Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund


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den Töchtern Magdalena, Elfriede und Theresia, seiner Mutter Ludovica und dem Knecht Vinzenz auf dem großen Hof. Je nach anfallender Arbeit war er auf weitere Helfer wie den Tagelöhner Georg Back angewiesen. Dieser kam seit Jahrzehnten auf den Hof und hatte bereits Andreas’ Vater bei der Arbeit unterstützt. Besonders während der Erntezeit war Georg für Andreas ein wichtiger Arbeiter. Aber da Georg sich heute auf dem Haldenhof nicht hatte blicken lassen und Andreas seinen Schwager Ernst nicht um Hilfe bitten wollte, musste der alte Stumpfer Gottfried ihnen helfen. Ansonsten passte ihm der dürre Georg als Arbeiter doch am besten. Dieser war zwar ein paar Jahre älter und manchmal seltsam, aber anpacken konnte er. Während Andreas sich an den vergangenen Abenden mit Vinzenz über die Arbeit und den Hof unterhalten hatte, hatte der dürre Georg ohne viele Worte mit ihnen am Tisch gesessen. Nach dem Vesper hatte er zufrieden an seiner Pfeife gezogen, Most getrunken und ihnen zugehört. Das war Andreas am liebsten, denn auf dummes Geschwätz konnte er gut verzichten. In letzter Zeit war er recht angespannt. Johanna stand kurz vor der Niederkunft und vielleicht sollte es nun endlich sein ersehnter Hoferbe werden. Aber die Angst, dass der Herrgott ihnen eine weitere Tochter bescheren würde, war groß. Jeden Sonntag betete Andreas deswegen in der Messe, dass seine Johanna ihm endlich einen Sohn zur Welt bringen würde. Er brauchte dringend einen Erben. Sein Cousin Werner Neidhart hatte ihn am Stammtisch im »Adler« deshalb schon oft aufgezogen.

      »Deinen Hof solltest du am besten in den ›Mädlehof‹ umtaufen!«, hatte Werner schadenfroh zu ihm gesagt und die anderen Bauern am Stammtisch hatten lauthals gelacht. Andreas ließ die Witze auf seine Kosten immer ohne große Regung über sich ergehen. Im Wirtshaus zeigte er sich stark und zuversichtlich, doch tief in seinem Inneren nagte die Angst zu versagen unaufhörlich an ihm wie ein hungriger Hund an einem Knochen. Auf seinem Heimweg vom »Adler« bis zum Haldenhof hing er immer nur diesem einen Gedanken nach. Das ging schon seit Wochen so. Wenn er abends nach Hause kam, sah Johanna ihm von Weitem an, dass ihn etwas bedrückte. Im Bett nahm sie oft seine Hand und sprach ihm zu, dass es sicher gut gehen würde. Andreas nickte dann schwermütig, streichelte ihr liebevoll über das Gesicht und drehte sich schließlich zum Schlafen auf die Seite.

      Ludovica

      In den vergangenen Wochen hatte Johanna ihrem Andreas oft Mut gemacht, doch auch sie selbst befürchtete insgeheim, dass sie wieder ein Mädchen zur Welt bringen würde. Mittlerweile war sie in der dreißigsten Woche schwanger. Ihr Ansehen als gute Hausmutter wäre in Zweifel gezogen, sollte auch diesmal ein Erbe ausbleiben. Hinzu kam, dass ihre Schwiegermutter, die Altbäuerin Ludovica, ihr Tag für Tag vorschreiben wollte, was sie zu tun und zu lassen hatte, damit der Hof endlich seinen männlichen Erben bekam.

      Diese Gedanken gingen Johanna durch den Kopf, als sie nach dem Mittagessen den Abwasch machte. Ludovica warf draußen die Küchenabfälle auf den Misthaufen und kam wieder in die Küche zurück. Die Altbäuerin war kurz vor dem sechzigsten Lebensjahr, doch für ihr Alter noch äußerst rüstig. Sie war von kleiner, aufrechter Statur und band ihre langen grauen Haare tagsüber immer zu einem Dutt zusammen. Ihre grüngrauen Augen schienen alles in ihrem Umfeld zu durchdringen. Ludovica redete immerzu und die Sätze schienen von frühmorgens bis spätabends nur so aus ihrem Mund zu sprudeln. Die Altbäuerin hatte an allem und jedem etwas auszusetzen. Mit einem vorwurfsvollen Blick sah sie Johanna an, die sich ein Glas mit frischer Milch eingeschenkt hatte. »Bei unserem Herrgott!«, wetterte sie. »Ich glaube, du willst einfach nicht auf mich hören! Jetzt habe ich dir schon ein paarmal gesagt, du sollst keine frische Milch trinken. Die muss zuerst abgekocht werden. Das tut dem Kind nicht gut!«

      »Aber, Ludovica, das macht doch nichts. Meine Mutter hat auch immer frische Milch vor der Niederkunft getrunken.«

      »Dann hat sie es besser vertragen als du!«, schnaubte Ludovica und warf sich die Stallschürze über das dunkle Trägerkleid. »Schließlich sollst du deinem Mann ein gesundes Kind zur Welt bringen! Schlimm genug, dass es bis jetzt nur Mädchen waren! Mein armer Bub braucht doch unbedingt einen Hoferben! Und dann trinkst du auch noch aus Trotz die frische Milch, dass das Kind womöglich schon von Geburt an schlecht dran ist!«

