Postsowjetische Identität? - Постсоветская идентичность?. Wolfgang Krieger
Identitätsrahmens, der genug Eigenes versprach, um sich von den zahlreichen anderen Balkangesellschaften zu unterscheiden. Die Identifizierung einer nationalen Identität mit diesen Bezugsgrößen erhöhte einerseits den Druck auf die Gesellschaft, maximale Homogenität herzustellen – was vor allem auf die Verteilung der Religionsgemeinschaften zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina eine hoch selektive Dynamik hervorbrachte –, sie konnte allerdings in Bosnien-Herzegowina andererseits keine Einheitlichkeit hervorbringen, da die Gesellschaft zwischen westlicher Modernisierung und einer zunehmenden Islamisierung hin- und hergerissen ist. Ein Versuch, zwischen beiden Tendenzen eine Brücke zu schlagen, bildet das Bemühen um einen zwar traditonell begründeten, aber historisch angepassten Islam. Dieses Bemühen soll – so die „moderne” Auffassung – als dialogischer Prozess, insbesondere mit der Jugend, seine Erfüllung finden.
In diesen verschiedenen Bestrebungen besteht zurzeit in jedem Falle ein Primat des Kollektivismus, sei er auf der Seite der Religion oder auf der Seite der westlichen Modernisierung. Wie schon einmal zur Zeit des jugoslavischen Sozialismus wird der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft in den laufenden Diskursen zur nationalen Identität eine „uniforme Kollektivität” aufgedrängt – Vejo und Begagić sprechen gar von der „Erstickung von Individualität” –, die der Entwicklung verantwortungsvoller Identität und Religiosität keinen Raum lässt. Vor allem die Suche nach einer nationalen Identität verhindert die Entwicklung einer pluralistischen Gesellschaft. Künftige Lösungen müssen im Raum dreier Kontinuen entwickelt werden, in der Bestimmung der Relation zwischen der Religion und der kollektiven Identifikation überhaupt, in der Bestimmung der Relation zwischen einem fundamentalistischen oder dialogischen Islam insbesondere und in der Bestimmung der funktionalen Indienstnahme der Religion als nationalistisches Symbol oder als Instrument eines intellektuellen Fortschritts in der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft.
Der soziale Wandel der Wertvorstellungen kennzeichnet auch den postsozialistischen Weg Albaniens und beeinflusst auf unterschiedliche Weise die neue Identität der Landsleute, so erklärt Arlinda Ymeraj in ihrem Artikel über soziale Werte im Übergang – im Falle Albaniens – und ihre Bedeutung für die Ausbildung einer staatsbürgerlichen Identität. Sie sieht diesen Wandel als eine Folge der Abwendung von den Werten der sozialistischen Verfassungen „gesellschaftliche Solidarität” und „Gleichheit” – ein in heutiger Bilanz unerfülltes Versprechen – hin zu demokratischen Werten, zum Schutz der Menschenrechte, zum Wohlstand für alle und zu sozialer Gerechtigkeit. Dass in den Jahren des Sozialismus das anfangs so begeisterungserfüllte Wertesystem vollständig zusammenbrechen konnte, hat seine Gründe u. a. im politischen Dogmatismus in den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, in der politischen Kontrolle von Programmen und in den Einschränkungen individueller Spielräume bei ihrer Durchführung, aber auch in der Unterdrückung und in der Angst vor dem kontrollierenden System, die die persönliche Identifikation mit den Werten unterhöhlten. Hinzu kam die bevorzugende und somit keineswegs gleichheitsorientierte Belohnung jener Bürger*innen und Einrichtungen, die sich besonders konform mit der politischen Führung erwiesen – vice versa die Benachteiligung eigenständig gestaltender Personen.
Vor dem Hintergrund der wandlungsreichen Geschichte des Landes in den letzten dreißig Jahren und der höchst autoritären Staatsführung bis 1991 werden die komplexen Wertkonflikte der albanischen Gesellschaft verständlich. Die – trotz wirtschaftlichen Wachstums – noch immer steigende Armut und soziale Ungleichheit, das geringe durchschnittliche Bildungsniveau, die in sozialen Normen begründete Diskriminierung und Exklusion von Bevölkerungsgruppen, verbreitete Korruption und anhaltend hohe Arbeitslosigkeit beeinflussen den Wertediskurs in der Gesellschaft und das Wertebewusstsein der Bevölkerung. Falsche Erwartungen an die Einführung der freien Marktwirtschaft bezüglich einer schnellen Verbesserung der eigenen Lebenslage und die seit bald 30 Jahren nahezu stagnierende Entwicklung des Landes bewirken zudem eine von Frustration genährte Skepsis gegenüber dem liberalen und demokratischen Wertesystem und – erneut – ein wachsendes Misstrauen in die Rentabilität persönlichen Engagements für diese Gesellschaft.
