Wirtschaft hacken. Uwe Lübbermann
– seinem Wunsch entsprechend – namentlich aber nicht genannt wird.
Ich komme aber nicht allein zu Wort. Meine Stimme wird durch die Stimmen von Kolleginnen und Geschäftspartnerinnen ergänzt, damit ein breiteres Bild entsteht. Außerdem äußern sich einige Wirtschaftswissenschaftlerinnen zu Wort, mit denen ich schon länger zusammenarbeite. Sie verknüpfen meine Arbeit mit verschiedenen Modellen aus der Ökonomie. Den Abschluss bildet eine Art nachgetragener Auto-Biographie, eine kurze Skizze der Wegmarken, die vielleicht erklären, wie ich wurde, was ich bin. Sie soll Mut machen, es mir nachzutun – das heißt: selbst etwas zu unternehmen, um unsere Wirtschaft ein bisschen sozialer und nachhaltiger zu machen. Wie das im Einzelnen gehen kann, erzählen die vorangehenden Kapitel anhand einzelner Fragen. Was ist ein Kollektiv? Was bedeutet es überhaupt, zusammenzuarbeiten? Wo hört das eigene Unternehmen auf und wo fängt das fremde an? Wie findet man gemeinsam die beste Lösung? Wie viel Führung brauchen kollektive Unternehmungen und welche Aufgaben hat sie? Wieso muss ich auf dem Fusion Festival weder den Eintritt noch mein Bier bezahlen? Und wie habe ich meine Hauptunternehmung, den Getränkeproduzenten Premium-Kollektiv, durch die Coronakrise geführt?
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Neuigkeiten kommuniziere ich übrigens auf www.twitter.com/luebbermann unter #wirtschafthacken und freue mich auch, wenn man das aufgreift und selbst anfängt, zu hacken. |
Hamburg im April 2021
Uwe Lübbermann
Einleitung
Als die Bundesregierung Mitte März 2020 begann, auf die Covid-19-Pandemie mit weitreichenden Schließungen und Kontaktbeschränkungen zu reagieren, war mir sofort klar, dass zahlreiche Firmen in eine prekäre Lage geraten würden. Vor allem würde es diejenigen betreffen, die wie das Premium-Kollektiv ihre Umsätze zu 95 Prozent in der Gastronomie und bei Veranstaltungen machen. Wie überleben wir das? Für einen Moment war ich versucht, in dieser Ausnahmesituation als Inhabender des Unternehmens die Demokratie auszusetzen und radikale Kürzungen und Streichungen anzuordnen. »Kleinmachen, großmachen«, hieß stattdessen unser Kurs, der rückwirkend leicht erklärt ist. In der Situation selbst, in der wir unser Handeln einer neuen Lage anpassen mussten, die sich über Nacht verändert hatte, war das eine enorme Belastung. Wir haben alle betroffenen Kollektivmitglieder gefragt, ob wir ihre Rollen kürzen oder streichen dürfen, ob wir Lieferungen und Produktionen verschieben dürfen und ob wir Zahlungen verschieben oder streichen dürfen. Die Entscheidung darüber lag immer bei den Betroffenen selbst und war stets verbunden mit einer weiteren Frage: Brauchst du in dieser Ausnahmesituation irgendetwas von uns im Voraus? Solange wir können, bekommst du das auch. Niemanden wollten wir hängen lassen, weder unsere Kollektivistinnen1 noch unsere Geschäftspartnerinnen. Wer unbedingt Geld brauchte, bekam es auch. Wo uns dies erlaubt wurde, haben wir aber Zahlungen geschoben. Einige Kollektivistinnen (alle sind selbstständig) bezogen staatliche Soforthilfen und konnten so auf Honorarzahlungen verzichten; Eine ganze Reihe unserer Lieferantinnen willigte ein, dass wir sie später bezahlen dürften, wenn die Geschäfte wieder besser liefen – ohne Zinsen versteht sich. Einige waren aber doch auf Zahlungen angewiesen und die konnten wir auch großzügig bedienen, ebenfalls im Voraus, wenn das nötig war, und selbstredend auch ohne für unsere Vorschüsse Zinsen zu verlangen. Einer unserer Vertriebsmitarbeiter hatte beispielsweise versäumt, seine Steuererklärung abzugeben und sah sich deshalb mit einer hohen Forderung seitens des Finanzamts konfrontiert. Als er uns das mitteilte, haben wir ihm das benötigte Geld einfach überwiesen. Achttausend Euro. Das ist für uns kein kleiner Betrag, unser Jahresumsatz liegt bei lediglich sechshunderttausend Euro, aber das ist eben Solidarität. Sich großmachen heißt, keinen im Stich lassen. Das war möglich, weil wir uns dort, wo es ging, kleinmachen konnten und sich andere für uns großmachten, weil sie wussten, dass wir unsererseits für andere einstanden.
