Nebeleck. Elisabeth Nesselrode
Möglichstes tun werden, um denjenigen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, der das getan hat.« Ulrike hasste diese Momente, jedes Mal hatte sie das Gefühl, diese Worte, die sie sprechen musste, seien hohl und leer, aufgesetzt, völlig bedeutungslos.
Anton Berger sah schweigend aus dem Fenster. Es war still, nur die Stimmen der Kollegen im Großraumbüro drangen gedämpft herein.
»Mein Vater ist …«, begann Berger irgendwann mit zitternder Stimme, »mein Vater war nicht einfach. Und ich werde nicht lügen und behaupten, dass unser Verhältnis besonders gut war. Im Gegenteil. Aber er war kein schlechter Mensch. Die Umstände waren schwer.«
»Welche Umstände?«, fragte Ulrike.
»Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben, und das hat er … Er hat’s nicht verkraftet. Bis heute nicht. Er hat’s versucht, aber er ist immer wieder eingeknickt.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
»Vor etwa zehn Monaten, im Juni letztes Jahr. Ich sage ja … Unser Verhältnis war nicht leicht. Er hat sich ja bemüht, es zu verbessern. Dann war er mal wieder für ein paar Monate präsent, hat angerufen, ist vorbeigekommen. Und dann war er wieder weg, ist abgetaucht, hat gesoffen, sich selbst bemitleidet. Er war nicht konstant. Er war kein Vater, auf den man sich wirklich verlassen konnte.«
»Und als Sie sich im Juni gesehen haben, wie war er da?«
Wieder bebte Antons Stimme. »Er war … Er war gut drauf damals. Er hat uns besucht, in München. Wir sind essen gegangen. Hat vom Hof erzählt, wie sich alles da entwickelt. Wir haben ihm versprochen vorbeizukommen … Daraus ist nichts geworden.«
Vanessa drückte seine Hand. »Wir wollten ja«, sagte sie, »aber er ist nicht mehr ans Telefon. Anton hat ihn nicht erreicht.«
»Können Sie mir sagen, wie es zu dieser Entscheidung kam, dass er den Hof gekauft hat?«
Anton zuckte mit den Schultern. »Sie kannten ihn nicht. Er war schnell zu begeistern, und spontan war er auch. Er hat ständig was anderes gehabt, was ihn interessiert … eine neue Ablenkung. Vom Hof hat er mir erst erzählt, als er längst da gelebt hat. Das war typisch für ihn, er hat es halt einfach gemacht. Job gekündigt, Hof gekauft, abgehauen. Als ich davon gehört hab, da hab ich mich nicht mal gewundert. Ich dachte sogar, dass es vielleicht gut ist, wenn er mal zur Ruhe kommt.«
Ulrike zögerte, bevor sie die nächste Frage stellte. »Herr Berger, es gibt da ein Gerücht über einen Grund, warum Ihr Vater so plötzlich gekündigt hat.«
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Raum, Ulrike konnte regelrecht spüren, wie Anton Berger seine Aufmerksamkeit schärfte. »Was für ein Gerücht?« Die Worte brachte er gepresst heraus, zischte sie beinah.
»Es gibt das Gerücht, dass Ihr Vater mit einer Schülerin angebandelt hat.«
»Schwachsinn!«, brachte Berger aufgebracht hervor. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, mein Vater war seltsam, er war verschroben, aber das … Das stimmt nicht.«
»Mit Verlaub«, schaltete sich Yusuf ein, »Sie haben Ihren Vater so lang nicht gesehen, Ihr Verhältnis war auch nicht das beste, wie können Sie da so sicher sein?«
Ulrike presste die Lippen aufeinander und beobachtete, wie sich Antons Augen zu Schlitzen verengten. »Ich weiß, dass mein Vater kein Kinderficker war!« Die letzten Worte brüllte er.
»Beruhig dich, Schatz«, sagte Vanessa leise und streichelte ihm über die Schulter.
Ulrike schaltete sich wieder ein. »Herr Berger, mein Kollege versucht nur, der Sache auf den Grund zu kommen. Wir unterstellen Ihrem Vater gar nichts, aber wir müssen jeder Spur nachgehen.«
Anton Berger schien sich langsam zu beruhigen, er schaute wieder aus dem Fenster. »Schon in Ordnung«, sagte er. »Haben Sie schon was anderes? Irgendwas?«
»Es ist noch zu früh, etwas zu sagen, aber wir gehen allen Spuren nach. Wir werden denjenigen finden, der Ihrem Vater das angetan hat.«
Berger war am Ende seiner Kräfte. »Kann ich hin? Auf den Hof?«
Ulrike nickte. »Ich begleite Sie.«
Ulrike beobachtete den kleinen Opel Corsa in ihrem Rückspiegel. Vanessa saß am Steuer, Anton neben ihr, den Kopf gegen die Scheibe gedrückt, die Augen geschlossen. Dann richtete sie den Blick wieder auf die Straße. Langsam zogen erste kleinere Wolken über den strahlend blauen Himmel. Laut Wettervorhersage sollte es heute noch regnen, dafür sprach bislang aber noch nichts. Sie wünschte sich fast den Regen herbei, dass es bald ein Ende nahm mit dieser absurden Idylle.
