nach. Dann faltete er das Schreiben entschlossen wieder zusammen und legte es in das Buch zurück. Vorsichtig schob er die Bibel wieder an ihren Platz.
Er drehte sich um und starrte nach draußen zu seinem alten Herren. Ein dünnes Lächeln erschien in seinem Gesicht. Die Augen begannen zu funkeln.
Jetzt brauchte er einen Plan.
Einen verdammt guten Plan!
1.Kapitel
Wilhelm Papendieck war mit seinen achtzig Jahren immer noch rüstig und klagte nur gelegentlich über Rückenschmerzen. Der Blutdruck war ein bisschen zu hoch, aber das war es auch schon. Sein Arzt hatte ihm versichert, dass er hundert Jahre alt werden könnte. Eine Vorstellung, die ihn allerdings ziemlich erschreckte.
Seine Frau war vor Jahren gestorben, und sein einziger Sohn war vor langer Zeit mit seiner Familie nach Wittmund umgezogen. Sie verstanden sich nicht besonders gut. Am meisten schmerzte es, dass er seine Enkelkinder nicht so oft sehen konnte, wie er es sich eigentlich wünschte.
Sein Sohn hatte immer wieder eine Ausrede parat, wenn die Rede auf einen möglichen Besuch der Kinder kam.
Na, schön, am vorigen Samstag war er kurz vorbeigekommen, um guten Tag zu sagen, wie er sich ausdrückte. Zu viel mehr hatte die Zeit nicht gereicht. Durch das Küchenfenster hatte er gesehen, dass seine Schwiegertochter im Auto geblieben war. Es war noch nicht mal Zeit für einen Tee mit Kandis gewesen…
Mit der Frau seines Sohnes kam er überhaupt nicht zurecht. Sie kleidete sich wie ein junges Mädchen, gab schnippische Antworten und lies ihren Schwiegervater die Verachtung, die sie ihm entgegenbrachte, bei jeder Gelegenheit spüren. Nun, damit musste er wohl leben.
Ein kurzes Lächeln zog über sein Gesicht, wenn er an das Erbe dachte, dass die beiden erwarteten. Sie würden sich wundern!
Wilhelm Papendieck wohnte jetzt in einem kleinen Haus am Rande von Aurich.
Sein ganzer Stolz war sein Garten, den er täglich pflegte. Auch sonst versuchte er, alles selbst in Schuss zu halten. Schließlich hatte er bis zu seiner Pensionierung einen kleinen Handwerksbetrieb besessen.
Neben der Gartenarbeit war seine zweite regelmäßige Tätigkeit der sonntägliche Besuch bei seinen Freunden im Seniorenheim. Zwei von ihnen kannte er bereits aus der Schule, die anderen hatte er im Laufe der Zeit kennengelernt, als mit den Jahren ihr Bekanntenkreis größer wurde.
Er hoffte, dass er selbst noch lange in seinem Häuschen leben konnte. Er fühlte sich überhaupt nicht gebrechlich wie einige der anderen.
Jedenfalls musste er sich keine Sorgen über seine Zukunft machen.
Auf die schmale Rente allein war er nicht angewiesen.
Er kicherte leise.
Wenn seine Nachbarn eine Ahnung hätten, wie für seine alten Tage vorgesorgt war, würden sie ihn mit anderen Augen betrachten. Derzeit war er für sie nur ein Rentner, der bescheiden lebte und alles selbst im Haus erledigte.
Nun, sie hatten gegenseitig geschworen, dass keiner von ihrem Geheimnis erfahren durfte, nicht einmal die eigenen Kinder.
Sie hatten alle verstanden, dass es besser war, wenn niemand davon wusste.
Es würde nur Neid erregen, und sie würden nicht mehr unter sich sein können, weil sich plötzlich viele andere um sie kümmern würden, natürlich nur, damit sie an dem Erfolg teilhaben konnten.
Wilhelm Papendieck wusste aus eigener Erfahrung, dass der Neid zu den schlimmsten menschlichen Eigenschaften gehörte.
