Anleitung für Simulanten. Gisbert Roloff

Anleitung für Simulanten - Gisbert Roloff


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      Oder doch eher eine Selbsttäuschung, wie Friedrich Nietzsche sie 1886 in Jenseits von Gut und Böse skizziert hat:

       „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“

      Oder Simulieren einer Gedächtnisstörung als bewusst eingesetzte Strategie, um der Verantwortung zu entgehen? Vergessen, Verdrängen, Simulieren? Wer kennt sich aus? Wahr ist, dass es (unvollständige) Akten gibt, wahr ist, dass nicht einmal die Getreuen volle Gewissheit haben, weder Bruno Heck noch seine Tochter Susanna Filbinger-Riggert, die beide Bücher zu diesem Fall geschrieben haben. Wahr ist auch, dass ein bundesdeutsches Gericht dem bekannten Dramatiker Rolf Hochhuth gestattet hat, Hans Karl Filbinger „einen furchtbaren Juristen“ zu nennen. Nicht ganz abweisen lässt sich jedoch, dass die selbst ernannten moralischen Instanzen zu moralischer Selbstüberschätzung neigen können. Wie wir alle übrigens – eine typische Form der Selbsttäuschung.

      Des Teufels Baumeister:

       Ein Künstler der Dissimulation

      Nein, krank wurde Albert Speer nicht, als er 1945/1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess Rede und Antwort stehen musste. Hitlers ehemaliger Rüstungsminister und Generalbauinspektor, Planer der neuen Welthauptstadt Germania gab sich manierlich und kooperativ. Er berief sich auch nicht auf Gedächtnisstörungen, ganz im Gegenteil. Zu gern berichtete er Einzelheiten aus dem Privatleben der Nazigrößen, vor allem der toten. Schließlich gehörte er zum engsten Kreis um den „Führer“ und verbrachte viele Sommer zusammen mit Frau und Kindern auf Hitlers Berghof in Berchtesgaden. Allerdings: Trotz dieser Nähe gab er vor, von den Verbrechen des Dritten Reichs nichts gewusst zu haben. Psychologisch geschickt bekannte er sich zu einer gewissen Mitschuld am NS-System, bestritt jedoch eine direkte Beteiligung an den monströsen Untaten. Da Albert Speer aus einer gut situierten Mannheimer Architektenfamilie stammte und in großbürgerlichem Milieu aufwuchs – mit französischer Gouvernante, mit Kindermädchen und Chauffeur – konnte er die Richter nicht nur durch sein gutes Aussehen, sondern auch durch seine Manieren und seine gepflegte Sprache beeindrucken. Obwohl er seit 1931 zu Hitlers Gefolgschaft gehörte, nahmen sie ihm ab, in die Pläne zur Ermordung der europäischen Juden nicht eingeweiht worden zu sein.

      In Nürnberg retteten ihm seine geschmeidige Argumentation, seine pauschale Verurteilung des Nazi-Regimes und seine genialen Lügengespinste das Leben. Unverfroren stilisierte er sich als Künstler und Technokrat, der an Deportation, Sklavenarbeit, Ausrottung nicht beteiligt war. Seine Richter, selbst eher bürgerlicher Herkunft, fielen auf seine Dissimulationskunst herein: So wurden Speer zwar Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht aber Völkermord zur Last gelegt.

      Das konnte ihm nur gelingen, weil der damaligen zeithistorischen Forschung noch nicht bekannt war, was später entdeckte Quellen zutage förderten: Sie zeigten ihn als einen Meister der Täuschung, der das Spiel, eine Fassade aufzubauen und aufrechtzuerhalten, exzellent beherrschte. So galt er als Gentleman-Nazi und stiller Retter vor Hitlers Befehl der verbrannten Erde.

      Zwei Dinge muss man an Albert Speer wirklich bewundern: seine Intelligenz und sein Gedächtnis. Denn wer ein solches Gebäude aus Wahrheit und Lüge errichtet, muss alles genau durchdenken und darf nicht vergesslich sein. Und ein Glückspilz, ein Vorzugskind des Schicksals, war er auch. Schließlich legte der junge Historiker Matthias Schmidt erst kurz nach Speers Tod die Dokumente vor, die dessen Beteiligung am Völkermord bewiesen. Wie Susanne Willems inzwischen sorgfältig aus den Archiven zusammengetragen hat, ließ Speer für das neue Germania 23.765 Wohnungen jüdischer Bürger räumen. Die jüdischen Familien wurden zunächst in sogenannten Judenhäusern geschachtelt (sie nannten es wirklich so!) und später in die Lager des Ostens deportiert. Nach heutigen Berechnungen waren es etwa 50.500 Menschen, allein aus Berlin.