Auf den ersten Blick sieht das vielleicht seltsam aus. Warum sollte eine Firma für andere einstehen, wenn es im Kapitalismus doch darum geht, den eigenen Vorteil zu maximieren und wir alle Einzelkämpferinnen sind? Wir merken jedoch jeden Tag, dass das gut funktioniert und für alle Vorteile hat. Wenn ich mich anderen gegenüber fair verhalte und mich mit ihnen solidarisiere, verhalten sie sich mir gegenüber früher oder später genauso – meistens jedenfalls.
Wir ziehen keine Grenze zwischen uns und denen, mit denen wir zusammenarbeiten, also unseren Zuliefererinnen, Spediteurinnen oder Kundinnen. Wer von uns betroffen ist, gehört dazu. Und wer dazugehört, darf mitreden. Das bedeutet: Man sitzt mit am Tisch, wenn darüber gesprochen wird, wer was wann macht und was man dafür bekommt. Das handeln wir alles aus, konsensdemokratisch. Denn keine ist wichtiger als die andere. Schließlich kann niemand von uns das Geschäft allein machen. Jemand muss den Sirup herstellen, die Cola mischen, die Etiketten und die Flaschen produzieren, befüllen, liefern, abrechnen und buchhalten. Jemand muss all diese Prozesse organisieren und schließlich muss jemand die Cola kaufen. Erst dann ist das Unternehmen komplett und es gibt keinen Grund anzunehmen, eine Beteiligte wäre wichtiger als die andere.
Sicher, es gibt einen Markt für Flaschen, Etiketten, Sirup, Frachtkontingente und natürlich Arbeitskräfte und wir haben uns als Gesellschaft daran gewöhnt, Leistungen nach ihrem Marktpreis zu bezahlen, das heißt nach der Macht, die jemand gegenüber anderen hat. Im Premium-Kollektiv finden wir das jedoch nicht richtig. Niemand sollte diese Macht oder Überhand gegenüber anderen ausüben, denn wir glauben, dass alle Menschen gleichwürdig sind und mithin die gleichen Rechte und Freiheiten haben sollten und nicht eine Person mächtiger sein sollte als andere. Genau genommen ist sie das auch nicht, auch nicht in den traditionellen Unternehmen, in denen es eine Chefin oder Inhaberin gibt, die alles steuert und das meiste Geld kassiert. Denn was hilft es ihr, die Chefin zu sein, wenn sie nicht den Sirup anrühren, die Cola mischen und abfüllen und den Lkw fahren kann, der die Sachen zu Kundinnen bringt, wenn sie nicht die einzelnen Flaschen ausgeben und abrechnen kann. Das alles kann kein Mensch allein tun, sie braucht dafür viele andere und weil das so ist, sind alle gleich wichtig.
Das Ungleichgewicht entsteht dadurch, dass es Menschen gibt, die etwas besitzen, und andere, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen und diese auf dem Markt zu jedem Preis verkaufen müssen, der ihnen geboten wird, wenn sie nicht im Elend leben möchten. Sie sind nicht frei, wie es die Ideologie des Marktes behauptet, sondern bestenfalls frei zu verhungern, und diese Ungleichheit erzeugt falsche Hierarchien. Wäre es nicht so, dass manche etwas besitzen und viele nichts, und müssten jene, die nichts besitzen, nicht für die Besitzenden um fast jeden Preis arbeiten (weil es beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe), so würde sich die Gleichheit im Geschäftsleben fast von allein herstellen. Die Ungleichheit ist kein Ausdruck unterschiedlicher Leistung, sondern das Resultat einer vorgängigen Ungleichheit, die der Markt perpetuiert.
Da wir diese Ungleichheit aus Gründen der Gleichwürdigkeit aller Menschen ablehnen, verdienen bei uns alle denselben Stundenlohn, ich natürlich auch. Zulagen gibt es nur für besondere Bedürfnisse, zum Beispiel wenn jemand Kinder hat oder Angehörige pflegt, eine Behinderung hat, oder ein häusliches Arbeitszimmer braucht (wir hatten noch nie ein Büro). Denn all das macht das Leben besonders teuer und Kollektivistinnen, die damit zu tun haben, brauchen entsprechend mehr Geld, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen.
Wie dieses egalitäre und partizipative Geschäftsmodell im Einzelnen funktioniert, welche Vorteile es bringt und welche Probleme es löst, aber auch welchen Herausforderungen es sich gegenübersieht, möchte ich im Folgenden beschreiben. Dabei kommen auch einige Kollektivistinnen und andere Betroffene zu Wort. Einige von ihnen stelle ich im nächsten Kapitel vor, um einen Einblick in unser Kollektiv zu geben und einige Grundannahmen unseres Arbeitens, die ich hier nur angerissen habe, genauer darzustellen.
1Bei uns arbeiten etwa gleich viel Männer wie Frauen, im Kollektiv sind auch einige Diverse. Ich verwende das generische Femininum. Wenn ich Kollektivistinnen schreibe, sind Männer und Diverse darin eingeschlossen.