Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund

Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund


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kleines Türchen im hintersten Getreidekasten auf der linken Seite. Wenn der Kasten mit Getreide gefüllt war, konnte man das kleine Türchen nicht mehr erkennen. Derart gut verborgen, war der Geheimraum im Speicher früher ein ideales Versteck für die Barschaft und für wichtige Schriftstücke der Hofbesitzer gewesen. Ob die schwedischen Soldaten bei der Brandschatzung während des Dreißigjährigen Krieges den geheimen Raum entdeckt hatten, konnte Tante Ottilie aus den Erzählungen der Vorbesitzer nicht mehr sagen. Möglicherweise hatten die Schweden das Geheimfach entdeckt und alles darin Befindliche geraubt, andererseits war es genauso möglich, dass sie es in der Dunkelheit des Speichers übersehen hatten und die Verwalter der Ordensgemeinschaft nach der Ermordung des Pächters die Wertsachen an sich nahmen. Jedenfalls war der Geheimraum leer gewesen, als Ottilies Schwiegervater den Vrenenhof übernommen hatte. In den ersten Jahren, nachdem Elisabeth und Adam den Hof von Tante Ottilie weitergeführt hatten, war Elisabeth der Geheimraum wieder in Erinnerung gekommen. Sie hatte Adam davon erzählt und eine Zeit lang übte der geheime Raum eine Faszination auf sie beide aus. Sie überlegten ebenfalls, dort ihr wertvolles Hab und Gut zu verstecken. Doch aus Angst, der Speicher könnte eines Tages vom Blitz getroffen werden und in Flammen aufgehen, verwarfen sie den Gedanken. Das Haupthaus schien ihnen für ihre Wertsachen sicherer. In einem der Getreidekästen entdeckte Elisabeth schließlich die gesuchten Körbe.

      »Natürlich im hintersten Eck. Dort, wo niemand sie sucht. Oh, du, mein Eselpeter!«, redete sie vor sich hin und schüttelte den Kopf.

      Es waren bereits zwei Stunden vergangen, als Elisabeth drei Körbe mit Trauben gefüllt hatte. Ein Großteil der südlichen Hauswand war abgeerntet. Während sie die Holzleiter nach rechts rückte und wieder nach oben stieg, lief Adam unten auf den Hof. Er war am frühen Morgen in den Wald gegangen, um für sie eine Fledermaus zu fangen. Sofie Villinger aus dem Dorf war vor ein paar Tagen bei Elisabeth vorstellig geworden und hatte über starke Kopfschmerzen geklagt, die sie schon längere Zeit plagten, meistens gegen Abend. Elisabeth hatte der recht korpulenten Sofie gesagt, sie solle sich in der Stube auf das Sofa legen. Dann hatte sie ihre rechte Hand auf Sofies Kopf gelegt und die linke auf ihren Bauch. In dieser Haltung hielt Elisabeth inne und horchte durch das Auflegen in den Körper der Frau. Anschließend verschwand sie hinter dem Vorhang im Nebenzimmer. Nach kurzer Zeit kehrte sie wieder zurück und schickte Sofie Villinger nach Hause. Am späteren Abend desselben Tages hatte Elisabeth Adam erzählt, dass sie ein passendes Rezept für ein Mittel gegen die starken Kopfschmerzen gefunden hatte. Da Sofie im mittleren Lebensalter war und von gesunder Physis, hatte Elisabeth eine besonders starke Mixtur gewählt, welche die Bäuerin sicher vertragen würde. Sie hatte fast alle notwendigen Zutaten dafür beieinandergehabt, doch eine ganz spezielle Ingredienz hatte ihr noch gefehlt: die Asche einer Fledermaus, genauer gesagt die Asche eines Abendseglers. Da Elisabeth nicht wusste, wie sie eine Fledermaus hätte fangen sollen, musste Adam das für sie erledigen. Deshalb hatte er in den vergangenen Tagen kleine Holzkästen als Unterschlupf für die Fledermäuse in den Wäldern aufgehängt. Wenn ein paar Abendsegler tagsüber darin ruhten, konnte er ohne großen Aufwand eines der Tiere herausholen.

      Oben auf der Leiter wandte sich Elisabeth zu Adam um. »Und? Waren welche im Kasten drin?«, fragte sie ihn erwartungsvoll.

      »Eben nicht! Die Viecher wissen wohl, was ihnen blüht, wenn sie hineingehen«, antwortete Adam launisch.

      Über seiner rechten Schulter trug er einen leeren Leinensack, in dem er seinen Fang nach Hause transportiert hätte, wenn er erfolgreich gewesen wäre.

