Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund


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hauste Georg allein, seit Antonia vor acht Jahren an einem Hirnschlag gestorben war. Kinder hatte er keine, schon aus dem einfachen Grund nicht, weil er und Antonia für sich selbst nicht immer ausreichend zu essen gehabt hatten. Dazu kam, dass Georg Kinder schlichtweg hasste. In den vergangenen Jahren war das Haus ohne Antonia immer mehr verkommen, aber der Dreck und die Unordnung störten Georg nicht. Er war die meiste Zeit mit dem alten Schäferwagen seines Vaters unterwegs, in dem er tagelang hausen konnte. Das Schäfergütle war so die meiste Zeit verwaist.

      Während sie aßen, schenkte Georg seinem Gast reichlich Most ein und ließ dessen Glas nicht leer werden. Nach ein paar Gläsern schien ihm der ideale Zeitpunkt für einen Angriff, denn dann würde der junge Kerl sich nicht mehr so gut wehren können, dachte er sich. Anders als sein Opfer hielt Georg sich beim Most zurück, gerade so, dass es nicht auffiel. Während des Vespers unterhielten sie sich die ganze Zeit über das Handwerk des Schuhmachers und dessen Verlobte, die er bald heiraten wollte. Nach dem vierten Glas sah Georg den passenden Moment gekommen. Er wollte sein Opfer niederschlagen, es ausrauben und letztendlich töten. Als fahrender Schuhmacher führte der Bursche sicher einiges an Geld in seinen Taschen mit sich, vermutete er.

      »Ich danke Gott, dass ich meine Anna gefunden habe«, faselte der Kerl schon leicht betrunken. »Ich werde sie bald heiraten und dann ist sie endlich mein Weibsbild. Und um Geld für eine Familie brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Mindestens zehn Kinder soll sie mir schenken. Schließlich habe ich ja einen reichen Großonkel«, protzte er und lachte angeheitert.

      Bei diesen Worten wurde Georg hellhörig. Der Bursche war von dem vielen Most inzwischen so redselig geworden, dass er nicht mehr aufhören wollte. »Und ich weiß auch ganz genau, wo der Onkel das Geld versteckt hat, nämlich in einer Milchkanne auf dem Dachboden«, erzählte er.

      Ab diesem Moment konnte sich Georg nicht mehr zurückhalten.

      »Da hast du aber ein Glück«, sagte er. »Wo wohnt denn dein Onkel?«

      »In Owingen. Deswegen will ich dorthin«, antwortete der Schuhmacher. Dann nahm er einen großen Schluck Most und redete wieder über seine Anna. Aber Georg, der das Vermögen des Großonkels schon zum Greifen nah vor sich sah, ließ nicht locker. Wie ein Raubtier biss er sich an der Erzählung über das viele Geld fest und kam wieder darauf zu sprechen. »Wie ist denn dein Großonkel an so viel Geld gekommen?«

      »Der alte Mann hat ein Leben lang gespart. Das wäre nichts für mich«, antwortete der Bursche und schüttelte den Kopf. »Das muss schon ein eintöniges Leben sein. Aber wenigstens hat er dabei an mich und meine Anna gedacht.« Er lachte freudig.

      Wieder ging das Gespräch in eine andere Richtung, als Georg es wollte, weshalb er langsam ungeduldig wurde. Schließlich musste er wissen, wo genau der Großonkel wohnte. In Owingen gab es viele Häuser und Höfe und ohne den Namen konnte die Suche schwierig werden. Bereitwillig ließ Georg seinen Gast noch ein paar Sätze zu seinem dummen Weib erzählen, dann riss ihm der Geduldsfaden. »Wo zum Teufel wohnt er denn?«, schrie er laut.

      In diesem Moment wirkte der junge Schuhmacher wie aus einem Traum gerissen. Er sah Georg skeptisch an. »Warum willst du das wissen?«

      »Nun ja, als Wegewart komme ich viel rum«, gab sich Georg unbedarft. »Vielleicht kenne ich ja deinen Onkel.«

      Der Schuhmacher schwieg und Georg konnte ihm das Misstrauen im Gesicht ansehen. »Ich glaube nicht, dass du ihn kennst. Er lebt sehr zurückgezogen.«

      Georg hätte vor Wut auf den Tisch hauen können. Aber er versuchte, sich den Zorn nicht anmerken zu lassen. Er leerte sein Glas, stand auf und murmelte vor sich hin, dass es nicht so wichtig sei. Unter dem Vorwand, dass er noch einen Krug Most holen wolle, ging er hinaus. Draußen in der kleinen Tenne nahm er einen Dreschflegel zur Hand und kam damit in die Küche zurück. Er würde den Schuhmacher gefügig prügeln, und sobald dieser den Namen des Großonkels preisgegeben hatte, würde er ihn beiseiteschaffen.

