Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger
für das zu engagieren, was den Jugendlichen interessant und wertvoll erschien, sie brachte aber auch Anomie, Perspektivlosigkeit, den Verlust von Lebenssinn und den Zerfall einer Vision für die russische Gesellschaft hervor und nicht zuletzt auch die berufliche Überlastung der Eltern beförderte unter Jugendlichen die Verbreitung von Drogenkonsum, Kriminalität und moralischer Indifferenz. Das Schwinden der nationalen Wertschätzung der Bildungsgüter hatte auch zur Folge, dass die Bildungsmotivation der Jugendlichen sich verringerte, ihr Sprachvermögen und ihre Ausdrucksfähigkeit geschwächt und überhaupt die Verbindlichkeit kultureller Normen geschmälert wurde. Diese Phänomene können gedeutet werden als ein Verlust an kultureller, gesellschaftlicher und moralischer Kompetenz, dem, wie Elisowa es nennt, eine „Pragmatisierung der Lebenswerte“ (процесс прагматизации жизненных ценностей) gegenübersteht. Sie drückt sich aus im Erstarken materieller Werte, insbesondere im Gewinnstreben, im Wohlstand und Konsum, in der Sicherheit der eigenen Familie und der Gesundheit. Diese Werte bilden sich auch in den Einstellungen ab, die die junge Generation den verschiedenen Berufen gegenüber zeigen; die Berufe des Business-Bereiches (Unternehmertum, Managment, Unternehmensberatung, Handel, Marketing, Werbung, PR und Bankenwesen) rangieren hier an oberster Stelle in der Wertschätzung. Andererseits engagieren sich nicht wenige Jugendliche auch ehrenamtlich in der Unterstützung sozial schwacher Gruppen und streben sichtlich danach, durch ein moralisch wertvolles Handeln ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, den sie im Wertevakuum des Zynismus der 90erjahre nicht finden konnten. Elena Elisowa berichtet von einer soziologischen Studie mit dem Titel «Das Labor von Kryschtanovskaja» 2012-2013 und von Untersuchungen des Zentrums von Sulakschin 2015-2016, die zum einen das Fehlen einer sozialen Verortung der Jugend hinsichtlich ihrer Identität aufzeigen, in dem sich der Mangel an gesellschaftlichen Visionen und an der Entwicklung eines neuen postsowjetischen Weltbildes durch Politik, Wissenschaft und Medien in Russland widerspiegelt, zum anderen die gravierende Differenz zwischen Wertbegriffen der Jugend und jenen ihrer Eltern und Großeltern von immateriellen zu materiellen Werten hin, vom kulturellen Wissen hin zum technischen Wissen, von der Liebe zur Heimat hin zum egozentrischen Vorteilsdenken, in welches zwar noch die Familie, nicht mehr aber die eigene Gesellschaft einbezogen wird. Daher erreichen auch die nationalistischen Propagandabemühungen der Politik letztlich nicht mehr das Selbstbild der russischen Jugendlichen, auch wenn sie bei offiziellen Gelegenheiten dem Scheine nach noch nationalen Konformismus demonstrieren. Ihr Blick auf die politische Vergangenheit und auf den erlebten Legitimationsschwund von Staat und Politik überwindet zuweilen auch den Zynismus und etablierten Pragmatismus ihrer Eltern und ruft Werte der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, der Chancengleichheit und des kulturellen Dialogs auf den Plan, die den Werten des westlichen Demokratiedenkens doch sehr ähnlich geworden sind.
Nomeda Sindaravičienė befasst sich in ihrem Artikel mit den Unterschieden zwischen den Generationen hinsichtlich der Wertorientierung und der Identifikationen mit der Sowjetzeit. Mit Beginn der Transformation existierten in Litauen (und wohl nicht nur dort) drei verschiedene Orientierungen nebeneinander, ein sowjetische, eine national und eine westlich ausgerichtete. Diese Orientierungen korrespondierten in gewissem Umfang mit den Generationen; quer zu den Generationen spielte aber das persönliche Schicksal und die eigene Rolle im sowjetischen System eine mindestens ebenso maßgebliche Rolle. Sindaravičienė unterscheidet zwischen der „alten Generation“ der noch vor dem Ende des zweiten Weltkrieges Geborenen, die zwischen ihren vorigen, oft westlich oder religiös geprägten Wertvorstellungen und den sozialistischen Werten einen Konflikt erlebte, der „jüngeren Generation“, die während des Krieges und bald danach geboren wurde und entweder im Aufbau der Sowjetgesellschaft wesentlich engagiert und ideologisch von ihr geprägt waren oder auch alles verloren hatten, sich immer bedroht fühlten und unaufällig bleiben mussten, der „verlorenen Generation“, die nach den Sechzigerjahren geborgen wurde, die große Rezession erlebte und mit ihr den Glauben an den sozialistischen Lebenssinn und die bisherigen Wertorientierungen verlor, und die heutige „unabhängige Generation“ der nach den Neunzigerjahren Geborenen, die im Wertevakuum der verlorenen Generation aufgewachsen ist und, ausgestattet mir mehr Freiheit als irgendeine Generation vor ihnen, eher verlegen vor der Aufgabe steht, sich neu zu orientieren. So bilden sich neue Typen von Orientierungen heraus mit neuen Prioritäten in Hinsicht auf Bildungsideale, soziales Engagement, Prestiges und sozialen Status und andere materialistische Werte. Auch eine Rückbesinnung auf vorsowjetische Traditionen, Religiosität, Familienkultur und nationale Größen auf der einen Seite und westliche politische, soziale, ökologische und demokratische Werte, Individualismus und eine ausgeprägte Konsumhaltung auf der anderen Seite kennzeichnen die neuen Orientierungen der jungen Generation.