      Für sein Alter war Adam Krämer noch recht rüstig und von kräftiger Statur. Im vergangenen Jahr war er sechzig Jahre alt geworden. Seine Haare wurden in letzter Zeit immer grauer und die Länge seines Bartes nahm beträchtlich zu. Er trug meist seine alte Zimmermannsweste und darüber seine braune Waldjacke. Auf seine Mitmenschen wirkte er in seiner Art zurückgezogen und nicht besonders gesprächig. Die Dorfbewohner nannten ihn deshalb den »komischen Adam«, doch das störte ihn nicht weiter. Adam konnte stundenlang im Wald unterwegs sein. Er genoss die Ruhe in der Natur und fühlte sich in diesen Momenten dem Schöpfer besonders nahe, und Elisabeth war das gewohnt. Sie schätzte an ihm seine Ausgeglichenheit. Adam war in Ostrach als Sohn eines Zimmermanns geboren worden. Nach der Lehrzeit bei seinem Vater war er jahrelang auf der Walz gewesen. Als junger Zimmermann hatte er die Freiheit genossen und dort gelebt, wohin die Arbeit ihn geführt hatte. An Orten, an denen es ihm besonders gefiel, blieb er länger. In den über zehn Jahren auf der Walz lernte er Orte wie Ulm, Regensburg, Eisenach und sogar Weimar kennen. Nach den Jahren der Ungebundenheit zog es Adam wieder in seine alte Heimat um Ostrach zurück. Als er auf dem großen Wangenhof in der Nähe von Pfullendorf beim Bau der neuen Scheune tätig war, lernte er Elisabeth kennen. Sie lebte damals auf dem Hof ihrer jüngeren Schwester bei Otterswang und kam auf den Wangenhof, um der Bäuerin zu helfen, die sich seit längerer Zeit mit einer schweren Hautkrankheit herumplagte. Elisabeth war damals bei den Leuten bekannt für ihr Wissen in der Kräuterheilkunde. Adam hatte sich während der Walz nicht viel aus Frauen gemacht und oft nur flüchtige Liebschaften geführt. Doch Elisabeth mit ihrer ruhigen und liebevollen Art hatte ihn vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen. Etwa zwei Jahre nach ihrem Kennenlernen war Elisabeths Tante Ottilie verstorben. Die kinderlose Witwe hatte ihrer Nichte den Vrenenhof vererbt und so kam es, dass Elisabeth und Adam zusammen dort hinzogen. Geheiratet hatten sie einander nicht, denn der kirchliche Segen war den beiden für ihr Zusammenleben nicht wichtig. Bei den Dorfbewohnern war diese Tatsache allerdings immer wieder ein Stein des Anstoßes. Doch Elisabeth und Adam kümmerten sich nicht weiter um das Geschwätz der Leute. Sie lebten zufrieden und abgeschieden auf ihrem Vrenenhof und das war ihnen am wichtigsten.

      »Wie geht es ihm?«, fragte Adam und deutete mit dem Kopf Richtung Stubenfenster.

      »Er schläft immer noch«, antwortete sie. »Meine Kräutermischung hat ihm wohl gutgetan.«

      Adam nickte zufrieden und griff in den gefüllten Korb vor seinen Füßen. Er nahm sich ein Büschel der geernteten Traubenzweige heraus und aß genüsslich von den Beeren.

      Elisabeth stieg währenddessen von der Leiter herab und steckte das Messer in die Tasche ihrer Schürze.

      »Aber mittlerweile hat er sehr hohes Fieber. Wenn es in den nächsten Stunden nicht runtergeht, werde ich ihm wohl kalte Wadenwickel machen müssen.«

      »Hat er irgendetwas gesagt?«

      »Nein. Wenn, dann murmelt er nur vor sich hin. Kein Wunder, bei seinem Zustand. Die Wunde an seinem Kopf ist groß. Ich frage mich, was er gemacht hat.«

      »Vielleicht ist er unterwegs gestürzt?«, mutmaßte Adam.

      »Glaube ich nicht. Jemand muss ihn mit etwas Hartem geschlagen haben, so wie er aussieht.«

      Adam hatte die letzte Beere von seinem Traubenzweig abgezupft. »Aber warum kommt er dann zu uns? Warum läuft er mit dieser Verletzung so weit durch den Wald und nicht ins Dorf?«

      »Ich weiß es auch nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht hat er jemanden gesucht? Oder er hat sich verlaufen? Was denkst du, wo er herkommt?«

      »Na ja, es muss auf jeden Fall ein Fremder sein. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Vielleicht ein Handwerksbursche, so wie er angezogen ist?«

      »Aber er hat ja gar keine Sachen bei sich. Kein Bündel, nichts«, überlegte Elisabeth laut.

      »Vielleicht hat er irgendwo im Wald sein Lager aufgeschlagen und die Sachen liegen immer noch dort?«

      »Oder man hat ihn vertrieben?«, meinte sie. »Es ist jedenfalls sehr seltsam, findest du nicht?« Sie blickte ihm fragend in die Augen. In die Augen, in die sie sich vor Jahrzehnten so schnell verliebt hatte. Adams Gesicht war mittlerweile um Jahre gealtert, dennoch liebte sie ihn immer noch wie am ersten Tag. Bei seinem Anblick durchfuhr ein warmes Gefühl ihren Bauch. Zufrieden lächelte sie ihn an, obwohl das Gesprächsthema keinen Anlass dazu gab.

      »Ja, seltsam ist es auf jeden Fall«, antwortete er. »Aber unser Gast wird uns sicherlich erzählen, wem er die Verletzung zu verdanken hat. Darauf bin ich jetzt schon gespannt, das kannst du mir glauben!«

      Der Haldenhof

      »Der alte Hund, der elende! Vorgestern


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