Häuptling Schlappschritt. Andreas Safft

Häuptling Schlappschritt - Andreas Safft


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vor Malaisen schützen soll, das Monatsgehalt eines rumänischen Facharbeiters hin. Ausgemergelte, lustfeindliche Gestalten, die kein Stück Schokolade mehr futtern dürfen, weil sie in dreieinhalb Monaten beim Halbmarathon von Bienenbüttel in der Altersklasse M55 unbedingt unter die ersten Drei kommen wollen.

      Böse Vorurteile? Diese Sportskanonen nervten mich schon im Gymnasium. Der Sportlehrer scheuchte uns auf den Platz, brüllte: „Heute Weitsprung auf Noten!“, ohne auch nur ansatzweise auf die richtige Technik und auf den optimalen Anlauf einzugehen, geschweige denn, einen Sprung vorzuführen.

      Ich rannte wie ein Wilder Richtung Grube, bekam auf halbem Weg fast einen Wadenkrampf, hob mit einem Seufzer ab, setzte zum Flug an und plumpste zirka eine Zehntelsekunde später in den Sand bei drei Meter irgendwas, während die Sportskanonen lässig Anlauf nahmen, kängurugleich abhoben und sich ihre Eins abholten, ohne auch nur eine Schweißperle zu vergießen.

      Weitaus mehr habe ich 75-Meter-Läufe gehasst. So sehr, dass ich sie komplett aus meinem Gedächtnis gestrichen habe. Kein weiteres Wort also zu diesem Thema.

      Ich schwamm lieber und feierte grandiose Erfolge bei den Meisterschaften des Schwimmkreises Gandersheim. Über „50 Brust Knaben“, diese Urkunde habe ich tatsächlich aufgehoben, wurde ich als Siebenjähriger in 1:21,9 Minuten auf Anhieb Jahrgangsmeister – es soll ein zweiter Knirps mitgeschwommen sein, weitere Unterlagen über dieses epochale Sportereignis in der Vor-Internetzeit liegen mir leider nicht mehr vor. Vielleicht war ich doch einziger Starter im Jahrgang 1964.

      Ich zog zum Studieren nach Göttingen, wählte als drittes Fach trotz aller Demütigungen am Sonnenberg und auf dem Schulsportplatz Sport, drückte mich dabei aber, so weit es irgendwie ging, um Leichtathletik.

      Vorm Schwimmtraining stand beim ASC Göttingen regelmäßig eine Laufrunde um den Kiessee an – wundersamerweise hatte ich zu dieser Zeit immer irgendeine Vorlesung zu besuchen. Ach ja, vielleicht hätte ich beim Göttinger Tageblatt gern volontiert – die Wahl des Chefs fiel aber auf eine stadtbekannte Leichtathletin. Da konnte ja nur ein Laufhasser aus mir werden. Der Hass hielt aber nur so lange, bis ich das Laufen wirklich, wirklich dringend nötig hatte.

      Was wäre aus mir wohl ohne den Sportlehrer vom Sonnenberg geworden? Wahrscheinlich auch ein Läufer, aber ohne Jahrzehnte lange Umwege.

       Wie Ü90 an den Kasseler Bergen

      Elf Kilometer können verdammt lang sein. Vor allem, wenn man die Distanz zum ersten Mal an einem Stück läuft wie ich beim Schiffshebewerk-Volkslauf in Scharnebeck. Ungefähr fünf Minuten vor dem Start stellt sich die Sinnfrage verschärft. Der nächste Regenschauer geht nieder, der Südwestwind pfeift über den Sportplatz am Schulzentrum, der alles ist, nur nicht windgeschützt.

      Ein paar dick eingemummte Kinder laufen zwei Sportplatzrunden. Einige werden von ihren Eltern angefeuert, einige gar begleitet – wie peinlich. Gut, dass meine Eltern knapp 200 Kilometer Luftlinie entfernt sind, wahrscheinlich gerade in aller Ruhe frühstücken und absolut nichts ahnen von meinen sportlichen Ambitionen.

      In der Nacht zuvor habe ich kaum ein Auge zugetan. So nervös war ich zuletzt vor meiner Führerscheinprüfung. Und damals konnte ich wenigstens mit dem Auto fahren und musste mich nicht selbst bewegen. Zum Frühstück Kaffee wie üblich, um überhaupt wach zu werden. Wann bin ich das letzte Mal freiwillig sonntags vor acht Uhr aufgestanden? Aber darf ich Nervenwrack jetzt überhaupt Kaffee trinken, oder geht das schon zu sehr auf die Blase? Ob auch bei Volksläufen Dixi-Klos aufgestellt sind?

      Ich habe bestimmt schon fünfmal meine Mütze auf- und wieder abgesetzt, meine Trainingsjacke an- und wieder ausgezogen. So viele Dehnübungen wie in der letzten halben Stunde schaffe ich sonst pro Monat. Anders formuliert: Ich bin nervös. Knapp 150 Frauen und Männer stellen sich auf. Jeder scheint genau zu wissen, wo er sich zu platzieren hat. Alle haben die landkreisinterne Hackordnung schon auf vielen Rennen ausgefochten. Ich aber bin das neue Hähnchen im Stall. Stelle ich mich zu weit vorn hin, werde ich wahrscheinlich auf den ersten zehn Metern gnadenlos niedergewalzt. Stelle ich mich brav hinten kurz vor den Walkern an, gebe ich mich ja schon kampflos mit Platz 120 bis 130 zufrieden. Nein, ich wähle ein Plätzchen mitten in der Mitte.

