Die Toten von Rottweil. Herbert Noack
»Wo soll ich schon gewesen sein! Hier am Tresen natürlich.«
»War die Eingangstür verschlossen?«
»Logisch. Ich hatte Ihnen gesagt, es war wie immer. Außerdem, was soll diese Befragung? Ist ja wie beim Verhör hier.«
»Sie sind Zeuge, Herr Seidel. Zeugen werden immer am Tatort befragt. Das ist Routine. Bitte nur noch eine Antwort auf meine letzte Frage.«
Der Wachmann stand auf und baute sich mit den Händen in den Hosentaschen breitbeinig vor Zeller auf. »Ich höre?«
»Wieso sagen Sie, dass die Tür verschlossen war? Frau Schatz behauptet das Gegenteil. Und wo kamen Sie her, als sie die Halle betrat? Sie waren nicht an Ihrem Platz!«
»Die Schatz, die spinnt doch. Wahrscheinlich hat sie noch nicht richtig ihre Äuglein aufbekommen, so verschlafen wie sie in der Früh hier manchmal erscheint. Natürlich war die Tür verschlossen. Ich selbst habe sie extra kontrolliert. Das mache ich jeden Tag so. Dabei habe ich draußen etwas gesehen. Da stand nämlich ein Auto auf dem Vorplatz. Wohlgemerkt nicht auf dem öffentlichen Parkplatz, sondern auf dem Platz gegenüber dem Mitarbeitereingang. Ich dachte schon, da wird aber lange gearbeitet. Darüber hatte ich mich gewundert. Alle Gäste und Mitarbeiter waren schließlich schon seit Stunden zu Hause.«
»Was für ein Auto? Fabrikat? Farbe? Haben Sie sich das Nummernschild gemerkt?«
»Dieses Auto kam mir bekannt vor. Ein Daimler. Rot. So einen, wie ihn der Schuhmacher fährt. Eine alte Kiste jedenfalls.«
»Wen meinen Sie mit Schuhmacher? Den Richter am Landgericht?«, fragte Zeller alarmiert.
»Na klar meine ich den Richter Unbarmherzig, der hat doch gestern hier referiert. Da drüben hängt noch ein Plakat. Hat man Ihnen das nicht erzählt? Es kam zu einem noch nie dagewesenen Vorkommnis.«
Zeller schaute in die Richtung, in die Seidel zeigte, und las: ›Demokratie und harte Strafen – ist das ein Widerspruch?‹ Er wunderte sich selbst darüber, dass es ihm nicht eher aufgefallen war. »Was für einen Vorfall?«
»Gegen 21.30 Uhr wurde ich gerufen. Da gab es im Konferenzsaal eine lautstarke Diskussion zwischen Schuhmacher und einem Mann. Der wollte sich nicht beruhigen und beschimpfte Schuhmacher als Richter ohne Mitleid, als rabiaten Schreckensherrscher, als Tyrannen in Robe. Da musste ich einschreiten und ihn rauswerfen.«
»Ich denke, Sie haben Ihren Platz nie verlassen?«, merkte Zeller an.
»Sorry, das hatte ich vergessen. Es war das einzige Mal. Ehrlich!«
Zeller machte sich eine Notiz in sein kleines Heft. Das war erstaunlich. Unvermutet ein erster Verdächtiger. Ob er die Personendaten wüsste, fragte Zeller den Wachmann. Seidel verneinte. Wieso auch, der Mann habe den Turm auf seine Bitte hin sofort verlassen.
»Wo ist das Auto des Richters jetzt?«
»Keine Ahnung. Als ich vor ein paar Minuten danach schaute, war es nicht mehr da. Er muss es abgeholt haben. Davor jedenfalls stand es die ganze Nacht da.«
»Das ist unmöglich. Schuhmacher ist seit heute Morgen nicht mehr unter den Lebenden. Befand sich nur dieses eine Auto heute Morgen hier?«
»Nein, drei«, antwortete der Wachmann.
»Drei?«, fragte Zeller verwundert.
»Na, das Auto von dem Richter und der Porsche vom Rechtsanwalt Hirsch«, antwortete Seidel mit Unschuldsmiene.
»Rechtsanwalt Hirsch?«
»Der war auch bei der Veranstaltung und ist danach wahrscheinlich zu Fuß nach Hause gelaufen. Doch auch sein Flitzer ist mittlerweile weg.«
»Und der dritte Wagen?«
»Das war mein Auto«, antwortete der Wachmann mit unverschämtem Grinsen.
Zeller grinste zurück und belehrte den Witzbold. Er könne jetzt gehen, vorerst seien sie fertig. Er solle seine Adresse bei den uniformierten Kollegen hinterlassen und sich verfügbar halten. Zeller störte Seidels freche Art. So obercool aufzutreten angesichts einer wenige Stunden zurückliegenden grausamen Bluttat, warf kein gutes Licht auf ihn. Wenn er annahm, damit durchzukommen, hatte er sich gewaltig geirrt. Da war noch recht viel unbeantwortet geblieben, was dringend geklärt werden musste. Doch die nächste Befragung würde nicht hier im Turm stattfinden. Dafür war das Polizeirevier besser geeignet.
