Wirtschaft hacken. Uwe Lübbermann
Grundannahmen und Menschen, mit denen ich zusammenarbeite
Zu den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite und an deren Beispiel ich zeigen kann, wie wir arbeiten, gehört zum Beispiel Michael. Michael ist unser Spediteur. Er holt die Getränke bei uns ab und bringt sie zu den Kundinnen. Das sind in der Regel Getränkehändlerinnen, die die Ware weiter an die Gastronomie verteilen. Als ich ihn das erste Mal anrief, um mit ihm eine Fuhre zu verabreden, war er ziemlich erstaunt, dass ich mit ihm nicht wie üblich verhandelte. Ich sagte ihm nicht, wann er die Ware bei uns abholen und wo er sie wann (möglichst auf die Stunde genau) abliefern sollte, sondern fragte ihn erst einmal, ob er die Lieferung überhaupt machen wollte und wann sie ihm zeitlich passen würde. Im nächsten Schritt startete ich keine Preisverhandlungen mit ihm, sondern fragte ihn, wie viel Geld er bräuchte, damit er die Fahrt machen könne. Außerdem sagte ich ihm, wie viel die Getränkehändlerin bezahlen könne – vor dem Hintergrund des Verkaufspreises im Markt und des Einkaufspreises bei uns. Am Ende einigten wir uns auf einen Preis, mit dem jede gut leben konnte.
Das beschreibt mein Ziel bei dem, was man unter Geschäftsleuten gemeinhin Verhandlungen nennt. Es geht nicht darum, für mich selbst das Optimum rauszuholen, durch Tricks oder das Ausnutzen eines Vorteils, sondern darum, eine Vereinbarung zu finden, mit der alle Beteiligten gut leben können. Nur so lassen sich stabile Strukturen aufbauen.
Wenn der Spediteur Michael mit dem Lohn gut leben kann, fährt er zuverlässig. Wenn die Getränkehändlerin mit den Frachtkosten gut leben kann, kann ich Michael weiterhin beauftragen – und wir können unsere Getränke verkaufen. Jede ist zufrieden und die Sache läuft stabil, über viele Jahre. Es gibt in dieser Hinsicht kaum Probleme, im Gegenteil. Das ist mein Lieblingskriterium für Erfolg: die Abwesenheit von Problemen. Eine Erfolgskennzahl als Beispiel: eine Null, das heißt kein einziger Rechtsstreit in mehr als neunzehn Jahren Betrieb mit zuletzt 1 700 gewerblichen Partnerinnen.
Das ist jedoch nicht alles. So zu arbeiten bedeutet nicht nur, weniger Schwierigkeiten zu haben, sondern bietet auch einen wesentlichen Mehrwert. Alle Beteiligten fassen Vertrauen zueinander und schätzen sich gegenseitig wert. Man achtet aufeinander. Genauso wenig wie wir versuchen, aus Michael den besten Preis für uns herauszuholen, versucht er das bei uns. Er ist beim Verladen sehr gewissenhaft, auch da, wo es eigentlich nicht seine Aufgabe ist. Hat der Händler die Paletten ordentlich gestapelt? Wenn nicht, entsteht schnell Bruch, der teuer ist. Für uns, nicht für ihn. Indem wir die Grenzen zwischen mir und dir, mein und dein in den Vereinbarungen aufheben, verschwinden sie auch in der Zusammenarbeit. Michael achtet auf unsere Sachen wie auf seine eigenen.
Das gilt auch im Hinblick auf geschäftliche Interessen. Wenn beispielsweise eine Händlerin in eine Schieflage zu kommen droht und Waren vielleicht bald nicht mehr bezahlen kann, informiert Michael uns. Die Anzeichen dafür erkennt er mit seinen mehr als dreißig Jahren Berufserfahrung schon, wenn er beim Getränkemarkt auf den Hof fährt. Was steht an Leergut rum? Wie sehen die Gabelstapler aus? Was machen die Mitarbeiterinnen für einen Eindruck? Man redet ja auch beim Laden. Und Michael hält für uns die Augen und Ohren offen.
Einmal erzählte er mir im Vorfeld, dass eine unserer Kundinnen in drei Monaten von einer Konkurrentin aufgekauft werden würde. Er hatte schon länger bemerkt, dass es bei der einen schlecht und bei der anderen gut lief und in der Folgezeit das Auto Letzterer ein paar Mal vor dem Betrieb unserer Kundin stehen sehen. Natürlich fragte er sich: »Worüber reden die wohl? Über eine Übernahme. Und wann wäre das sinnvoll? Zum Jahresende.« Darüber informierte er mich, weswegen ich entsprechend reagieren und die Gastronominnen informieren konnte. An den Lieferwegen musste ich nichts ändern, die macht Michael weiter.
Wir bezahlen Michael nur als Spediteur, bekommen aber einen Außendienstmitarbeiter kostenlos dazu, der auch bei Kundinnen erzählt, wie zufrieden er ist. Das liegt an der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Dieser Umgang ist ein Kapital an sich. Er ist unserer Erfahrung nach wichtiger als Geld. Über diesen positiven Effekt spreche ich gern, wenn ich andere davon überzeugen will, sich ebenfalls fair zu verhalten. Es rechnet sich. Ich selbst mache das aber zunächst einmal aus Überzeugung. Dass es sich rechnet, ist ein willkommener Nebeneffekt. Und ich halte dieses Verhalten auch dann durch, wenn es sich nicht rechnet oder es vielleicht sogar ausgenutzt wird, weil ich Menschen davon überzeugen möchte, sich meiner Art des Wirtschaftens anzuschließen.
