Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger

Postsowjetische Identität?  - Постсоветская идентичность? - Wolfgang Krieger


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den Siebzigerjahren eine gewisse Tradition und sie ist nun, rund dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetzeit, noch immer keine abgeschlossene Diskussion. Sie bildet den Ausgangspunkt für die heutige Frage, ob und in welchem Umfang auch nach dem Ende der Sowjetrepubliken in den Mentalitäten der Bürger*innen ihrer Nachfolgestaaten der „Sowjetmensch” noch fortbestehe beziehungsweise welcher neue „Menschentypus” in den letzten Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion sich infolge der neuen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen herausgebildet habe. Beide Fragen vereinen sich in der aktuellen Frage nach der Konstitution einer „postsowjetischen Identität”, der in diesem Buch teils auf grundsätzliche Weise, teils in analytischer und beschreibender Weise nachgegangen wird. Mit dieser Thematik eng verbunden ist die Frage nach der Entstehung neuer Wertorientierungen beziehungsweise auch nach dem Fortbestehen sozialistischer Werte in den auch im kulturellen Wandel sich befindenden Gesellschaften des ehemals sowjetischen Ostens. Die Bedeutung von Wertorientierungen für die Entstehung einer neuen „postsowjetischen Identität” stellt in diesem Buch eine herausgehobene Thematik dar und ist zugleich in gewissem Umfang auch eine programmatische Ausrichtung der Analyse.

      Die Veröffentlichung dieses Buches schließt an eine Internationale Konferenz zum Thema „Postsowjetische Identität“ an, die vom 17. bis 21 September 2018 in Deutschland an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein am Fachbereich für Sozial- und Gesundheitswesen stattfand. An ihr nahmen Dozent*Innen aus Partner-hochschulen der Hochschule Ludwigshafen aus der russischen Föderation, aus Armenien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Deutschland teil. Sie beteiligten sich an Arbeitsgruppen und Workshops und hielten Vorträge zum Thema, die größtenteils in diesem Buch wiedergegeben und übersetzt werden. In der Folge schlossen sich weitere interessierte Autor*innen aus ehemals sowjetischen Ländern der Bearbeitung des Themas an, so dass im vorliegenden Buch nun Beiträge von russischen, albanischen, armenischen, bosnisch-herzegowinischen, deutschen, kirgisischen und litauischen Sozialwissenschaftler*innen veröffentlicht werden können.

      Die besagte Konferenz trug den Titel „Postsowjetische Identität – neue Wertvorstellungen und die Entwicklungen des Individuums in den postsowjetischen Ländern” und setzte somit einen Akzent auf einen bestimmten sozialanthropologisch, soziologisch, kulturologisch und psychologisch gleichermaßen anerkannten Faktor in der Entwicklung von Identität, nämlich auf die identitätsbildende Bedeutung von Wertorientierungen in der Kultur von Gesellschaften. Dieser Faktor steht neben anderen Faktoren der Selbstidentifikation wie dem leiblichen Selbstbewusstsein, den Zuschreibungen von Identität durch die sozialen Beziehungen eines Menschen, der Selbstverortung des Menschen in sozialen Zugehörigkeiten und vertrauten ökologischen Räumen etc. und er findet sein Fundament vor allem in traditionellen, politischen und religiösen Weltbildern, aus welchen heraus leitende Wertorientierungen und lebenssinnschaffende Einstellungen entstehen. Damit hatte sich die Konferenz einer gewissen Engführung des Identitätsthemas verschrieben, die freilich nicht gegenüber andersartigen Faktoren der Identitätsentwicklung in ausschließender Weise verbindlich werden sollte, aber doch vor allem die Betrachtung von Identität als Selbstidentifikation mit Wertorientierungen und Haltungen in den Vordergrund stellen wollte.

      Diesem Selbstverständnis des thematischen Auftrages entsprechend wurde der Konferenz eine Reihe von Leitfragen an die Teilnehmer*innen vorangestellt, die hier kurz aufgeführt seien:

      1 Sind nach dem Ende der Sowjetzeit neue Werte entstanden oder sind die Wertvorstellungen dieser Zeit noch immer am wichtigsten? Welche Werte aus dieser Zeit existieren weiter, welche neuen Werte etablieren sich?

      2 Woher kommen diese neuen Werte, wodurch werden sie begründet? Gibt es neue Ideale?

      3 Welche Visionen haben die Menschen heute vom guten Leben und von einem sinnvollen Leben?

      4 Wodurch glauben die Menschen, etwas Wertvolles für andere Menschen, für die Gesellschaft tun zu können?

      5 Welche Symbole kennzeichnen eine erfolgreiche Lebensführung und ein „gutes Image“ für den postsowjetischen Menschen? Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

      6 Entsteht ein Wertepluralismus in dieser Gesellschaft oder zeichnet sich eine neue gesellschaftliche Homogenität im Wertbewusstsein der Individuen ab?

