Schöner sterben in Wien. Dagmar Hager
wie nach Dienstschluss nicht anders zu erwarten, im Schanigarten seines Lieblingslokals, einer Weinstube in der Josefstadt, vor einem Glas Gelbem Muskateller und einem Schwarzwurzelsalat. Es war für die Innenstadtlage unvermutet grün hier und wie immer überfüllt, doch Ferdl kannte die Besitzer und bekam jedes Mal einen Platz.
»Na, Mädel, wo drückt denn der Schuh?«, kam er unverblümt zur Sache, nachdem ich bei der netten Bedienung ebenfalls Weißwein bestellt hatte.
Auf dem Weg hierher hatte ich mir zwar eine Strategie überlegt, aber diese schnell wieder verworfen. Ferdl kannte mich genau und durchschaute mich meist schon nach drei Sekunden. Daher entschloss ich mich dazu, halbwegs ehrlich zu bleiben.
»Ich möchte mehr über eine bestimmte Person aus Tschechien herausfinden und weiß nicht, wie.«
»Privat?«
Wenn es nicht sein musste, war Ferdl auch kein Freund vieler Worte.
»Hmmm!«
»Na, dann lass hören!«
»Es geht um ein Mädchen. Sie selber ist schon verstorben, und mich würde interessieren, ob sie noch Verwandte hat. Wie soll ich das denn am besten angehen? Über die Suchmaschinen oder die Sozialen Medien habe ich nichts gefunden und bei seznam.cz komme ich mit meinem Tschechisch sowieso nicht weiter.«
Ferdls hellgraue Radaraugen musterten mich durchdringend. »Dein Tschechisch existiert ned, dívka!«
Weil er den Begriff öfters verwendete, kannte ich seine Bedeutung: Mädchen.
»Um wen dreht sich’s denn genau?«
»Ähm …«
»Lilly! Raus mit der G’schicht!«
Eine kleine Atempause hatte ich noch, denn soeben stellte die Bedienung mein Vierterl Grünen Veltliner auf den Tisch. Bedächtig nahm ich einen Schluck, unverwandt beobachtet von meinem Gegenüber.
Also gut.
»Na ja, es geht um die Prostituierte, die damals in Georgs Hotelzimmer war und danach die Treppen hinuntergestürzt und gestorben ist. Jana hieß sie. Jana Jelinek.«
Genauere Details hatte außer mir nur einer gekannt: Georg. Nach seinem Tod hatte ich nie wieder darüber gesprochen. Was ich Ferdl hier also präsentierte, war die allgemeingültige Version der Ereignisse.
Der seufzte. Und bewies einmal mehr: Wenn er wollte, gab es ihn auch in fast perfektem Hochdeutsch. »Das war alles doch schlimm genug für dich, Mentscherl! Warum zerkaust denn jetzt so ein altes Zuckerl?«
Ich legte die Karten auf den Tisch. »Stell dir vor, ihr Führerschein war in meiner Tasche! Ist doch völlig schräg, oder? Wo ich die nur einmal getroffen habe, ganz kurz, und das ist Jahre her!«
Ferdl schwieg. Wusste, dass ich gleich weitermachen würde.
»Das wirklich Merkwürdige ist aber, dass ich die Tasche erst viel später gekauft habe und damals in Prag noch gar nicht hatte!«
Ich biss mir auf die Unterlippe und ließ meinen Blick über den voll besetzten Gastgarten schweifen, der an einer hässlichen Brandmauer endete. Was allerdings dem Charme des Heurigen keinen Abbruch tat, im Gegenteil. In einem Reiseführer würde dazu wohl stehen: »typisches Wiener Flair«.
Ferdl sagte immer noch nichts, hatte aber inzwischen sein Glas geleert. Unauffällig winkte ich der Bedienung, die sofort verstand und uns zwei bis an den Rand gefüllte neue brachte. Dankbar lächelte ich ihr zu. Für dieses Gespräch brauchte ich den Wein ganz dringend. Oder einen Schnaps. Oder beides.