So arbeiten wir beispielsweise seit über dreizehn Jahren mit einem großen Getränkehändler zusammen, der nach einer starken Aufbauphase genau das lange Zeit gemacht hat: unsere Fairness ausgenutzt. Wir bieten einen Antimengenrabatt an, was bedeutet, dass nicht diejenigen, die besonders viel bei uns kaufen, einen Rabatt bekommen, sondern die, die wenig kaufen oder besser gesagt kaufen können. Für sie subventionieren wir die Transportkosten und unterstützen so kleine Händlerinnen, die sonst keine Ware abnehmen könnten, weil die Lieferkosten pro Flasche unverhältnismäßig hoch wären. Frank beanspruchte diesen Antimengenrabatt, kombinierte dann aber – schlau wie er ist – die Lieferung so mit anderen Lieferungen, dass der Lkw schlussendlich doch voll war. Obwohl er unsere Subvention also überhaupt nicht brauchte, beanspruchte er sie uns gegenüber dennoch. Als wir dahinterkamen, drängten einige aus dem Kollektiv darauf, die Zusammenarbeit mit ihm zu kündigen. »Wir lassen uns doch nicht ausnehmen und betrügen schon mal gar nicht!« Ich hielt dagegen: »Wenn wir nur mit Menschen zusammenarbeiten, die schon so denken wie wir, können wir in der Welt nur wenig verändern. Wir müssen gerade an denen dranbleiben, die so sind wie Frank, um sie zu verändern.« Bei Frank habe ich das geschafft. Ich habe unsere Beziehung nicht gekündigt und ihm den Rabatt auch nicht gestrichen, ihm aber immer wieder erklärt, warum sein Verhalten falsch ist. Nach gut zehn Monaten kam die Einsicht und nach zehn Jahren Zusammenarbeit die Umsetzung bei einem ganz anderen Thema. Er gab zuerst nicht nur den Antimengenrabatt ab, sondern überließ einige Jahre später auch drei Viertel seines Umsatzes mit unseren Produkten einem konkurrierenden Getränkehändler, zu dem wir kürzere Wege haben und den wir ökologisch nachhaltiger beliefern können. Für jemanden, der vor ein paar Jahren noch bereit war, wegen ein paar Euro mehr Profit seine Geschäftspartnerinnen zu hintergehen, ist das kein kleiner Schritt.
Solche Veränderungen zu bewirken ist die zweite Schicht meines Unternehmens, das ich gerne als Zwiebel beschreibe. Der Kern ist das Kollektiv, in dem wir so arbeiten, wie es unseren Grundannahmen entspricht. Darum legt sich eine enge Schale von Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, und so im besten Fall deren Wirtschaften ebenfalls verändern. Dabei falle ich natürlich nicht mit der Tür ins Haus, sondern ködere unsere Geschäftspartnerinnen erst einmal mit einem wirtschaftlichen Vorteilspaket. Wenn wir die Zusammenarbeit mit einer Getränkegroßhändlerin beginnen, zeige ich ihr, dass wir ein wirtschaftlich sinnvoller Partner sind. Sie bekommt ein exklusives Liefergebiet, in dem ihr keine andere Händlerin Konkurrenz macht – mit unseren Produkten. Es gibt feste, abgestimmte Preise, die wir gemeinsam beschließen und die sich auch nicht spontan ändern. Es gibt eine Starthilfe durch den Antimengenrabatt. Sollte es seitens der Kundinnen der Händlerin zu Zahlungsausfällen kommen, gleichen wir das aus und holen uns das Geld von der dritten Partei zurück. So minimieren wir ihr Risiko. Sollte Ware unverschuldet ablaufen, nehmen wir sie zurück. Bei größeren Abbuchungen fragen wir vorher, ob wir abbuchen dürfen. Zu diesen sehr angenehmen Konditionen lassen wir die Geschäfte anlaufen. Wir bauen eine Beziehung auf und tun fast alles dafür, dass die Händlerin glücklich ist. Dann kommen wir nach und nach ins Gespräch. Warum machen wir das so? Welche Grundannahmen stehen dahinter? Und wie wäre es, wenn die Händlerin einen Teil davon auf ihr Geschäft übertragen würde? Dass es ökonomisch funktioniert, zeigt unser Beispiel. Und dass es besser ist, zusammen zu arbeiten als gegeneinander, auch. So verändern wir sukzessive das Verhalten unserer Geschäftspartnerinnen und um diese Veränderung geht es mir eigentlich. Sie ist das eigentliche Produkt. Die Getränke sind nur das Vehikel, über die ich sie vertreibe.
Deshalb machen wir auch keinen Unterschied zwischen unserer unternehmerischen Arbeit und unserer Beratung von anderen Unternehmen oder Institutionen. Im Gegenteil, oft können wir die gewünschte Veränderung in der Beratung sehr viel schneller erreichen als im Getränkehandel, weil hier der Umweg über die Waren entfällt. Im Grunde verstehen wir uns nicht als Getränkehersteller, sondern als eine Gruppe von Menschen, die eine bestimmte Form, miteinander zu arbeiten und zu wirtschaften, nutzt und verbreitet wie ein Betriebssystem. Uns allen geht es