Anleitung für Simulanten. Gisbert Roloff
auftauchte und sich als die jüngste Tochter von Zar Nikolaus II. ausgab, der Boulevardpresse viele Jahrzehnte hinreichend Stoff geliefert? Und den Historikern, Schriftstellern, Drehbuchautoren ein fabelhaftes Thema? Allein acht Filme sind dazu entstanden.
Und was war mit dem Schuster Voigt, der sich in Potsdam eine Uniform kaufte und als Hauptmann von Köpenick unsterblich wurde? Aus diesem Täuschungsmanöver sind hervorgegangen: ein Theaterstück von Carl Zuckmayer, zwei Verfilmungen, ein Museum und jeden Samstag in Köpenick noch einmal das ganze Spektakel für die Touristen.
Es hat auch seine Gründe, dass ein Lieblingsspiel unserer Jüngsten „Komm, wir verkleiden uns“ heißt, dass an Regentagen von Berlin bis Einödhausen Prinzessinnen, Seeräuber und Indianer die Kinderzimmer bevölkern. Und was ist mit dem Rausch des Kostümierens, wenn für die Erwachsenen die „fünfte Jahreszeit“ anbricht? Das Spiel des Tarnens und Täuschens, das wir alle zu gern spielen, weil wir dann besser, schöner, bedeutender scheinen, als wir sind. „In jedem von uns steckt ein kleiner Hochstapler oder Blender“, schreibt Franziska Lamott in ihrem Aufsatz über „Hochstapler, Gauner und andere Ganoven“, und wir werden ihr nicht widersprechen.
Und hätte der Homo sapiens nicht sein herausragendes Talent zu variabler Mimikry und zur Imitation von Verhalten, wo blieben all die Verkleidungsorgien, die Oper, Theater, Kabarett erst möglich machen? Von den Schauspielern und Spaßmachern ganz zu schweigen.
Jammervoll wird es erst, wenn einsame Frauen von Heiratsschwindlern hereingelegt werden, wenn vertrauensselige Menschen an ihrem Lebensabend das Ersparte an Aktienbetrüger verlieren und so fort.
Aber noch ein anderes Beispiel aus unserem Alltag: Schlagen Sie die Zeitung auf, lesen Sie von Steuersündern und Steuerparadiesen, als hätte Gott mit diesen Formen des Betrugs zu tun, ja, als wäre er es, der Orte einrichtet, die umfangreiche kriminelle Machenschaften erlauben. Semantische Mimikry nennen die Fachleute diese beschönigenden sprachlichen Formulierungen, und wenn Sie in Zukunft beim Zeitunglesen darauf achten, werden Sie merken: Es gibt sehr viele. Zum Beispiel geben wir zu, etwas geschummelt zu haben, wenn wir beim Lügen erwischt werden. Wir sagen einschlafen und meinen sterben, wir sprechen vom Lebensabend und meinen das Alter, wir sagen Seniorenresidenz und haben das Altersheim um die Ecke im Sinn. Totengräber gehören heute zu einem Grüfte-Team, das kräftige Wort Gottesacker haben wir erst in den Friedhof und jetzt in einen Ruhewald verwandelt; Urnen werden sogar in einem Rosen- oder Apfelhain vergraben. Und wie lauten die Sprachregelungen unserer Afghanistan-Kämpfer? „Wir haben sie gehört, aber wir konnten nicht auf sie einwirken..“ Ahnen Sie, was das heißt? Im Klartext: Wir konnten nicht auf sie schießen.
Der Rabe, der mit der geklauten Beute abhaut. Klauen konnte er nur, weil er seinen rangtieferen Kumpanen getäuscht hat.
Tricks als Werkzeug, um mehr vom Kuchen zu ergattern
In der Hirnentwicklung höher stehende Tiere – und selbstverständlich auch wir Menschen – sind in der Lage, auf die jeweilige Situation mit Werkzeuggebrauch, mit Intelligenz und Lernen zu reagieren. Entsprechend vielfältig und ausgeklügelt sind dann die Täuschungsmanöver.
Von diebischen Elstern weiß die deutsche Sprache, auch von klauenden Raben. Dass letztere sich untereinander Nistmaterial stehlen, ist schon länger bekannt. Aber sie bestehlen sich nicht nur, sie tricksen sich auch gegenseitig aus, um das Futterversteck des anderen zu plündern. Raben, die aus einem fremden Futtervorrat etwas stibitzen wollen, locken den Besitzer fort, indem sie irgendwo abseits auf dem Weg picken, so, als hätten sie selbst Futter gefunden. Der getäuschte Tor fliegt herbei, vertreibt den Trickser und untersucht die Stelle am Weg. Der Trickser wiederum fliegt schleunigst zum Platz des Ausgetricksten und frisst, was er dort findet. Nun gut, Mundraub, werden Sie sagen. Oder auch: Betrogene Betrüger.