      Zwar war das Überraschungsmoment auf Georgs Seite, allerdings war der junge Bursche durch sein Misstrauen wachsam geworden. Trotz des vielen Mosts, den er getrunken hatte, war er immer noch sehr flink. Beim Anblick des Dreschflegels sprang er sofort auf und konnte Georgs Schlag um Haaresbreite ausweichen. Beim zweiten Schlag gelang es ihm ebenso, doch langsam nahm seine Reaktionsfähigkeit ab. Mit dem dritten Schlag traf Georg den Schuhmacher mit dem Dreschflegel direkt am Kopf. Für einen Augenblick konnte er das Blut sehen, das dem Kerl aus einer klaffenden Wunde seitlich herunterlief. Doch vom Schlag getroffen, schien der Schuhmacher neue Kräfte in sich zu entdecken. Wie ein tollwütiger Hund stürzte er sich auf Georg und riss ihm den Dreschflegel aus der Hand. Georg verpasste ihm einen ordentlichen Hieb mit der Faust in die Seite, aber der Schuhmacher ließ sich dadurch kaum beeindrucken. Wieder wollte Georg ihm die Faust in die Seite schlagen, doch erstaunlicherweise konnte ihm der wendige Bursche erneut ausweichen. Schließlich packte ihn der Schuhmacher und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen den Küchenschrank. Er stürzte zu Boden, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

      Als Georg wieder zu sich kam, war es bereits mitten in der Nacht. Er lag auf dem Boden und ein stechender Schmerz am Hinterkopf ließ seinen Körper zusammenzucken. Im ersten Moment musste er sich sortieren, denn er besaß keine Erinnerung mehr daran, was geschehen war. Er lag auf dem Fußboden in der Küche, hinter ihm der Küchenschrank, dessen hölzerne Schubladenknöpfe er zum ersten Mal von unten betrachtete. Im schummrigen Licht weiter oben entdeckte er die Balken der Zimmerdecke, zwischen denen Spinnen in den vergangenen Jahren ihre Netze gewoben hatten. Leicht benommen zog Georg den Arm unter seinem Körper hervor, auf welchem er längere Zeit gelegen haben musste. Danach richtete er sich auf und tastete mit der rechten Hand vorsichtig den Hinterkopf ab. Er grübelte nach und sah sich währenddessen in der Küche um. Auf dem Küchenboden herrschte ein großes Durcheinander: kaputte Gläser, Messer, Vesperbretter und Essensreste. Neben den aufgestapelten Holzscheiten am Herd entdeckte er den Dreschflegel. Und bei dessen Anblick kam ihm wieder ins Gedächtnis, wie alles passiert war.

      Georg setzte sich für einen Moment auf die Bank am Küchentisch. Er musste sich sammeln, sein Kopf schmerzte immer noch. Die Ellenbogen stützte er auf den Tisch und legte sein Gesicht in die offenen Handflächen. Mit den Fingern rieb er sich langsam über die Stirn, als würden die Kopfschmerzen dadurch besser werden. Dann nahm er seine Hände vom Gesicht und schaute sich um. Die Sachen des Schuhmachers waren nicht mehr da. Der Bursche hatte doch den Tragekorb in der Küche abgelegt – dessen war Georg sich ganz sicher. Weit konnte der Kerl jedenfalls nicht gekommen sein, schon gar nicht mit der Verletzung am Kopf. Vermutlich lag er irgendwo in einem Straßengraben und Georg brauchte ihn nur einzusammeln. Dann würde er aus ihm herauspressen, was er wissen wollte. Entschlossen ging er nach draußen und fuhr wenige Minuten später mit seinem Schäferwagen vom Hof. Im Dunkel der Nacht war von ihm nur die schwach leuchtende Petroleumlaterne zu sehen, die am Dach seines Gefährts unruhig hin und her schwankte.

      Der Vrenenhof

      Der Hof, auf dem Elisabeth Freistetter und Adam Krämer lebten, lag mitten im Fronholz auf einer großen Lichtung. Der Waldweg von Ernatsreute nach Owingen führte direkt am Hof vorbei. Vom Weg aus gesehen, erstreckte sich die Lichtung auf der linken Seite als große Wiese bergab bis zum südlichen Rand des Waldes in Richtung Bambergen. Auf der rechten Seite des Weges stand der alte Vrenenhof, der seinen Namen von der heiligen Verena bekommen hatte. Das Haupthaus war aus braunem Fachwerk gebaut mit grünen Fensterläden, die mit Blumen und weißen Ornamenten bemalt waren. Über die Jahrzehnte war die Farbe der Fensterläden rissig geworden und an der Nordseite begann sie schon, in kleinen Teilen abzuplatzen. Elisabeth hatte das Haus von ihrer Tante Ottilie geerbt, die in den letzten Jahren nach dem Tod ihres Mannes ein Einsiedlerleben geführt hatte. Das Haus mochte etwa dreihundert Jahre alt sein. Früher hatte an dessen Stelle ein größeres Bauernhaus gestanden, doch der Dreißigjährige Krieg hatte wie in Bambergen und den umliegenden Dörfern auch vor dem Vrenenhof keinen Halt gemacht, wie Tante Ottilie erzählt hatte. Schwedische Soldaten hatten damals den Hof um sein ganzes Vieh und alle Nahrungsmittel geplündert. Den Bauer und seine Familie hatten sie kaltblütig erschlagen und das Haupthaus in Brand gesetzt, um die Leichen darin zu vernichten. Den Kornspeicher hatten sie allerdings unversehrt gelassen, denn während das Haupthaus in Flammen stand, beraubten sie den Speicher all der Vorräte,


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