Mit der Entwicklung einer staatsbürgerlichen Identität und ihren Rahmenbedingungen im nachrevolutionären Armenien befasst sich Sona Manusyan. Sie erläutert zunächst vor dem Hintergrund der Historie des Landes den Dominanzanspruch der ethnisch ausgerichteten Selbstwahrnehmung innerhalb der nationalen Identität der Armenier, dem gegenüber das staatsbürgerliche Fundament vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Ob die ethnische Identifikation ein Garant für sozialen Zusammenhalt ist, wenn ein staatsbürgerliches Selbstverständlich kaum ausgeprägt ist, erscheint jedoch fraglich, zumal wenn zwischen den Generationen und sozialen Schichten doch erhebliche Differenzen hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen und Lebensziele zu finden sind, die nun durch die Revolution noch verstärkt worden sind. Es war diese Erfahrung einer erfolgreichen Revolution gegen das alte, von Korruption, Vetternwirtschaft und Bürgerferne gekennzeichnete Regime, die nicht nur den Menschen, die die Revolution getragen haben, ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein vermittelt hat, sondern allen Bürger*innen gezeigt hat, dass sie Regierungen selbst bestimmen und den Staat mitgestalten können. Dennoch müssen viele Dimensionen einen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses, die in der armenischen Vergangenheit nie entstehen konnten, erst noch aus der Taufe gehoben werden – ein neues Verständnis bürgerlicher Verantwortung, von Solidarität und Teilhabe – und ein neues, von wechselseitigem Vertrauen getragenes Verhältnis zwischen Staat und Bürger*innen muss sich mit der Zeit etablieren.
Manusyan untersucht die konkurrierenden Selbstverständnisse verschiedener Gruppen entlang von sieben Gegensatzdimensionen, nämlich den Spannungsverhältnissen zwischen dem ethnischen und dem bürgerlichen Selbstverständnis, dem Traditionellen vs. Progressiven, dem Persönlichen vs. Öffentlichen, dem Institutionellen vs. dem Agenten, der Vergangenheit vs. der Zukunft, dem Diskurs vs. der Praxis und dem Selbstverständlichen vs. der Selbstreflexiven. Zum einen Seite führt die ethnische Fundierung des Nationalen immer wieder dazu, dass die Normen der nationalen Identität mit Intoleranz und hohem Konformitätsdruck verteidigt werden, auf der anderen Seite scheint das bürgerliche Selbstbewusstsein noch zu wenig ausgeprägt, um den nationalistischen Vereinfachungen die Ansprüche einer freiheitlichen, demokratischen und pluralen Solidarität entgegenzusetzen. Auch zwischen den Polen des Konservativen und des Progressiven wandeln – mit starken genera-tionellen Bindungen – die Identitätsentwürfe der Bürger*innen, eingespannt zwischen dem Wunsch nach einer freieren Lebensführung und einer diese einschränkenden traditionellen Familienorientierung. Solche Widersprüche spiegeln sich auch in der Doppelmoral zwischen der nach außen gezeigten und privatim tatsächlich gelebten Praxis. Das ehemals durch Tradition wie auch durch die sowjetische Gesellschaftsmoral kontrollierte Individuum hat sich seit geraumer Zeit als trotzigen Widersacher gegenüber der Gesellschaft entworfen, der der gesellschaftlichen Realität, insbesondere den Institutionen mit sozialem Zynismus entgegentritt und jenseits dieser Realität sein Glück sucht. Es rächt sich heute durch einen rücksichtlosen Egoismus, blinden Konsumismus und uneingeschränkten sozialen Wettbewerb, dem offenbar jegliche Wahrnehmung öffentlicher Interessen fremd ist. Dieser Entwicklung kann, wenn die Druckmittel der Tradition und des Kollektivismus nicht mehr ausreichen, nur ein bürgerliches Bewusstsein entgegenwirken, das die Individuen nicht nur als Träger von Freiheitsrechten, sondern auch von Pflichten und Rücksichten sieht und hierauf eine neue Solidarität gründet. Ihm steht der Staat als Garant der Rechte, aber auch als Forderer der Rücksichten gegenüber.
Edina Vejo und Elma Begagić beleuchten die Situation der postsozialistischen Länder des Balkans nach dem Zerfall Yugoslawiens am Beispiel der Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Wie in den anderen Staaten auch war die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Menschen und ihrer Gesellschaft vor allem geprägt von Tendenzen der Kontrastierung