Unter Vormundschaft. Lisbeth Herger

Unter Vormundschaft - Lisbeth Herger


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die Freundin sei aber nicht mitgegangen und sie habe mit den beiden verschiedene Wirtschaften besucht. Sie sei etwas angetrunken gewesen und habe nicht mehr recht Velo fahren können, deshalb habe ihr der Bursche angeboten, sie solle mit ihm nach Hause kommen und könne sich dort ausschlafen. Sie sei ohne weiteres Zögern mit ihm aufs Zimmer gegangen, habe sich ins Bett gelegt und geschlafen. So viel sie wisse, habe sie sich nicht einmal ganz ausgezogen, sondern nur das Kleid abgenommen. Sie könne sich nicht mehr genau erinnern, was in dieser Zeit auf dem Zimmer des Burschen alles vor sich gegangen sei, denn sie sei durch den ungewohnten Alkoholgenuss sehr müde gewesen. Nach einiger Zeit sei ein Mann gekommen und habe sie mitgenommen. Sie habe die Nacht, so viel sie sich erinnern könne, im Polizeilokal verbringen müssen und sei dann am Morgen nach Hause gegangen.

      Nun kann man Linas Behauptung, sie wisse nicht mehr, was auf dem Zimmer so alles geschehen sei, als reine Schutzbehauptung interpretieren, um der drohenden väterlichen Strafe zu entgehen. Ob Lina in ihrem depressiven und psychotischen Zustand zu solch gezielten Tricks überhaupt fähig gewesen wäre, ist zweifelhaft. Jedenfalls war sie stark alkoholisiert und scheint keine klaren Erinnerungen an jene Nacht mehr zu haben. Befragt man sie heute, wiederholt sie jene Version, die sie damals dem Arzt erzählte. Der in die Sache verwickelte junge Mann aber wird gar nicht befragt – jedenfalls ist eine etwaige Befragung nicht aktenkundig –, und seine Identität bleibt in den Akten durchgängig geschützt.

      Warum Hausarzt Dr. Sandstein in seinem Einweisungsschreiben so überzeugt von einer Vergewaltigung schreibt, bleibt unklar. Und es kümmert die Wiler Psychiater bei ihrer Anamnese auch nicht weiter. Die behauptete Vergewaltigung und allfällige Folgen für das Opfer sind schlicht kein therapeutisches Thema. Erst vier Wochen nach der Einweisung wird auf Verlangen des zuständigen Bezirksamts Althausen eine gynäkologische Untersuchung angeordnet, zwecks Klärung von Linas Jungfräulichkeit. Die junge Frau wird zu einer Ärztin geschickt, der Befund kommt mit kollegialer Hochachtung an die Kollegen in der Klinik zurück:

      Die gynäkologische Untersuchung vom 26.IV. ergab folgenden Befund:

      Hymenalsaum erhalten, an zwei Stellen scheint er eingerissen. Trotzdem ist es schwierig zu behaupten, dass die Patientin nicht mehr virgo ist. Vagina ohne Befund. Portio virginell. Uterus anteflektiert, normal gross, Adnexgegenden beidseitig frei. Diagose: normales Genitale.

      Interessanterweise zieht der Wiler Chefarzt Dr. Rauheisen aus dem nicht eindeutigen Befund den umgekehrten Schluss seiner Kollegin: «Die vom Bezirksamt Altstätten verlangte gynäkologische Untersuchung wurde am 26.4.58 von Frl. Dr. Ernst durchgeführt. Demnach ist es fraglich, ob die Pat. noch virginell ist (Einzelheiten siehe Bericht von Dr. Ernst vom 1.5.58).» Er schlägt sich mit seiner Lesart also auf die Seite jener, die eine Vergewaltigung durch den jungen Burschen als wahrscheinlich annehmen. Jedoch führt dies nicht etwa zu einer Intervention im Interesse seiner Schutzbefohlenen, sondern er macht sich in seinem späteren Bericht in solidarischem Schulterschluss sogleich zum Anwalt des jungen Mannes: «Am 30.3. wurde es [das Mädchen] von einem etwas jüngeren Burschen alkoholisiert und zum gemeinsamen Schlafen verführt, wobei es wahrscheinlich auch zum Sexualverkehr oder zumindest zu einem entsprechenden Versuch kam. Für den Laien, namentlich für einen ungebildeten, dürfte es bei einer kurzen Begegnung kaum erkennbar gewesen sein, dass die Pat. schwachsinnig und dazu noch geisteskrank ist.»

      Lina selbst wird noch ein paar Monate in der Klinik bleiben. Sie hat heute, wie schon erwähnt, sehr unterschiedlich präzise Erinnerungen an diese Tage und Wochen. Einerseits malt sie detailgetreue Skizzen der Interieurs von Sälen und Zimmern, sie weiss den Namen der Dame am Empfang und dass sie den Schwestern in der Wäscherei half, und sie erinnert sich mit Unbehagen an die vielen Spritzen in ihren Bauch. Dann aber gibt es auch Filmrisse, etwa wenn es um die so fremden Herren Ärzte geht, die sie befragten und die so oft bei ihr auf Visite waren. Und sie spricht in dem ihr eigenen schlaksigen Ton von dieser Zeit als Zeit in den grauen Wänden.