      Als Speer im September 1981 im Beisein seiner Geliebten in einem Londoner Hotelzimmer starb, hatte er alle getäuscht: seine Frau, seine Freunde, seinen Verleger, seine Leser. Sogar ein brillanter Kopf wie der Zeithistoriker Joachim Fest, der Speer bei der Niederschrift seiner Erinnerungen half, erklärte lange nach Speers Tod in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die unbeantwortbaren Fragen“, dass er nie wirklich hinter Speers Fassade blicken konnte. Vielmehr habe Speer „uns allen mit der treuherzigsten Miene der Welt eine Nase gedreht“. So wird man ihn wohl als einen der berühmtesten Dissimulanten des 20. Jahrhunderts bezeichnen können.

      Simulation und Dissimulation

      Aus jüngerer Zeit fallen uns sofort weitere Beispiele für Täuschungsversuche ein.

      Der Kriegsverbrecher Demjanjuk lässt sich zwar mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einer Trage in den Gerichtssaal transportieren, wird aber kurze Zeit später beobachtet, wie er ohne Zeichen körperlicher Beeinträchtigung zu seinem Auto geht, einsteigt und davonfährt.

      Jacques Chirac, bis 2007 Staatspräsident Frankreichs, machte Gedächtnisstörungen geltend, als er Fragen zu seiner Vergangenheit als Bürgermeister von Paris beantworten sollte. Er war wegen Amtsmissbrauchs sowie Veruntreuung und Unterschlagung öffentlicher Gelder angeklagt worden.

      Und die Mafiosi, die inzwischen im feinen Zwirn der Banker und Manager den Norden Europas und Nordamerikas unsicher machen? Längst nicht mehr mit der Lupara, dem Wolfstöter, im Arm, sondern mit all den technischen Utensilien ausgestattet, die Betrug und Täuschung auch ohne Waffen effizient werden lassen.

      Weitere Beispiele ließen sich leicht anführen. All diesen prominenten Simulanten und Dissimulanten dürfte die Absicht gemeinsam sein, öffentliche Untersuchungen und Gerichtsverfahren zu blockieren, um Karrieren zu retten und/oder gesetzlichen Strafen zu entgehen.

      Die Medien als Vergrößerungsglas

      Und was bringt uns das jetzt, diese Parade prominenter Simulanten und Dissimulanten? Häme? Neid? Oder doch mehr?

      Betrachtet man die Medien als eine Art Vergrößerungsglas, so spiegeln all die Zeitungsberichte und Fernsehtalks über die Tricksereien der Promis wider, dass auch der Homo sapiens des 20./21. Jahrhunderts darauf aus ist, sich und den Seinen die besten Futterplätze, die besten Möglichkeiten der Fortpflanzung und die höchsten sozialen Ränge zu sichern. Mögen die Formen gewechselt haben, die Ziele bleiben. Wir zeigen das falscheste Lächeln, aber mit blendend weißen Zähnen.

      Und die Lebenserinnerungen, die mit Hilfe versierter Ghostwriter den Nachruhm erhalten sollen, sie zeigen auf Hochglanzpapier: alles ein bisschen trauriger (die Kindheit!), alles ein bisschen anstrengender (die Karriere!), alles ein bisschen bedeutsamer (die eigenen Sätze über die Welt!). Und der Erfolg? Er ist natürlich immer dem eigenen Einsatz, der eigenen Begabung zu verdanken. Weder Zufälle noch Förderer noch Halunkenstücke werden erwähnt. Oh, wir begabten Retuscheure!

      Kapitel 3: Wir ganz normalen Simulanten

      Betrachtet man die Kunst des Simulierens im Alltag ein bisschen näher, muss man feststellen:

      Die Vorteile toppen die Gefahr.

      Auf den Punkt gebracht, will ziemlich jeder Mann, jede Frau und jedes Kind:

      Unangenehmes vermeiden, aber mehr vom Kuchen haben.

      Und da ein gewiefter Trickser selten auf frischer Tat ertappt wird, sondern erst einmal die Vorteile des Tricksens genießen kann, wird ziemlich häufig simuliert.

      Unangenehmes vermeiden

      Und was gibt es nicht alles, was man gerne vermeiden möchte? Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

die Schule (denken wir nur an Hanno Buddenbrook),
Prüfungen im Allgemeinen (Achtung, jetzt sind Sie selbst dran!),
den Wehrdienst (hier ist der charmante Simulant Felix Krull ein gutes Beispiel),
den Kriegsdienst (lesen Sie dazu Hemingways herzzerreißenden Roman „In einem anderen Land“),
täglich zur Arbeit gehen (wer hat noch nie „blaugemacht“?),
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