Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund


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Freude haben, wenn sie ihre große Felsspalte gegen eine winzige Nussschale tauschen muss.«

      »So steht es eben im Buch«, entgegnete Elisabeth. »Und solange es ihm hilft, soll es mir recht sein.«

      Inzwischen war Adam fertig mit essen und stand vom Tisch auf.

      »Mir auch. Dann geh ich jetzt auf die Jagd und suche nach einem prächtigen Exemplar für unseren Stubenburschen.«

      »Willst du ein paar Trauben mitnehmen?«, fragte Elisabeth.

      Adam nickte. In der Tenne standen die Körbe mit den Weintrauben, die Elisabeth gestern geerntet hatte. Sie ging kurz hinüber und kam gleich darauf mit vier großen Traubendolden zurück. Adam zog währenddessen seine Waldjacke an und packte sein Bündel. Elisabeth nahm ein kleines Tuch aus der Küchentischschublade, legte die Dolden darauf und band das Tuch zu einem Proviantbündel zusammen. Dann sah sie Adam verwundert an.

      »Wo hast du dein Schmalzbrot?«

      Wortlos deutete Adam auf das hellbraune Leinenbündel auf seiner Schulter.

      »Hast du das Brot etwa ohne etwas drum herum eingepackt?«, fragte sie entsetzt.

      »Ha ja, das macht doch nichts. Ich esse es nachher ja sowieso.«

      »Adam! Ich will nicht wissen, wie viele tote Viecher du schon in diesem Beutel nach Hause getragen hast. Und jetzt packst du einfach dein Brot da rein? Gib mir deinen Proviant, dann lege ich ihn in ein Tuch.«

      Elisabeths Blick war weniger vorwurfsvoll, sondern eher fürsorglich. Adam hätte es nicht weiter gestört, doch damit Elisabeth zufrieden war, nahm er das Leinenbündel von seiner Schulter und ließ sie das Brot zusammen mit den Weintrauben einpacken. Das fertige Bündel drückte sie ihm in die Hand.

      »Schaust du auch bei den Fledermäusen nach?«, fragte sie.

      »Ja, die Holzkästen wollte ich mir heute anschauen. Und was machst du heute Morgen?«

      »Ich werde unserem Patienten zuerst etwas zu essen machen. Danach will ich der Hedwig, der Villinger Sofie und den Biehles ein paar Weintrauben vorbeibringen. Die Biehle-Mädchen essen die Trauben so gern und ich wollte schon seit ein paar Tagen bei Johanna vorbeischauen.«

      »Wann wird sie denn das Kind zur Welt bringen?«

      »Etwa zwei Monate müssten es noch sein«, schätzte Elisabeth.

      »Na, dann hoffen wir, dass es ein Bub wird. Sonst hängt sich der Andreas am Ende noch auf.«

      Elisabeth blickte ihn schockiert an.

      »Adam! Sag kein dummes Zeug! Der arme Andreas leidet so schon genug, weil er immer noch keinen Hoferben hat!«

      »Jaja«, grummelte er vor sich hin. »Es würde mich jedenfalls nicht wundern, bei so vielen Weibern auf dem Hof, wie der arme Kerl hat.«