Zählte er nicht sogar zu den sieben Todsünden der Kirche?
Genug der trüben Gedanken.
Er schleppte die Leiter aus dem Geräteschuppen zur vorderen Seite des Hauses und lehnte sie vorsichtig gegen die Dachrinne. Es war eine alte hölzerne Leiter, die jedoch noch ziemlich stabil war. Das sollte sie auch sein, denn sie war wesentlich jünger als er selbst.
Vor dem Hochklettern überprüfte er die Querstreben, doch alles war in Ordnung, nichts wackelte.
Er wusste, dass er solche Arbeiten eigentlich nicht mehr verrichten sollte, aber er hatte in der Vergangenheit immer alles selbst gemacht, und es würde auch diesmal gutgehen. Tiefschürfende Überlegungen hatten ohnehin keinen Zweck, denn die Dachrinne musste gereinigt werden.
Beim letzten Starkregen war das Wasser überall heruntergerauscht, nur nicht durch den Abfluss der Rinne, die offensichtlich verstopft war.
Wilhelm Papendieck schnappte sich den kleinen Eimer und die Schaufel, die er normalerweise für seine Blumenkästen benutzte, und stieg vorsichtig die Leiter empor.
Die Dachrinne war tatsächlich mit Blättern, Erde und allerlei Abfall gefüllt, wobei er sich fragte, wo das eigentlich alles herkam. Er begann, den Inhalt der Rinne mit der Schaufel in seinen Eimer zu füllen. Es war anstrengender als er dachte, auf der leicht schwankenden Leiter zu stehen und dabei an der Rinne zu arbeiten.
Vor der Nachmittagssonne schützten ihn die Blätter der großen Kastanie, die dicht beim Haus stand. Kleine Lichtkringel wanderten über das Dach, wenn der leichte Wind dünne Äste und die Blätter bewegte.
Plötzlich meinte er, ein leises Geräusch aus dem Garten unter ihm zu vernehmen. Es klang wie vorsichtig tastende Schritte. Er drehte den Kopf. Das Laubwerk der Kastanie verdeckte den Ort, wo er die Quelle des Geräuschs vermutete.
Wilhelm Papendieck lauschte eine Zeitlang, doch außer dem Rascheln der Blätter war nichts zu hören. Mit einem Seufzer wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
Ohne jede Vorwarnung sackte die Leiter unter ihm weg, nachdem ein kurzes Krachen und Knirschen zu hören war.
Eimer und Schaufel fielen ihm aus der Hand, und er versuchte verzweifelt, den Rand der Dachrinne zu erwischen.
Vergebens.
Mit Armen und Beinen wild rudernd stürzte er zu Boden und stöhnte laut auf, als er schmerzhaft auf die Granitplatten prallte, die er selbst dort verlegt hatte.
Er spürte, wie die Knochen seines rechten Unterarms brachen, als er versucht hatte, seinen Sturz abzufangen. Ein rasender Schmerz durchzuckte seinen Körper, und in seinen letzten Sekunden vermeinte er zu hören, wie jemand etwas sagte.
Es klang wie: „Das war´s für dich, Alter!“
Wilhelm Papendieck spürte einen festen Griff an seinem Hals, dann setzte sein Herz aus, und sein Kopf rollte haltlos zur Seite.
*
„Willst du schon wieder raus?“
Tjade Winkels betrachtete seinen Hund, der an der Haustür saß und leise vor sich hin jaulte.
Es handelte sich um eine Promenadenmischung mit einem weißbraunen Fell, die Winkels auf den Namen Harm getauft hatte. Der Hund hatte ursprünglich einem Mordopfer gehört. Der Tote hatte keine Angehörigen gehabt, und niemand wollte den Hund haben.
Winkels war damals als Hauptkommissar der Polizeiinspektion Aurich der leitende Ermittlungsbeamte gewesen. Er hatte es nicht über sich bringen können, den damals noch kleinen Hund ins Tierheim bringen zu lassen und hatte sich entschieden, ihn selbst zu sich zu nehmen und für ihn zu sorgen.
Das