      Ein Offizieller spricht. Ich höre nur „matschig“, „aufpassen“ und „vielen Dank auch an die Feuerwehr und das Rote Kreuz“. Fürs Einsammeln der Fußlahmen? Endlich der Startschuss. Innerhalb von zwei Sekunden bekomme ich drei Tritte in die Hacken, werde zweimal angerempelt – ich fühle mich wie ein holländischer Wohnwagenfahrer, der sich an den Kasseler Bergen auf die Überholspur verirrt hat. Und dabei haben wir den Sportplatz noch nicht einmal verlassen. Andere wollen gewinnen. Ich will durchkommen. Nicht Letzter werden. Mich von keinem Walker überholen lassen. Und wirklich niemals stehen bleiben.

      Nach zwei Kilometern hat sich die Spreu vom Weizen getrennt. Ich bin eindeutig Spreu. Wenn ich nicht in der Altersklasse M40 laufen würde, sondern in der Gewichtsklasse Ü90, wären meine Chancen eindeutig besser. Ein Fall für die Anonymen Schweinshaxenfresser bin ich nicht gerade, aber rundherum machen nur Hungerhaken Dampf. Hätte ich mir die zwei Bananen vorm Start doch verkniffen.

      Es geht auf kaum bis gar nicht befestigtem Weg quer durch die Feldmark. Der eiskalte Wind pfeift mir um die Ohren. Wie halten das einige Leute nur in kurzen Hosen oder Shirts aus? Das sind wohl die gleichen Zeitgenossen, die zu Neujahr ein Loch in einen See hacken und fröhlich lachend ins Wasser plumpsen. Allmählich spüre ich, warum ansonsten niemand eine Wollmütze trägt. Mir wird warm und wärmer im Oberstübchen. Die Ohren müssen mittlerweile so stark glühen, dass man mich auch als Leuchtturm an der Nordseeküste einsetzen kann.

      „Das wird heute Hardcore“, hatte jemand vor dem Start geunkt. Kurz vor Nutzfelde weiß ich, was er gemeint hat. Schlamm, Modder, Pfützen. Zwei austrainiert wirkende Mädels passieren mich mit aufreizend lockerem Schritt. Die eine ist sehr bald außer Sicht, die andere bleibt ein paar Meter vor mir. Ich hefte mich wie Charlie Brown an die Fersen dieses kleinen rothaarigen Mädchens.

      Kilometer fünfeinhalb, erste Verpflegungsstation. Im Laufen schnappe ich mir einen Becher Tee, zwei Drittel vom Getränk landen prompt auf meiner Jacke. Und das kleine rothaarige Mädchen setzt sich Meter um Meter ab, während einige ältere Herrschaften um mich herum schwächeln. Wie bin ich drauf? Die Beine machen halbwegs gut mit, der Atem hört sich schon etwas gequälter an. Jetzt bloß keine Seitenstiche.

      Dann geht’s hoch zum Elbe-Seitenkanal. Ein paar Halbmarathon-Cracks, die schon die zweite Runde in Angriff nehmen, sind so unverschämt, sich fröhlich miteinander zu unterhalten, während sie an mir vorbeifliegen. Bei mir würde die Luft noch gerade für „Wasser!“ reichen. Das namensgebende Schiffshebewerk sehen wir nur aus großer Entfernung, denn schon geht’s wieder rein in das nächste Wäldchen.

      Kilometer neun. Eine heimtückische Steigung voller Matsch – Typ Anstieg L’Alpe d’Huez bei Dauerregen – wartet. Meine ehemals weißen Schuhe sind eh mittlerweile dunkelbraun mit grünlichen Flecken, also renne ich hemmungslos mitten durch die Pampe. Ha! Der Kerl, der vor mir stehen bleibt und nach Luft japst, ist die beste Motivation, jetzt bloß nicht das gleiche zu tun.

      Noch wenige hundert Meter. Jetzt geht es durch die Scharnebecker Außenbezirke zurück zum Sportplatz. Ausgerechnet hier steht unser Fotograf, der das Häuflein Elend, das ich zurzeit darstelle, für die morgige Ausgabe der Landeszeitung aufnehmen soll. Ich lege ein verzerrtes Grinsen auf. Den nach oben gereckten Daumen verkneife ich mir – allzu dreist möchte ich doch nicht lügen.

      Eine letzte miese Steigung durch eine Wohnstraße. Das kleine rothaarige Mädchen ist so frech, das Tempo nochmals anzuziehen. Etwas warmen Applaus von einigen unentwegten Zuschauern kriege ich trotzdem noch ab. Danke fürs Mitleid. Ziel!

      „Na, Sport machen ist doch anstrengender als über Sport schreiben“, begrüßt mich zirka 0,1 Sekunden nach meiner Ankunft Scharnebecks Vereinschef Ottfried Bitter mit spöttischem Grinsen. Wesentlich willkommener sind jetzt eine Decke und warmer Tee.

      Ich


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