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Vorarbeiten der Fresken zu verdienen und das Brot für ihre Familien bezahlen zu können. Viel zu viele Künstler in Florenz litten Hunger, weil Gönner wie ihr Vater ihnen nahmen, was sie ihnen zuvor so freizügig geschenkt, ja geradezu aufgedrängt hatten. Anerkennung, Geld und Vertrauen in ihre unermüdliche Arbeit. Darin waren die Florentiner gnadenlos. Sie huldigten denjenigen, deren Ruhm die Stadtmauern überwand, und verspotteten die, deren Talent nicht ausreichte, um die ersehnte Akzeptanz zu erlangen. Die, die es nicht fertigbrachten, eine Statue zu vollenden, die ihnen mit viel Glück oder den richtigen Kontakten mehr einbrachte, als sie je besessen hatten.
»Eine Muse? Soll ihm ein Weib gar den Meißel führen? Ist er nicht Manns genug, das selbst zu tun?«, fragte ihr Vater just in diesem Moment in die Runde, als wüsste er um Julianas Gedanken. In blindem Zorn über Dario trieb er den Spott auf die Spitze. Er sprach mit Leidenschaft über den Entstehungsweg mancher Werke Darios und anderer Künstler, als wären sie durch seine eigene Hand entstanden. In dem verzerrten Antlitz erkannte sie in ihrem Vater nicht jenen herzensguten Mann, der zahlreiche arme Teufel förderte, indem er für ihre Werke hier oben Platz schaffte, sie bekannt machte. Sein Wahn konnte nicht durch Darios Worte allein entfacht worden sein!
»Geht ihm lieber zur Hand, Serrati!«, forderten die angetrunkenen Männer ihn auf, und tatsächlich wies ihr Vater Antonio an, ihm einen Meißel zu bringen. Nach kurzer Überlegung wies er auf eine unvollendete Büste, deren Kopf halb entstellt war, als wäre sie gegen etwas Hartes geschlagen worden. Aus dem halbrunden Sockel leuchtete ein rötlicher Backstein hervor, einer derjenigen, die beim Bau der cupola verwendet wurden. Juliana erstarrte vor Schreck. Nach Bernardos Missgeschick war ihr nur wenig Zeit geblieben, um die Statue zu reparieren, und deshalb hatte sie den entstandenen Hohlraum eilig mit dem Backstein verschlossen. Nun erkannte sie die unversehrten, vertrauten Züge der Büste und sah zu ihrer Mutter, die betroffen auf das Antlitz aus weißem Marmor starrte, das ihrem eigenen glich. Eine Statue zu Ehren ihrer Mutter, doch die steinernen Gesichtszüge zeigten sie sonderbar fremd. Von einer Traurigkeit beseelt, die auch Vaters Gäste zwang, ihren Blick abzuwenden. Juliana sah zu ihrer Mutter, die in diesem Moment ebenso verloren und traurig wirkte wie die Büste. War ihre Mutter unglücklich?
»Ferdinando!« Ohne auf die neugierigen Blicke und Proteste der Gäste zu achten, eilte Dina auf ihn zu. »Du weißt, dass Dario lange daran gearbeitet hat. Tu es nicht, ich flehe dich an!«
Ferdinandos Miene verdüsterte sich. »Daran hätte er früher denken müssen.«
Kreidebleich im Gesicht entriss ihre Mutter Antonio einen Weinbecher und leerte den Inhalt in einem Zug. Juliana schämte sich mehr und mehr. Was ging hier vor sich? Sollte sie lieber den Salon verlassen und riskieren, entdeckt zu werden? Da! Er tat es wahrhaftig! Teile der Statue splitterten bei jedem weiteren unbeholfenen Schlag ihres Vaters ab und stürzten auf den Boden. Einer der Splitter traf ihn sogar und hinterließ eine dunkelrote Schramme auf seiner Wange, dennoch hörte er nicht auf. Stumpf schlug der Meißel gegen den unschuldigen Stein. Mit jedem Hieb verlor der notario mehr an Verstand und Würde. In den Mienen der anderen Gäste las Juliana Unverständnis und Verwirrung. Niemand wagte, ihren Vater aufzuhalten. Wo zuvor das Gesicht einer anmutigen Frau zu erkennen gewesen war, erinnerte nun nichts mehr an die Schönheit des Modells.
»Schande über dich, mein Freund!«, tadelte Giovanni seinen Freund und versuchte, weiteren Schaden zu vermeiden. Sanft, aber bestimmt legte er seine Hand auf die Schulter des notario, bis dieser erschöpft innehielt. »Bleib bei dem, was du beherrschst. Antonio, nimm deinem Herrn den Meißel aus der Hand und schenk ihm lieber nach.«
Dina nickte Giovanni erleichtert zu. Sie wollte gerade auf ihren Mann zugehen, da schleuderte Ferdinando plötzlich wütend den Meißel weg.
»Hat der einfältige Mensch begriffen, dass es mehr bedarf als eines vagen Einfalls mitten in einer Sauforgie? Schlägt zu wie ein Kind. Erbärmlich!«, zischte einer der Patrizier verächtlich.