Aber wissen Sie, was unsere nächsten Verwandten, Schimpansen und Gorillas, alles treiben? Dass sie einander mit Wurfgeschossen traktieren, und zwar erst dann, wenn das auserkorene Opfer nichts Böses mehr vermutet? Solange der Artgenosse ihnen zuschaut, halten die Angreifer das Wurfgeschoss hinter dem Rücken; sie holen es blitzschnell hervor, wenn der andere sich abgewandt hat. Soll auch Zoobesuchern schon passiert sein. Also seien Sie bei Ihrem nächsten Gang in den Zoo vorsichtig!
Mit einem anderen Trick locken Gorillas ihre Rivalen in einen Kampf. Sie werfen ein Fundstück so gegen einen Baum, dass der Rivale sich erschreckt und wie gewünscht in ihre Richtung und ihnen in die kampfbereiten Arme rennt. Und dann gibt es mächtig Prügel.
Tja, und um Paarungsverhalten und Sex nicht zu vergessen: Manch Verführer unter den Schimpansen präsentiert seinen erigierten Penis, der sich schön rot vom dunklen Fell abhebt, so geschickt hinter vorgehaltener Hand, dass er zwar sehr wohl von einem Weibchen bemerkt wird, nicht aber vom Pascha der Gruppe. Entdeckt jedoch der Pascha, dass da ein Rangniederer eines von seinen Weibchen besteigt, erzeugt der Schlingel sofort Konfusion, indem er seinerseits einen im Rang noch tieferen angreift. Und da die Ejakulation bei Schimpansen in wenigen Sekunden erledigt ist – eine längere Zeitspanne wäre viel zu gefährlich –, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass unser tricksender junger Freund zum Zuge kam.
Fazit: Schimpansen und Gorillas täuschen oft und intelligent.
Erst Steine sammeln, dann werfen: Der Schimpanse Santino, ein Star der vergleichenden Intelligenzforschung, mitten in einer seiner Aktionen. Gleich wird er sich blitzschnell umdrehen und die Steine, die er sich vorher zurechtgelegt hat, auf die gaffenden Menschen schleudern. Kann man ein bisschen nachfühlen, oder nicht? Manchmal täuscht er besonders raffiniert, weil er an einem Apfel kauend auf die Gaffer zugeht. Näheres finden Sie bei Mathias Osvath in seinem 2012 erschienenen Artikel.
Und Homo sapiens? Homo sapiens verfügt über ein reiches Spektrum von Täuschungsmanövern. Er kann sich tarnen, unsichtbar machen, sich in einen anderen verwandeln, imitieren, Aufmerksamkeit verlagern, sich dumm stellen, die anderen austricksen, alles im Kampf um die größten Reviere, die besten Futterplätze (sprich: Geld), um die besten Partner für die Fortpflanzung, die höchsten sozialen Ränge, die größte Aufmerksamkeit, und in existenziellen Gefahrensituationen auch schlicht um das eigene Überleben.
Das fängt schon bei den Babys an. Bereits mit sechs Monaten können sie Weinen gezielt als Mittel einsetzen, um Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Bewusst eingesetztes Weinen kann abrupt unterbrochen werden - Sie haben das schon viele Male erlebt –, wenn das Kind kontrollieren will, ob sein Weinen auch beachtet wird. Unsere unschuldigen Kleinen können ihr Verhalten sehr gut modifizieren, je nachdem, wie die Erwachsenen darauf reagieren.
Und wer lacht nicht über die Pseudoblödheit von Felix Krull (alias Horst Buchholz), der mit seiner gut einstudierten Nummer wehruntauglich geschrieben wurde? (Einen Auszug aus dem berühmten Roman von Thomas Mann finden Sie im Anhang.) Und über Jack Lemmon und Tony Curtis, die in Billy Wilders unsterblicher Komödie Manche mögen’s heiß (siehe Kasten auf der nächsten Seite) in Frauenkleidern der Mafia entkamen? Und so weiter und so fort.
Täuschen und Tricksen macht schlau
Was bringt es nun, das Täuschen und Tricksen, wenn man sich die Evolution ansieht und zunächst darauf verzichtet, ein moralisches Problem daraus zu machen?
Der Soziobiologe Trivers formuliert hierzu eine ebenso überraschende wie einleuchtende Antwort. Täuschen führt zu immer besser entwickelter Intelligenz. Denn wer täuscht, um dem Fressfeind zu entkommen, wird sich häufiger fortpflanzen können als derjenige, der sich fressen lässt. Und gleichzeitig zwingt der Trickser den Fressfeind, seinerseits ausgefuchstere Strategien der Jagd zu entwickeln, sonst kann er sich weder ernähren noch fortpflanzen. Und wer den Artgenossen täuscht, um sein Futter oder sein Weibchen zu ergattern, hat wiederum bessere Chancen, zu überleben und Nachkommen zu zeugen.
Gerade bei sozial lebenden Tieren – zu denen auch das Menschentier gehört - bedeutet dies, dass nicht nur der körperlich Starke, sondern auch der besonders Gewitzte