      7 Gibt es Konflikte zwischen den Wertvorstellungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, gibt es Konflikte zwischen den Generationen?

      8 Wie wünschen sich junge Menschen in der Zukunft zu werden? Gibt es Idole, mit denen sich junge Menschen identifizieren?

      9 Welche Unterschiede können erkannt werden zwischen den Werten dieser Gesellschaft und denen im Westen zurzeit?

      10 Wohin wird sich voraussichtlich die Gesellschaft in diesem Land in den nächsten Jahren entwickeln? (Dimensionen: soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Eliten, interkulturelle Öffnung)

      11 Wo können die größten Konfliktpotenziale in der Gesellschaft gesehen werden? Was eint und was spaltet die Gesellschaft?

      12 Was sind die wichtigsten Veränderungen im Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Staat?

      Die Artikel in diesem Buch nehmen zu ausgewählten Fragen aus dieser Liste Stellung und verbinden nicht selten Fragestellungen auch untereinander. Sie argumentieren sehr häufig stellungnehmend zur historischen Vergangenheit, sei es, um durch die Kontrastierung der Gegenwart zur Vergangenheit die Situation besondern prägnant zu profilieren, sei es, weil sich die Probleme der Gegenwart teilweise aus den Bedingungen der Vergangenheit herleiten lassen, sei es, um aus der vorsowjetischen Vergangenheit Wertsysteme wieder aufzugreifen, von deren Wiederbelebung man sich einen Gewinn für die Gegenwart und Zukunft erhofft. Der historische Vergleich ist daher ein fast durchgängiges Mittel zur Präzisierung der Identitätsproblematik und der Wertbildungsproblematik in der Gegenwart. An seiner Seite steht ein weiterer Vergleich, nämlich der zwischen dem Wertebewusstsein der westeuropäischen Kulturen und jenem der östlichen postsowjetischen Länder heute.

      In diesem Buch wird die Suche nach einer Identität in Kulturen, die ihre sowjetischen Merkmale – so die implizte Vorannahme der Rede von einer “postsowjeti-schen Identität” – mehr oder minder verloren haben und auf dem Wege sind, neue Strukturen auszubilden und sich so selbst neu zu formieren, aus sehr unterschiedlichen Sichtweisen heraus betrieben. Das Buch versammelt Beiträge aus dem postsowjetischen und postkommunistischen Raum, konkret aus der russischen Föderation, aus Zentralasien, dem Kaukasus und dem Baltikum, ferner Autor*innen aus dem postkommunistischen Balkan, und schließlich aus dem europäischen Westen. Die Autor*innen aus diesen verschiedenen Ländern blicken auf das Alte wie das Neue teils als Insider mit den Augen der direkt Konfrontierten, die die Veränderungen in unmittelbarer Erfahrung verfolgt haben und bis in ihren Alltag hinein vielfältig von ihren Auswirkungen betroffen waren und die zugleich auch als Zeitzeugen der Vergangenheit mehr als alle anderen kompetent sind einen Vergleich zu ziehen; teils schauen sie – von westlichen Erwartungen und Sichtweisen geprägt – von außen auf eine wenig vertraute Welt und versuchen mit ihnen geläufigen Erklärungen die ihnen auffällig erscheinenden Phänomene des Fremden nach eigener Logik zu ordnen; teils verfügen sie über ähnliche Erfahrungen mit dem gelebten Sozialismus und mit der post-kommunistischen Ära wie die Autor*innen aus den ehemals sowjetischen Ländern (so hier die Autor*innen aus dem Balkan) und erleben die postkommunistische Zeit danach in gewissem Maße als ähnlich zur postsowjetischen Lage im Osten, auch wenn ihr Blick durch das eigene Kulturbewusstsein Differenzen wahrnimmt, die einerseits von alternativen Perspektiven zeugen, andererseits aber auch das Vertraute im Fremden dem Fremdem im Vertrauten gegenüberzustellen erlauben. So wird – den unterschiedlichen Vorausset-zungen entsprechend – eine Vielzahl von Sichtweisen artikuliert und das Thema dieses Buches aus sehr unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Zugleich geraten auch infolge der Herkunft der Autor*innen aus verschiedenen Regionen landesspezifische Phänomene und Entwicklungen in den Blick, aus welchen sich Erklärungen für kulturelle Besonderheiten im Umgang mit den identitätsbildenden Faktoren finden lassen.

      Das Buch versteht sich zugleich als ein Kompendium der Positionierungen in der Frage nach den Konstitutiva einer „postsowjetischen Identität” und als Kaleidsokop vielfältiger Schlaglichter auf die Entwicklungsgeschichte einer nun etwa dreißigjährigen Phase postsowjetischer Kultur- und Gesellschaftshistorie. Es ist


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