      Adam packte sein Bündel und machte sich auf den Weg. Etwa eine halbe Stunde später war er zu Fuß im hinteren Aachtobel an der Stelle angelangt, wo sich der Fußweg an die Felswand schmiegte und weiter in Richtung Norden führte. Unten am Gewässer hörte er das feine Zwitschern von Bachstelzen, die in den Sträuchern um das kleine Bächlein umherhüpften. Am Wegesrand brummten Hummeln über den roten Blüten der Taubnesseln und dazwischen trällerte ein Buchfink hoch oben in einer Baumkrone. Der felsige Erdboden war hier wie im ganzen Linzgau aus sandigem Molassegestein. Über die Jahrtausende hinweg hatten sich in die Felswand vom Sickerwasser tiefe Spalten gegraben. In der feuchten Dunkelheit dieser Spalten hausten neben Asseln, Würmern und Kriechtieren auch Kreuzspinnen. Während einer seiner vielen Waldgänge hatte Adam sie hier vor nicht allzu langer Zeit entdeckt. Als Elisabeth ihn gestern Abend im Bett darum gebeten hatte, eine Kreuzspinne zu fangen, war ihm diese Stelle wieder ins Gedächtnis gekommen. Als er dort ankam, legte er sein Bündel auf dem Felsgestein ab und machte sich gleich an die Arbeit. Eigentlich war es nicht schwierig, eine Spinne zu fangen. Adam machte sich ihre eigene Jagdtaktik zunutze. Zuerst sah er sich nach Gräsern und Sträuchern in der näheren Umgebung um. Was er brauchte, war ein Insekt, ein Köder, mit dem er eine Kreuzspinne aus ihrem Versteck locken konnte. Nach ein paar Minuten der aufmerksamen Suche fing Adam einen gelben Schmetterling, der über der Schafgarbe am Wegesrand flatterte. Den Schmetterling zwischen seinen Handflächen, lief er zu einer der Felsspalten mit einem Spinnennetz am Eingang, um ihn dort fliegen zu lassen. Dazu steckte er seine Hände in die Tiefe des Spalts hinein, bevor er sie öffnete. Im Halbdunkel des Felsgesteins flog der freigelassene Schmetterling instinktiv in Richtung Sonnenlicht. Kurz bevor er die ersehnte Freiheit wiedererlangt hätte, verfing er sich in den hauchdünnen Fäden des Spinnennetzes, das am Eingang der Felsspalte aufgespannt war. Vom zappelnden Schmetterling im Netz angelockt, kam flink eine Kreuzspinne angekrochen, die sich wohl seit Tagen auf die Lauer gelegt hatte. Zielstrebig krabbelte die Spinne auf den Schmetterling zu, dabei ahnte sie nicht, dass eine weitaus größere Kreatur auf sie selbst wartete. Als die Spinne in der Mitte des Netzes angelangt war und sich über ihre Beute hermachen wollte, zog Adam ein Einmachglas aus seiner Tasche, das er von zu Hause mitgenommen hatte. Den Deckel in der einen Hand und das Glas in der anderen, nahm er die Spinne auf dem Netz dazwischen ins Visier und schloss das Glas mit einer schnellen Bewegung. Er hatte die Spinne lebend gefangen. Immerhin musste sie nicht hungern, denn der Schmetterling wurde ebenfalls im Glas eingeschlossen. Zufrieden packte er die Beute in seine Leinentasche und nahm das Schmalzbrot heraus. Nach der kleinen Stärkung machte er sich auf den Weg zu den Fledermauskästen. Bis zum Nachmittag suchte er in den umliegenden Wäldern alle Fallen für die Abendsegler ab. Der erste Kasten war leer. Der zweite Kasten – ein paar Gehminuten weiter entfernt – enthielt Fledermäuse, doch es waren keine Abendsegler, sondern Langohren, wie er unschwer an den großen Ohren der schlafenden Tiere erkennen konnte. Der dritte Kasten war ebenfalls leer. Im Glauben, dass er nur mit einer Beute im Sack nach Hause kommen würde, machte sich Adam auf den Weg zum vierten Kasten. Zu seinem Erstaunen enthielt dieser zwei Abendsegler, die sich zum Ruhen an die Innenwände des Holzkastens klammerten. Die schlafenden Tiere waren ein leichtes Opfer für ihren Jäger. Adam nahm das Glas mit der Spinne, seinen restlichen Proviant und alles andere aus dem Leinenbündel, damit er eine Fledermaus dort hineinpacken konnte. Um sich vor Bissen zu schützen, zog er einen Stoffhandschuh an. Vorsichtig öffnete er den Deckel des Holzkastens, packte eine der beiden Fledermäuse und steckte sie in das Bündel. Mit der Beute in der Hand suchte er auf dem Waldboden nach einem dicken Stock. Er drückte das Leinenbündel so fest zusammen, dass die Konturen der Fledermaus im Stoff erkennbar wurden. Mit dem Stock holte er aus und gab zwei feste Schläge auf das Tier im Stoffbündel, das sofort tot war. Danach verschloss er den Holzkasten wieder, in dem der andere Abendsegler verblieb. Es hätte genauso gut ihn treffen können, dachte Adam sich, doch die Fledermaus im Kasten hatte überlebt und würde nun weiter im nächtlichen Wald umhergeistern. Adam verstaute den toten Abendsegler und die Spinne im Leinenbündel, setzte sich auf einen Baumstumpf und aß genüsslich die süßen Weintrauben. Währenddessen lauschte er einige Zeit den Geräuschen des Waldes und machte sich später auf den Rückweg zum Vrenenhof.

      Der seltsame Vorhang

      Als Elisabeth morgens mit der weißen Teekanne in die Stube eintrat, lag Kilian mit offenen Augen auf dem Sofa und drehte den Kopf nach ihr um. Das Fieber schien ein bisschen zurückgegangen zu sein, denn er atmete nicht mehr so kurz und stoßartig wie in der vergangenen Nacht. Während Elisabeth zu ihm sprach, goss sie eine Tasse Tee ein und reichte sie ihm. Ihr Gesicht war schmal und ihre braunen Augen strahlten eine große Herzenswärme aus. Auf ihrem Kinn war ein kleines Grübchen, und wenn sie lächelte, zeichneten sich feine Falten um ihre Mundwinkel ab.

      »Geht es dir ein bisschen besser?«, fragte sie.

      Kilian nahm einen kleinen Schluck und nickte. »Ja, aber mein Kopf schmerzt immer noch. Mein Körper fühlt sich heiß an und ich schwitze fest.«

      »Du hattest gestern Abend hohes Fieber. Das ist der Grund dafür. Mittlerweile ist es wohl gesunken, aber es dauert noch, bis es ganz verschwunden sein wird. Deshalb musst du viel trinken.«

      Er atmete schwer und strich sich die Haare von seiner verschwitzten Stirn.

      »Das tue ich ja gern, aber alles scheint mein Körper nicht auszuschwitzen«,


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