Ein erstickter Schrei ihrer Mutter schallte durch den Salon. Beinahe hätte der Meißel sie getroffen. Während Antonio und Giovanni sich vergewisserten, dass Dina nicht zu Schaden gekommen war, setzte ihr Vater unbeirrt seinen Rundgang fort. Zu jedem Gemälde, jeder Statue verkündete er ohne Scham, dass dieser oder jener begnadete Maler oder Bildhauer ihm auf ewig dankbar wäre. Ohne sein frommes Zutun hätte den Künstler längst der Hungertod ereilt. Als hätte Vaters Zerstörungswut nicht genug angerichtet, winkte er Antonio zu sich, der begonnen hatte, die Reste der Büste aufzusammeln. »Bring Dario die Büste zurück und fordere mein Geld zurück.«
Juliana hielt entsetzt inne. Wie konnte Vater den Künstler derart vor den Kopf stoßen? Und das Geld war Dario gewiss längst zwischen den Fingern zerronnen.
»Es ist genug, mein Lieber«, hielt Dina ihm entgegen. Sie kämpfte damit, ihre Fassung zu wahren.
Ferdinando musterte sie zornig. Sein Blick fiel auf das zerstörte Antlitz der Statue. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund. Dann erhob er sein Glas und leerte es.
Dina schob sich dichter an ihren Mann und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Zuerst sah er verblüfft aus, dann lächelte er grimmig. »Eine schöne Frau versteht es, einen Löwen zu bändigen, darum bitte ich euch, mich kurz zu entschuldigen. Antonio, gib meinen Gästen, wonach ihnen beliebt.« Seine Rechte um Dinas Hüfte geschlungen verließ er den Salon.
»Serrati ist nicht nur der Wein zu Kopf gestiegen«, empörte sich einer der Männer, kaum dass die Türen hinter Julianas Eltern geschlossen worden waren. »Er mag ein Auge für die Kunst haben, doch für das Leid seiner Frauen ist er blind. Dina ist ein Schattenbild ihrer selbst.«
Ein anderer sagte: »Was maßt er sich an, sich über alles zu stellen, was seinen Verstand übersteigt? Brunelleschi ist kein Narr. Das Modell hat das bewiesen.«
Antonio, endlich aus seiner Starre erwacht, verteidigte seinen Mentor. »Es steht niemandem zu, über ihn zu richten. Ihr versteht nicht …« Seine Stimme erstarb.
»Dass er den Verstand verliert, Antonio?«, fragte Giovanni gedämpft. Er wirkte besorgt, während sein Blick über die glänzenden Statuen wanderte. »Wie lange kann ihn die Signoria noch beschützen?«
Juliana barg ihren Kopf auf den angezogenen Knien. Worüber sprachen Antonio und Giovanni?
»Wer möchte von diesem vorzüglichen Wein?«, fragte Giovanni laut in die angespannte Ruhe. Das Lied einer Harfe erklang und nach den ersten Tönen wandelte sich das Missfallen über den Wahn des notario in Heiterkeit. Juliana wollte sich unbemerkt zurückziehen, da fiel ein Schatten über sie.
Kapitel 6
Auf dem Balkon des obersten Stocks der Casa Serrati kauerte Juliana mit geschlossenen Augen auf einer Bank. Obwohl ihre Tränen inzwischen versiegt waren, brodelte es in ihr. Ein einziger mitfühlender Blick Antonios würde genügen, um ihre Fassung bedrohlich ins Schwanken zu bringen. Sie war ihm dankbar für sein Schweigen, während unter ihnen der Lärm der Gäste weiter anschwoll. Offenbar hatte sich auch ihr Vater wieder dazugesellt, deutlich hörte sie ihn. Ob Mutter ihn begleitete? Julianas Blick glitt unsicher zu Antonio, dessen Wams staubig und zerknittert war. Unbemerkt von den Gästen war es ihm gelungen, sie aus dem Salon zu schaffen. Sie hatte am ganzen Leib gezittert. Vater musste den Verstand verloren haben, Darios Büste zu zerstören. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen ob der Erinnerung, ihre Kehle schnürte sich zu. Schreckliche Bilder gewannen an Schärfe. Gewaltsam bannte sie ihren Blick auf den von mannshohen Zinnen umkränzten Turm des Palazzo della Signoria, zu dessen Füßen sich zur Mittagszeit die Piazza in einem goldenen Meer aus Sonne erstreckte. Sie sehnte sich danach, dort auf den Stufen zu sitzen, sich ihren Tagträumen hinzugeben. Einfach zu vergessen, wovon sie gerade Zeugin geworden war.
Heute hatte sie unerwartet ein weiteres Bild ihres Vaters gewonnen, der sich in seinem eigenen Haus schamlos und verächtlich gezeigt hatte. Zwar war ihr Vater im Ratssaal nicht sanfter in seinem Gehabe, doch ein aufrechter Vertreter des Gesetzes und ein leidenschaftlicher Verteidiger dessen, was er in seinen langen Reden gerne heraufbeschwor: das Vertrauen auf den Fortschritt, auf Veränderungen zum Wohl aller, die in Florenz lebten. Besonders seiner Künstler, deren Schaffenslust viele Neugierige in die Stadt lockte. Diese Leidenschaft, begabte