      Johanna hatte sich daran gewöhnt, dass ihre Schwiegermutter immer recht behalten wollte. Die junge Bäuerin ließ sich deswegen nicht aus der Ruhe bringen. »Ludovica, die frische Milch schadet dem Kind sicher nicht. Das hat auch die Liesl zu mir gesagt. Und dass der Andreas …«

      Mit einem Aufschrei krächzte Ludovica dazwischen. »Die Kräuterliesl?!« Vorwurfsvoll und ungläubig zugleich sah sie Johanna an. »Du wirst doch bei Gott nicht dem alten Heidenweib glauben?! Oder hast du jemals gesehen, dass sie eigene Kinder hat?«

      »Nein. Aber …«

      Johanna konnte nicht einmal recht antworten, denn Ludovica riss das Wort sofort wieder an sich. »Da hast du es! Glaub lieber deiner guten Schwiegermutter. Ich habe fünf gesunde Kinder auf die Welt gebracht, darunter drei Buben! Und der Hoferbe davon hat dich geheiratet und auf unseren Haldenhof geholt. Glaub mir und nicht dem komischen Kräuterweib im Wald!«

      Johanna atmete tief ein und wollte Ludovica von den vielen Heilungen der Liesl erzählen, doch sie hielt inne. Sie mochte ihre Schwiegermutter, auch wenn der Umgang mit ihr nicht immer einfach war. Manchmal waren ihre Ratschläge tatsächlich hilfreich. Nach mancher Diskussion waren sich die beiden Frauen einig geworden, doch wenn es um die Kräuterliesl ging, zischte die Altbäuerin wie eine angriffslustige Schlange. Ludovica hielt nichts von der Kräuterliesl, Johanna war da anderer Meinung. Sie kannte die Liesl schon, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihre Mutter hatte die Kräuterliesl oft um Rat aufgesucht und Johanna hatte sie bei diesen Besuchen begleiten dürfen. Als Kind war es für sie immer ein Abenteuer gewesen, bei dem sie zu Fuß durch den Wald bis zum Hof der Kräuterliesl gelaufen waren. Erst Jahre später hatte Johanna erfahren, dass die gute Frau, die ihrer Mutter und der Familie bei Krankheiten so oft geholfen hatte, mit richtigem Namen Elisabeth Freistetter hieß. Ihren Mann hatte sie damals fast nie zu Gesicht bekommen, aber er war für die kleine Johanna auch nicht von Bedeutung gewesen. Viel interessanter war, was die Kräuterliesl bei den Besuchen zu ihrer Mutter gesagt und ihr mitgegeben hatte. Einmal hatten sie die Kräuterliesl wegen den Warzen auf Johannas Handrücken aufgesucht. Ihre Mutter hatte zuerst eine rote Schnecke genommen und mit deren Schleim die Warzen bestrichen. Eine Maßnahme, zu der ihr die Kräuterliesl geraten hatte, als die Mutter selbst eine Warze gehabt hatte. Nach ein paar Tagen waren die Warzen aber immer noch nicht verschwunden gewesen, woraufhin Johannas Mutter ihre kleine Tochter zur Kräuterliesl mitgenommen hatte. Die Heilkundige sah sich die Warzen in ihrer Stube genau an und murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin. Dann stand sie auf und verschwand hinter einem Vorhang. Das Warten kam der kleinen Johanna wie eine Ewigkeit vor, doch schließlich kam die Kräuterliesl wieder zurück und hielt ein kleines Fläschchen in der Hand. Sie erklärte der Mutter, dass der Schleim von roten Schnecken bei Kindern nicht immer wirke. Daher habe sie nach einer anderen Möglichkeit nachgeschlagen und ein Mittel zusammengemischt, das sicher helfen würde. Die kleine Johanna starrte während des Gesprächs mit ängstlichem Blick auf das Fläschchen mit der grünbraunen Flüssigkeit, das die Kräuterliesl in der Hand hielt. Deswegen hatte sich die Liesl zur ihr nach unten gebeugt und auf das Fläschchen gedeutet.

      »Da ist Wasser drin, das ich vom Stock einer abgehauenen Eiche gesammelt habe«, hatte sie erklärt. »Dazu habe ich besondere Kräuter gemischt. Deshalb sieht es so komisch aus. Aber davor brauchst du keine Angst zu haben. Deine Mutter muss dir nur jeden Abend ein bisschen davon auf die Warzen streichen und dann verschwinden sie.«

      Die kleine Johanna hatte die Kräuterliesl damals ungläubig angesehen, doch ein paar Tage später waren die scheußlichen Warzen tatsächlich weg gewesen. Seither war Johanna von der Heilkunst der Kräuterliesl überzeugt und suchte sie stets um Hilfe auf, wenn es nötig war. Die Geschichte der Warzenheilung hatte Johanna bereits vor Jahren ihrer Schwiegermutter erzählt, doch Ludovica hatte nur süffisant gelacht, als ob Johanna ein kleines dummes Mädchen wäre. »Du Zwetschgenbäs, die Warzen sind einfach von selbst abgefallen«, hatte sie damals amüsiert gesagt. »Oder glaubst du etwa, das Wässerle von dem Heidenweib hat dir geholfen? Im Leben nicht! Und wahrscheinlich hat deine Mutter ihr dafür auch noch was gegeben. Das hätte sie sich sparen können.«

      Auch an diesem Nachmittag, Jahre später, erklangen Ludovicas Worte


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