Die Toten von Rottweil. Herbert Noack
bemerkt. Sie wird schon wieder hochkommen, dachte er nur. So etwas gehörte zum Anfang bei der Kripo dazu. Erst später würde man bei solch schrecklichen Bildern nicht mehr das Bewusstsein verlieren.
Er brauchte nicht lang hinzuschauen, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Beide Frauen hatten die gleiche Todesursache erlitten. Jeder von ihnen war der Schädel mit brachialer Gewalt eingeschlagen worden. Das konnte kein Mensch überleben. Keine Chance.
Er sah die Leiterin der Spurensicherung vor einem der Tücher knien und lief zu ihr. »Ulli, du schon wieder. Ich sehe dich seit Neuestem öfter als meinen besten Freund. Gegenüber dem Anblick heute Morgen allerdings sieht es ja hier echt schlimm aus. Da war der tote Richter eine wahre Augenweide.«
»Als ob du Freunde hättest, Paul. Die wenigen, die dafür infrage kämen, sind schon lange davongelaufen oder tot.«
»Ach, komm. So schlecht bin ich doch gar nicht«, versetzte er. »Hast du schon was Besonderes gefunden?«
Sie schüttelte zögernd den Kopf. »Noch nicht, Paul. Wir haben gerade erst angefangen. Es ist ein schrecklicher Tag, den ich bestimmt nicht so schnell wieder vergessen werde. Wir kommen mit der Arbeit kaum hinterher. Heute Morgen da draußen, jetzt hier drin. Meine Truppe musste sich teilen. Drei Kollegen sind beim Hofgerichtsstuhl, der Rest hier. Immerhin haben wir hier weniger Gaffer. Eines aber passt nicht und macht mich nachdenklich.«
»Was? Raus damit.«
»Die Ältere von den beiden, die vorn am Fahrstuhl liegt, trägt nur einen Unterrock. Sie wird wohl kaum so gearbeitet haben.«
»Das ist eigenartig. Habt ihr den fehlenden Arbeitskittel gefunden?«
»Noch nicht. Aber wenn es sein muss, krempeln wir den gesamten Turm nach dem Kleidungsstück um. Egal, wie lange er dann geschlossen bleiben muss.«
»Kannst du was zur Tatzeit sagen?«, versuchte Zeller erneut, Ulli ein paar Informationen zu entlocken.
»Es ist noch keine drei Stunden her. Der Notruf von hier kam um 6.40 Uhr. Viel früher wird man sie nicht getötet haben. Irgendwann zwischen ihrem Arbeitsbeginn und dem Anruf. Genauer geht’s nicht. Die Todesursache scheint klar, so eine rohe Gewalt überlebt niemand. Die jüngere Frau, da weiter hinten, versuchte zu flüchten. Sie kam nicht weit. Der Täter holte sie ein und erschlug sie. Dass kein Mensch ihr Schreien hörte? Man hat sie beide erschlagen wie räudige Hunde. Einfach nur grausam.«
»Die Tatwaffe muss stabil gewesen sein«, entgegnete Zeller und kauerte sich neben sie. »Ein Schirm oder ein Spazierstock wird es wohl eher nicht gewesen sein.«
»Auf keinen Fall! So eine Sauerei kann nur etwas Hartes anrichten wie ein Baseballschläger, eine Metallstange oder ein dicker Knüppel«, antwortete Ulrike Brenner und erhob sich.
»Oder ein Golfschläger«, sagte Zeller mehr zu sich selbst und schaute nachdenklich drein. Er meinte sich zu erinnern, im Foyer eine Tasche mit mehreren Golfschlägern stehen gesehen zu haben.
»Kann gut sein. Es gibt viele Möglichkeiten«, erwiderte die Kriminaltechnikerin dünnhäutig.
»Ich muss dir noch etwas zeigen. Du wirst erstaunt sein.« Er folgte ihr in den großen Konferenzraum. Der Gestank wurde immer grässlicher. Elli Jones, gerade ein wenig erholt, war zu ihnen gestoßen und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. Angewidert drehte sich die junge Frau bei dem Anblick gleich wieder weg.
Zeller traute seinen Augen nicht. Was sollte das sein? Eine Protestaktion mit Symbolcharakter? Hatte der Vortrag vom gestrigen Abend damit zu tun? Oder ging es gegen die Firma, die den Turm erbaut hatte? Mitten im Konferenzraum hing ein Schwein von der Decke. Der Bauch war geöffnet, aus ihm baumelten die Gedärme heraus. In die Schnauze hatte man dem Tier einen Packen Geldscheinattrappen gesteckt. »Zur Abwechslung wirklich was Neues, Ulli. Den Mord an einem Schwein habe ich bisher noch nie untersuchen müssen. Was soll Jones hier neben mir davon halten? Sie wird sich fragen, wo sie hineingeraten ist. Tierkadaver, ein ermordeter Richter und zwei erschlagene Frauen. Etwas viel für einen einzigen Tag.«
Er stellte seine blasse Kollegin und die Kriminaltechnikerin gegenseitig vor. Ulli Brenner lächelte Jones freundlich an. Irgendjemand musste ihr den Tag retten. Zeller würde es bestimmt nicht sein. »Ist für mich auch neu. Weder in der Ausbildung noch in Verbindung mit einem Mordfall habe ich so was schon gehabt. Allerdings hatte ich schon mit allerlei anderen Schweinen zu tun – unterschiedlichen Alters, beruflicher Position und Geschlechts. Wenn das nichts zu bedeuten hat … Ich habe die Sau extra für dich hängen lassen und hoffe, du dankst es mir einmal«, sagte sie zu Paul.
