Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund


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Fremde

      Während Elisabeth die Trauben erntete, sah sie zwischendurch nach dem jungen Burschen in der Stube. Er hatte tatsächlich den ganzen Vormittag durchgeschlafen. Nach dem Mittagessen goss sie einen frischen Apfelschalentee auf und sah noch einmal nach ihm. Als sie eintrat, öffnete der junge Mann seine Augen und schaute sich nach ihr um. Sie stellte die Teekanne auf den Tisch und lächelte den Burschen an. Er atmete immer noch sehr kurz und schubartig, das Fieber war wohl nicht gesunken. Mit seinen glasigen blauen Augen sah er sie an und wirkte dabei leicht verwirrt. »Haben Sie mir geholfen?«, fragte er mit geschwächter Stimme.

      »Ja. Du bist gestern Nacht schwer verletzt zu unserem Haus gekommen, deshalb haben wir dir geholfen.«

      »Wer ist wir?«

      »Adam und ich. Er ist mein Mann und ich bin die Elisabeth.«

      Panisch blickte der junge Mann um sich und sprach im Flüsterton weiter. Sein Gesicht war von Furcht verzerrt. »Ist Adam der Mann mit dem Schäferwagen? Ist er hier? Er versteckt sich hinter dem Vorhang, stimmt’s?«

      Elisabeth war im ersten Moment sprachlos und wusste nicht, wovon der junge Kerl redete. »Nein«, beruhigte sie ihn. »Adam ist mein Mann und er ist draußen im Wald unterwegs. Und er hat auch keinen Schäferwagen. Aber von wem sprichst du überhaupt?«

      Der junge Mann schien ihre Frage gar nicht mehr wahrgenommen zu haben. Der plötzliche Anflug von Angst war wieder aus seinem Gesicht verschwunden und er schloss seine müden Augen.

      Elisabeth schaute den Fremden erstaunt an und viele Fragen gingen ihr währenddessen durch den Kopf: Woher war er gekommen? Wo wollte er hin? Und wen meinte er mit dem Schäferwagen? Sie wollte sich schon von ihm abwenden, als er nochmals für einen kurzen Moment die Augen öffnete und ihr seine Hand entgegenstreckte. Er kämpfte sichtlich mit dem Fieber in seinem Körper, wodurch ihm das Sprechen sehr schwer fiel. »Danke, Elisabeth! Ich heiße Kilian.«

      Elisabeth drückte seine Hand und nickte. »Du musst etwas trinken«, sagte sie und hob ihm fürsorglich die Tasse an den Mund.

      Kilian nippte vom Tee und lächelte sie danach zufrieden an, dann schlief er wieder ein. Besorgt musterte Elisabeth den jungen Mann, von dem sie nun wenigstens den Namen wusste. Wenn das Fieber bis morgen nicht abklingen würde, musste sie für ihn ein Mittel zur Heilung finden. Einen Schwerkranken hatte sie lange nicht mehr bei sich gehabt. Aber für solche Fälle hatte sie das Kräuterbuch der Hildegard, auf das sie voll und ganz vertraute. Ihre Vorfahren hatten mit dessen Hilfe seit Jahrhunderten Kranke geheilt, doch viele von ihnen hatten deshalb selbst ihr Leben lassen müssen.

      Fiebertraum

      Als Kilian seine Augen wieder öffnete, war es draußen bereits dunkel geworden. Blauweißes Mondlicht fiel gespenstisch durch die Fenster in der Stube. Doch der Mond schien nicht die einzige Lichtquelle zu sein, denn in dessen Licht mischte sich ein intensives rötliches Leuchten. Kilian sah sich in der Stube um und bemerkte, dass der Vorhang zum Hinterzimmer zur Seite geschoben war und der rote Schein von dort herrührte. Sofort packte ihn die Neugier. Langsam richtete er sich vom Sofa auf und schaute in Richtung des geheimnisvollen Leuchtens. Von einer Petroleumlampe konnte es nicht sein, dachte er sich. Dafür war das Licht viel zu rötlich und zu hell. Ein Kaminfeuer war es auch nicht, da er kein brennendes Holz knacken hörte. Das Fieber schien nicht ganz weg zu sein und ihm war deswegen immer noch sehr unwohl. Doch Kilian wollte unbedingt wissen, woher dieses Licht kam. Als er aufstand, spürte er, wie schwach seine Beine waren. Ihm war schwindelig und er musste besonders achtgeben, dass er nicht umkippte. Nicht nur die Beine, sondern auch seine Augen und sein Denkvermögen schienen unter dem Fieber zu leiden. Entschlossen fixierte er das Ziel und nahm all seine Kräfte zusammen. Doch das Licht aus dem Nebenzimmer begann nun, sich in wilden Kreisen zu drehen und zu pulsieren. Kilian ließ sich von der körperlichen Schwäche nicht abhalten und trat näher an den Durchgang zum Hinterzimmer heran. Das rötliche Licht wurde stärker und strahlte ihm mächtig entgegen, sodass er eine Hand schützend vor die Augen halten musste. Als er mit dem linken Fuß über die Türschwelle trat, wurde das Licht mit einem Mal schwächer. Er senkte seine Hand und sah sich um. Im Zimmer war es deutlich wärmer als in der Stube. Die Fensterläden waren geschlossen und die Lichtquelle stand in der Mitte des Raumes auf einem kleinen Tisch. Es war ein Mörser aus Ton, von dem das rötliche Licht ausging. Kilian schien es, als würde im Mörser ein kräftiges Feuer lodern. Doch er konnte weder Rauch noch flackernde Flammen erkennen. Erst bei genauerem Hinsehen war es ihm, als ob eine glühend rote Flüssigkeit im Mörser die Wärme und das Licht erzeugen würde. Eine Flüssigkeit wie geschmolzenes Metall, dachte er. Da entdeckte er im Schein der Lichtquelle hinter dem Mörser das Gesicht einer alten Frau. Bei ihrem Anblick schreckte er zurück. Sie saß in sich zusammengesunken am Tisch, ihre Augen waren geschlossen. Ein paar weiße Haare hingen ihr bis zur Schulter vom Kopf herab wie Fransen eines Teppichs. Ansonsten war sie kahl. Ihre Gesichtshaut durchzogen tiefe Falten, die Knochen ihres Schädels drückten an allen Stellen durch die dünne graue Haut. Die Frau trug eine schwarze Bluse mit weißen Rüschen am Kragen. Bei ihrem Anblick spürte Kilian einen kalten Schauer, der ihm über den Rücken lief. Er konnte sein Herz pochen hören, während das rötliche Licht im Raum nun im Takt seines Herzschlags pulsierte. Durch das Dröhnen vernahm Kilian eine Stimme, es war die der alten Frau.