»Was ich weiß, ist, wann ich sie zuletzt dabeihatte«, fuhr ich fort. »Es war bei dem Event neulich im Rathaus. Irgendjemand muss mir den Führerschein also an diesem Abend untergeschoben haben. Aber das ergibt doch keinen Sinn!«
Es dauerte, bis Ferdl sich zu einer Antwort hinreißen ließ. »Für deinen Irgendjemand schon. Der hat ohne Zweifel einen sehr guten Grund. Und jetzt hast du Zores!«
Oh, ja, Schwierigkeiten hatte ich in der Tat. »Was soll ich denn jetzt tun? Hast du eine Idee?«
Statt mir zu antworten, winkte Ferdl der Kellnerin. »Mirli, bring mir bitte an Bröselfetzen mit Hongkongschotter! Ich hab noch Hunger!«
Trotz der angespannten Lage musste ich lächeln. So stilecht konnte nur er ein Wiener Schnitzel mit Reis bestellen.
Ferdl lächelte. »Ich nicht. Aber du, sonst wärst doch nicht hier!«
Ich gab auf. »Stimmt. Sag mir doch bitte zuerst, was du denkst!«
Mein Lieblingskameramann mochte auf Außenstehende manchmal ein wenig grobschlächtig wirken, aber er war ein hochsensibler Kerl mit feinen Antennen. Und er enttäuschte mich nicht. »Von mir aus«, sagte er. »Also für mich klingt das nicht nach einem Profi.«
Da hatte er den Finger auf einen wichtigen Punkt gelegt. »Du meinst, dass es jemand ist, der Jana kannte und ihr vielleicht nahestand?«
Er nickte. »Schon! Und der nicht recht weiß, was er machen soll, aber auch nicht kuschen will. Jetzt lässt er es drauf ankommen.«
»Worauf ankommen?«
»Na, wie du reagierst. Der glaubt vielleicht, du weißt viel mehr, als du zugibst, und schickt dir eine Botschaft!«
»Meinst du jemanden aus ihrer Familie? Freunde? Ein Lebensgefährte?«
Ferdl verzog die Mundwinkel. »Was weiß ich?« Dann beugte er sich nah zu mir. »Ich lehn’ mich jetzt weit aus dem Fenster, aber, ehrlich g’sagt, ich als Mann würde so eine Aktion nicht schieben!«
Ich hielt kurz den Atem an. Musterte sein liebenswertes breites Gesicht mit der Knollennase. Soeben hatte er meine Vermutung bestätigt. Gab es tatsächlich eine Jana nahestehende Frau, die Bescheid wusste und es mich auf diese Art und Weise wissen ließ?
»Kannst du mir dabei helfen herauszufinden, ob sie noch lebende Verwandte hat? Vielleicht eine Schwester, Mutter oder Tante? Eine Tochter wäre für eine solche Aktion ja wohl noch zu jung.«
Er nickte.
Lächelte.
Hob fröhlich die buschigen Augenbrauen.
Seine Verwandtschaft war zahlreich und notorisch neugierig.
Zufrieden schluckte er den ersten Bissen seines Schnitzels.
Wir waren auf der Jagd.
4
LILLY
Salzburg, eine Woche später
»Die Salzburger Festspiele, der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres, wurden heute Vormittag mit einem großen Festakt in der Felsenreitschule eröffnet. Beherrschendes Thema neben der Kunst: der Klimaschutz!«
Kunst und Klimaschutz. Die moderne Version von k. und k., dachte ich, während ich dem ZIB-Live-Einstieg meines Kollegen lauschte, der in meiner Nähe stand und wie alle anderen gespannt der großen Premiere entgegenfieberte, die in 15 Minuten beginnen würde. Mein Blick glitt über die versammelte Menge aufgedonnerter Menschen, während meine Gedanken zu ebendiesem Festakt ein paar Stunden zuvor abschweiften.
Ich hatte seitlich im Saal gesessen, hatte während der Reden in die wohlwollend lächelnden, undurchdringlichen oder schläfrigen Gesichter des Publikums geschaut und mich gefragt, wie viele von ihnen wirklich dazu bereit wären, auf ihre fette Karosse zu verzichten und stattdessen freudestrahlend einen Baum zu umarmen.
Wie immer fand ich das ganze Brimborium amüsant, mehr aber auch nicht. Für meinen Geschmack waren hier zu viel imperiale Macht, dicke Bankkonten und Botox versammelt. Das Wetteifern ums Gesehenwerden ergab allerdings immer gute Fernsehbilder, genauso wie all die Bussi-Bussis in ihren teuren Roben, die raffiniert so vieles verbargen: Wohlstandsfett, Anorexie und Gesinnungen aller Art.
Das Durchschnittsalter des Publikums gab auch Anlass zur Sorge. Von der heute viel zitierten Jugend war hier kaum etwas zu sehen. Ihr waren