Ulrike atmete tief durch und rekapitulierte, was Anton Berger ihnen erzählt hatte. Sein Vater wirkte in seiner Beschreibung wie ein Fähnchen im Winde, sprunghaft, leicht depressiv. Vor diesem Hintergrund schien der Hofkauf wie eine Impulstat, eine plötzliche Eingebung in der Hoffnung, das eigene Leben zu verbessern, egal wie, egal wodurch. Und gleichzeitig wirkte der Kauf wie eine Flucht. Eine Flucht vor sich selbst und vielleicht auch vor etwas, das ihn am Ende doch eingeholt hatte.
Durch den Wald fuhr Ulrike geradewegs auf den Hof zu, der Opel Corsa kam neben ihr zum Stehen. Anton Berger stieg aus und schritt langsam und bedächtig auf das Gebäude zu. Sein Blick blieb am Zwinger hängen. »Theo«, wisperte er und schaute Ulrike dann an, »wo ist er?«
»Im Tierheim, Sie können ihn dort abholen, wenn Sie möchten.«
Anton nickte, dann ging er weiter. Er bewegte sich langsam wie ein Raubtier über das Grundstück, ohne den Hof aus den Augen zu lassen. Auf der riesigen Wiese vor der Scheune ließ er sich ins Gras fallen.
»Sie heißt Tanja«, sagte Vanessa Lehmann plötzlich. Sie hatte sich neben sie gestellt, lehnte sich an den Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte und warf dann ihre langen braunen Haare zurück.
»Wie bitte?« Ulrike schaute sie an. Mit geschlossenen Augen pustete Vanessa den Rauch langsam aus.
»Sie heißt Tanja«, wiederholte sie, »die Schülerin. Ihr Name ist Tanja Grass.«
Ulrike war sprachlos.
»Ich weiß nicht, warum er es Ihnen nicht gesagt hat. Irgendwie ist er damit nicht klargekommen, dass sein Vater jahrelang den Tod der Mutter nicht verkraftet hat, und dann ist plötzlich alles wieder gut, weil er eine Teenagerin vögelt.«
»Anton wusste davon?«
Vanessa nickte. »Ja, er wusste davon. Leonard hat es uns damals gesagt, als er uns besucht hat. Hat gesagt, dass sich jetzt endlich alles ändert. Dass er jetzt Tanja hat.«
Sie inhalierte erneut. Wie sie da stand und Anton beobachtete, der sich ins hohe Gras gelegt hatte, wirkte sie wie eine Löwenmutter. »Leonard war ein Scheißkerl. Es ging immer nur um ihn. Dass Anton auch seine Mutter verloren hat, dass er einen Vater gebraucht hätte, der sich um ihn kümmert, das hat er nicht verstanden. Er hat Anton sich selbst überlassen und ist währenddessen im Selbstmitleid versunken.«
Vanessa überlegte, bevor sie weitersprach. »Ich hätte mich nie zwischen Anton und Leonard gestellt, aber ich konnte nichts mit ihm anfangen. Hat seinen Sohn komplett alleingelassen, nichts für ihn getan. Wir sind seit drei Monaten verlobt«, sagte sie und hob ihre linke Hand, an deren Ringfinger ein kleiner Diamantring blitzte. »Wir haben ihm aufs Band gesprochen, er hat nicht mal zurückgerufen.«
»Und Tanja?«
»Tanja war Abiturientin, gerade fertig mit allem. Er hatte schon länger einen Blick auf sie, hat er erzählt. Ich weiß nicht, wie lang das schon ging mit denen. Aber alles sollte anders werden, mit ihr auf dem Hof. Er hat gesagt, er fühlt sich wie berufen. Ich glaube, das war der Moment, in dem Anton es gecheckt hat.«
»Was gecheckt?«
»Dass Leonard ein Scheißkerl ist. Und das ist nicht leicht für ihn. Besonders jetzt, wo er tot ist. Ein lebender Scheißkerl als Vater ist immerhin besser als ein toter. Ich glaub, er hat das mit Tanja nicht gesagt, weil er ihn so nicht in Erinnerung behalten wollte.«