»Aber natürlich! Das weißt du doch. Ich bin gespannt auf den Todeszeitpunkt. Hing das Schwein schon, als die beiden Frauen den Raum betraten, oder hat man es später hier drapiert? Ich denke mal, es war schon da. Alles andere ergibt wenig Sinn.« Zeller hatte genug gesehen und verließ mit seiner neuen Kollegin den Konferenzraum. Draußen wandte er sich ihr zu: »Ich hoffe, der Tag heute wird Sie nicht von der Verwirklichung Ihres Berufswunsches abhalten. So etwas habe ich auch noch nicht erlebt. Glauben Sie mir. Und wahrscheinlich werden Sie das auch nie mehr erleben. Damit Sie auf andere Gedanken kommen, bringen Sie in Erfahrung, was hier gestern für eine Veranstaltung stattgefunden hat, wer referiert hat und wie viele Besucher da waren. Vielleicht ist eine Liste für Kartenvorbestellungen vorhanden. Dann haben wir Informationen darüber, wer anwesend war. Und lassen Sie bei den Bauern der Umgebung nachfragen. Ich will wissen, wem eine Sau abhandengekommen ist. Allerdings braucht derjenige nicht zu denken, dass er die zum Verwursten mitnehmen kann. Die geht nach Tübingen.«
»Jetzt gleich?«
»Nein, Jones, nächstes Jahr. Oder vielleicht übernächstes? Was stellen Sie für Fragen? Natürlich sofort! Wir brauchen Fakten.«
Sie nahmen den Panoramaaufzug nach unten. Eva, eine junge Polizistin, die gerade ihre Ausbildung beendet hatte, kam im Foyer auf Zeller zu. »Herr Kriminalhauptkommissar, im Raum zwei wartet die verantwortliche Turmmanagerin. Möchten Sie mit ihr sprechen? Sie heißt Elke Schatz.«
Er nickte und entschuldigte sich bei Jones. Dann folgte er der anderen Kollegin in das Zimmer neben dem zentralen Besuchereingang.
Dort stellte er sich kurz vor und setzte sich der Turmmanagerin gegenüber. Sie sah mitgenommen aus, weinte unaufhörlich und wischte sich ständig mit einem Taschentuch die Augen trocken. Das Make-up der adretten Frau um die 40 war verwischt. Schluchzend schnäuzte sie sich. Zeller wartete. Er wollte sie nicht drängen. Hier würde ein zu forsches Befragen das Gegenteil von dem bewirken, was er erreichen wollte. Er würde nichts erfahren. Als sie sich allmählich beruhigt hatte, sagte sie zu ihm: »Schrecklich. Einfach nur furchtbar. Berta war so eine treue Seele. Eigentlich hatte sie heute frei. Sie hätte gar nicht kommen müssen. Doch die Kollegin, die für heute eingeteilt war, musste sich krankmelden. Als ob sie es geahnt hätte. Berta ist deshalb kurzfristig eingesprungen. Man konnte immer auf sie zählen.«
»Sie waren zu zweit.«
»Ja, die andere Frau hieß Gudrun. Auch sie hat eine erkrankte Mitarbeiterin vertreten. Doch die Gudrun war das Gegenteil von Berta. Aber was soll man machen, es gibt nicht mehr viele gute Kräfte für diesen Job. Wer will sich denn heutzutage noch die Hände schmutzig machen! Da waren wir froh, dass …« Sie verstummte wieder. Der nächste Weinkrampf schüttelte sie. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Polizist. Es ist einfach abscheulich. Ich muss immerzu heulen. Dagegen kann ich nichts machen«, sagte sie schließlich etwas gefasster.
»Kein Problem, Frau Schatz. Sie sagen uns, was Sie gesehen haben, wenn Sie es können. Lassen Sie sich Zeit. Das wird schon noch«, beruhigte er sie.
Sie nickte und wischte sich wieder mit dem zerknüllten Taschentuch über die Augen.
Der Kommissar versuchte es erneut. »Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie den Turm betraten?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches. Es war wie jeden Tag. Die Schicht der Putzkräfte begann gegen 6 Uhr. Schließlich hätten wir heute unseren Turm ganz normal geöffnet und da kommen wirklich viele Leute zu uns. Da muss alles sauber sein. Es gab jede Menge Vorbestellungen für Führungen und Einzelbesuche. Die meisten Tickets werden über