Ymeraj glaubt, in der albanischen Gesellschaft derzeit hinsichtlich ihres dominierenden Selbstverständnisses drei soziale Gruppen zu erkennen, die „Heimatlosen”, welche ohne hoffnungsvolle Aussichten in schlecht bezahlten Jobs oder in der illegalen Arbeit kaum mehr als ein Existenzminimum erarbeiten, die „Regelbrecher”, welche die kapitalistischen Wohlstandziele mit illegalen oder kriminellen Mitteln zu erreichen trachten und in Albanien ein nicht geringen Teil der Staatsmacht tragen, und die „Träumer”, loyale Staatsbürger*innen, die nicht aufhören, an ein neues demokratisches Albanien zu glauben, ihren Pflichten nachkommen und die eigentlich tragenden Kräfte einer Transformation in spe darstellen. Es liegt auf der Hand, dass – wenn schon nicht alle Werte – so doch die Normen der Lebensführung zwischen diesen drei Typen stark differieren. Kontrovers wird in Albanien diskutiert, ob die im Wechsel von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft veränderten Wertorientierungen die alten Werte der “Solidarität” und “Gleichheit” ersetzen müssten oder es möglich sei, sie beizubehalten und mit den neuen Werten auf bessere Weise zu erfüllen. Damit soziale Werte tatsächlich die Politik und das gesellschaftliche Leben in Albanien bestimmen können, ist es zunächst einmal notwendig, auf breiter Basis die soziale und staatsbürgerliche Bildung der Bürger*innen zu entwickeln.
In seinem zweiten Beitrag zur Bedeutung von Wertorientierungen für den kulturellen Wandel wendet sich Wolfgang Krieger der Frage zu, welche Werthaltungen in der medialen Selbstdarstellung junger Menschen in postsowjetischen Ländern in den social media zum Ausdruck kommen. In diesen Medien offenbaren junge Menschen heute mehr als anderer Stelle, wie sie sich selbst sehen, was ich ihnen wichtig ist, wie sie zu sich stehen und wer sie gerne sein möchten, womit sie sich identifizieren und welchen Kohorten und Kulturen sie sich zugehörig fühlen. Sie zeigen also in ihrer „Medien-Identität“ zum einen ihre individuelle Besonderheit, zum anderen plurale Formen einer kollektiven Identität und bieten diese Selbstdarstellungen an auf einem quasi-öffentlichen „Markt“ der sozialen Anerkennung, der über Akzeptanz oder Ablehnung der Identitätsformationen entscheidet. Sie unterwerfen sich in der Konstituierung ihrer Identität, zumindest sobald sie „ihre Leute“ gefunden haben, nicht nur hinsichtlich des Symbolrepertoires, sondern auch hinsichtlich ihrer Identifikation mit Rollen, Einstellungen und Werten einem mehr oder minder heteronom konditionierenden Sanktionsmechanismus. Dieser erklärt womöglich, warum in stark konformistisch geprägten Gesellschaften auch in den Medien-Identitäten vor allem kollektivistische Selbstinszenierungen wahrscheinlich werden.
Stärker als in der westlichen Medienkultur fällt zum Ersten auf, dass junge Menschen in postsowjetischen Ländern hochgradig stereotyp „in einen kulturell sanktionierten Raum“ von Konventionen eingebunden sind, dem ein je spezifischer Wertehorizont entspricht und der geteilt werden muss, wenn soziale Anerkennung erreicht werden soll, zugleich ein wenig überschritten, um aufzufallen. Der Autor stellt dar, dass der Umgang mit diesen Konventionen ein ambivalent riskantes Manövrieren zwischen konformer Erwartungserfüllung und individuellem Über-raschungsgebaren darstellt, auch wenn man in der postsowjetischen Medienkultur hinsichtlich des Überraschungsmomentes meist eher von einem „Thema mit Variationen“ sprechen muss. Zum Zweiten fällt auf, dass die Selbstdarstellung durch die eigene Repräsentation meist zusammen mit Statusymbolen erfolgt und damit eine Selbstüberhöhung verfolgt, die oft die Grenzen der Glaubwürdigkeit auch überschreitet und im Vagen lässt, ob die Inszenierung Reelles repräsentieren oder mit Fiktivem spielen soll. Dieses „Spiel“ geht im Feld der Statussymbolik sehr weit und riskiert auch den Übergang zum Lächerlichen, in welchem erneut offen bleibt, ob das Gezeigte ernsthafter Angeberei oder der Selbstironie zu verdanken ist. Am Beispiel einiger „Präsentationsformen der Selbstkategorisierung“ (Neue Körperlichkeit, Status-Identität, politische Identität und soziales Engagement, „Normalo“-Identitäten und Authentizität) illustriert Krieger, wie kollektive Normen Stil und Inhalt der Selbstdarstellungen prägen und welche Werthorizonte hinter der Selbstsymbolisierung zu vermuten sind. In der Wahl der Statussymbole bildet sich ein weiteres Mal die Dominanz materialistischer Wertorientierungen ab.
Am Beispiel der Ingenieursstudent*innen in Tomsk/Sibirien beschreiben Igor Ardashkin, Marina Makienko und Alexander Umykhalo die Veränderungen der beruflichen Identität von Ingenieuren der neuen Generation in Russland. Die Ergebnisse der zugrunde