Kapitel 5
»Haben Sie die Namen aller Teilnehmer? War die gestrige Veranstaltung gut besucht?«, fragte Zeller seine neue Kollegin, kaum hatte er sie im Foyer des Turms wieder angetroffen.
»Es gibt keine Liste der anwesenden Zuhörer. Die Karten wurden nicht online angeboten, sondern von den Veranstaltern ausgegeben. Es war eine Gemeinschaftsveranstaltung des Rotary und des Lions Clubs. Einmal im Jahr findet ein Abend zu einem bestimmten Thema mit einem geladenen Referenten statt. Als Ansprechpartner fungierte der Präsident des Rotary Clubs, ein gewisser Herr Stranger. Über ihn lief alles zusammen. Der Club buchte den Referenten und übernahm die Kosten. Was der Richter für den Vortrag ausgezahlt bekam, weiß ich nicht. Meistens spenden die Referenten den Betrag an eines der Hilfsprojekte ihrer jeweiligen Organisation. Es ist nicht billig, das große Konferenzzimmer im Turm zu mieten. Da legen Sie für vier Stunden schon ein paar Tausend Euro hin. Dazu noch Getränke, Fingerfood und ein kleiner Snack als Bewirtung – man hat sich nicht lumpen lassen. Gleichfalls gab es einen Spendenaufruf an die Gäste für ein Projekt in Südamerika. Das ist bei derartigen Veranstaltungen gang und gäbe. Rotary unterstützt soziale Hilfsprojekte in der ganzen Welt, da wird immer Geld benötigt.«
Zeller hegte schon die Befürchtung, dass Jones mit ihrem Monolog nie zum Ende kommen würde. Als sie eine kurze Pause einlegte, um Luft zu holen, nutzte er den Moment und sagte: »Haben Sie den Präsidenten vom Rotary kontaktiert? Ich kenne ihn persönlich. Er ist ein guter Mann.«
Elli schüttelte den Kopf. »Leider habe ich ihn nicht erreicht. Dafür den vom Lions Club, einen Herrn Brauer. Aus seinem Verein sind insgesamt 35 Leute gekommen. 40 waren ursprünglich angemeldet, also konnten noch fünf Personen aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis mitgebracht werden. Die Beschaffung dieser Namen wird etwas Zeit in Anspruch nehmen. Brauer hat versprochen, sich darum zu kümmern.«
»Gut gemacht, Jones. Danke.«
Die junge Kollegin reagierte verlegen auf das unerwartete Lob. Ein Hauch von Röte überzog ihr Gesicht.
Zeller sah ihrer beider Anwesenheit im Turm vorerst als nicht mehr notwendig an. Sie könnten nun verschwinden, beschied er Elli und strebte gemeinsam mit ihr dem Haupteingang zu.
Beim Verlassen des Gebäudes sahen sie sich einer größeren Menschenmenge gegenüber. Die Anzahl überraschte selbst Zeller. Waren Sie alle hierher nach Rottweil gekommen, um von der höchsten Besucherplattform Deutschlands in über 200 Metern einen wunderbaren Blick auf die Alb und das Umland zu riskieren? Dass sie aus Sensationslust wegen des Mordes an den beiden Frauen erschienen waren, bezweifelte er. So rasend schnell konnte sich das kaum in der Stadt herumgesprochen haben. Dafür hätte schon das Schwarze Tor einstürzen müssen. Wahrscheinlich hatte man seitens des Turmbetreibers noch nichts unternommen, potenzielle Besucher über die zeitweise Schließung zu informieren. Jetzt standen sie vor dem Gebäude und warteten. Sicherlich fragten sie sich, was der Rettungswagen bedeutete und warum die Einsatzwagen der Polizei vor dem Eingang standen. Die Leute brauchten eine Erklärung.
Zeller spürte die wachsende Unruhe. Er kehrte zurück in den Turm und ließ die Turmmanagerin rufen. »Sie müssen schleunigst den Leuten da draußen Bescheid geben«, forderte er sie auf. »Die stehen da und warten auf Einlass. Hier kommt an diesem Wochenende aber niemand mehr rein. Das wird Ihnen hoffentlich klar sein.« Frau Schatz würde auf der Stelle handeln müssen. Das war schließlich ihr Job. »Haben Sie etwas auf Ihrer Homepage vermerkt?«, setzte er nach. »Noch nicht? Dann machen Sie es bitte rasch. Wenn das so weitergeht, stehen da draußen in ein paar Stunden einige Hundert Menschen. Da kann es zu Problemen kommen. Geben Sie auch eine Mitteilung ans örtliche Radio, damit erreichen