      »Du kannst nicht flüchten, es ist zu spät. Er wird dich finden, egal, wo du bist.«

      Kilian wollte ihr widersprechen und sie fragen, warum. Doch aus seinem Mund kam kein einziger Ton. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand den Mund mit vielen Nadelstichen zugenäht. Energisch schüttelte er den Kopf, doch die Stimme der Frau sprach weiter.

      »Er wird dich töten. Sobald er dich findet, wird er dich töten.«

      Kilian wollte schreien, aber er konnte nicht. Er hatte es geschafft, seinen Mund aufzureißen, dennoch war nichts zu hören. Ihn überkam das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, und er drohte, nach vorn zu kippen. Das rötliche Licht wurde zu einem starken Sog und zog ihn immer mehr an. Er sträubte sich und suchte etwas, an dem er sich festhalten konnte, doch er wurde immer stärker nach vorn gerissen. Die Lichtquelle zerrte unaufhörlich an ihm wie ein Strudel im Abfluss, der das letzte Wasser mit einem schmatzenden Geräusch hinunterschluckt. Alles um Kilian herum strahlte leuchtend rot und die Stimme sprach laut in ihm.

      »Dein Leben endet hier und jetzt. Du wirst deine Anna nie mehr wiedersehen!«

      Kilian nahm noch mal alle Kraft zusammen und versuchte zu schreien. Und dieses Mal bekam er endlich einen Ton heraus. »Neeeeiiinnnnnnn!« Er schrie so laut, dass er von seinem eigenen Schrei erwachte. Schlagartig verstummte er und sah sich ängstlich um. Das Mondlicht schien immer noch in die Stube, doch das rötlich-warme Leuchten war verschwunden und der Vorhang zum Hinterzimmer geschlossen. Die Stubentür sprang auf und Elisabeth kam eilig herein. In der Hand hielt sie einen kleinen Kerzenleuchter. Im Schein des Kerzenlichts konnte er ihr besorgtes Gesicht erkennen. Hinter ihr folgte ein Mann. Das musste Adam sein.

      »Was ist los?«, fragte sie.

      Kilian war benommen. Er atmete hastig, kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Verwirrt sah er die beiden an, sagte aber nichts.

      Adam und Elisabeth tauschten beunruhigte Blicke.

      »Das Fieber?«

      Elisabeth nickte. »Ja. Es ist wohl stark angestiegen seit heute Mittag.«

      Aus Kilians Sicht hatte Elisabeth in diesem Moment seltsame Körperproportionen. Sie wirkte irgendwie größer und aufgeblähter als heute Morgen und Adams Stimme hinter ihr verschwamm zu einem unverständlichen Grollen. Kilian spürte, wie alle Geräusche um ihn herum in seinen Ohren schmerzten. Er schloss wieder die Augen und bewegte seinen Kopf auf dem Sofakissen ständig hin und her, als wolle er die Eindrücke des Traums abschütteln. Elisabeth fasste ihm besorgt an die Stirn. Dann blickte sie Adam an.

      »Er muss ziemlich hohes Fieber haben. Ich werde ihm dagegen ein Mittel mischen, aber dazu brauche ich Zeit. Kannst du ihm derweil Wadenwickel machen?«

      Adam zog verdutzt seine weißen Augenbrauen nach oben. »Ich bin doch keine Spitalschwester!«

      »Das


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