      II

      Keine Chance für Lina

      Nach sechs Wochen stationärer Behandlung stellt Chefarzt Rauheisen eine leichte Besserung bei Lina Zingg fest. Die Patientin sei zugänglicher geworden, ein gewisser «affektiver Rapport» sei jetzt mit ihr möglich, jedoch sei sie noch recht steif, so beobachtet er. Und er empfiehlt, da Linas Gesundheitszustand sich als robust bewährt und das im Krankenhaus Flawil angefertigte Elektrokardiogramm keine krankhaften Veränderungen anzeigt, die Fortsetzung der «grossen Insulinkur: Die Pat. hatte die Insulinkur bis jetzt komplikationslos vertragen, die in den ersten 14 Tagen auftretenden starken Zuckungen während der schweren Benommenheit hatten zu einem epileptischen Anfall geführt, unter zusätzlicher Behandlung mit Luminal, später Belladenal wiederholte sich der Anfall nicht mehr, und die Zuckungen blieben in bescheidenem Rahmen». Allerdings hält die konstatierte Besserung nicht wirklich an, es kommt im Gegenteil zu einem Rückfall, wie der diensthabende Arzt notiert: «Während in den ersten vier Wochen der Kur eine deutliche Besserung des psychischen Zustandes zu verzeichnen war, scheint die Pat. in den letzten Tagen wieder deutlich steifer geworden zu sein, redet jetzt, während sie vor 14 Tagen gedanklich vollständig geordnet war, zeitweise wieder zerfahren und scheint, obgleich sie dies negiert, ihrem Verhalten nach gelegentlich zu halluzinieren, denn sie unterbricht immer wieder ihre Näharbeit, starrt in eine Ecke der Decke und kommt wie aus einer andern Welt zurück, wenn man sie in diesem Augenblick anspricht.»

      Nach gut zweieinhalb Monaten wird die Insulinkur langsam ausschleichend beendet, ohne dass sich die anfängliche Besserung wieder eingestellt hätte. Man beschliesst deshalb, es anschliessend noch mit einem Psychopharmakon zu versuchen. «Da die Pat. in ihrem jetzigen Zustand nicht entlassungsfähig ist, soll nach erfolglos abgeschlossener Insulinkur noch eine grosse Largactilkur versucht werden, die in den nächsten Tagen begonnen wird.» Largactil ist ein Neuroleptikum und hat beruhigende und antipsychotische Wirkung, wirkt also bei Wahnvorstellungen und Halluzinationen, aber auch als beruhigendes Mittel bei Ängsten, Unruhe und Erregungszuständen. Das Medikament wurde in den Kliniken seit ungefähr 1953 bei schizophrenen Patienten eingesetzt.

      Während man in diesen Therapiewochen auf weitere Besserung hofft, beginnt man sich in der Klinik Gedanken zu Linas Zukunft zu machen. Da die junge Frau noch minderjährig ist, wäre zuallererst ihr Vater für diese Frage zuständig. Dieser möchte seine Tochter offenbar so schnell wie möglich wieder zurückhaben, sie soll wieder in die Fabrik gehen und zu Hause anpacken, soll sich so gut wie möglich einfügen in den bäuerlichen Haushalt, zu tun gibt es genug. Doch die Wiler Ärzte sehen das anders. Man ist gewillt, Lina nicht in diese «primitiven Verhältnisse» mit ihren Überforderungen zurückzuschicken. Man hat sich inzwischen ein Bild gemacht von der ganzen Familie, insbesondere aber von diesem querköpfigen Vater, mit dem man in den fast fünf Monaten «noch nie Fühlung nehmen» konnte, über den man aber – dem Herr Pfarrer seis gedankt – doch einiges erfahren hat.

      Vater und Kinder besorgen den Haushalt noch immer selber. Eine Nachbarsfamilie besorgt die Wäsche. Vom kath. Pfarramt wurde dem Vater mehrmals vorgeschlagen, er möge eine Flickerin nehmen, die jede Woche die Kleider in Ordnung bringen soll. Auch dürfe er sich nach einer gelegentlichen Haushaltshilfe umsehen. Die Rechnung dafür hätte der kath. Frauenbund beglichen. Der Vater sei aber nicht auf diese Vorschläge eingegangen, was allerdings – und dies scheint der Pfarrer nicht überlegt zu haben – wohl darauf zurückzuführen ist, dass heutzutage Haushaltshilfen und Flickerinnen sehr dünn gesät sind, besonders wenn sie dazu noch verwahrloste Verhältnisse antreten sollten.

      So protokolliert der Arzt sein Gespräch mit Pfarrer Stocker. Niemand denkt daran, dass Bauer Hans vielleicht auch aus Scham nicht auf die pfarrherrlichen Vorschläge eingetreten sein könnte. Weil er sein verwahrlostes Haus und die ärmliche Habe vor fremden Blicken und vermutlich geschwätzigem Mund schützen möchte. Schliesslich hat auch er seinen Stolz. Dass damals, nach dem Tod seiner Frau, für ein paar Jahre seine Schwägerin bei ihm wirtschaftete, das ging als innerfamiliäres Arrangement in Ordnung. Aber eine Fremde ist etwas anderes. Und ausserdem weiss Hans Zingg, was seinen frauenlosen Haushalt angeht, eine weit bessere Lösung: Er schmiedet Heiratspläne, mit einer Appenzellerin aus Heiden, in ein paar Wochen soll es so weit sein, dann würde wieder eine ordentliche Frau an seinem Herd stehen. Auch das hätten der Herr Pfarrer und die Ärzte von Linas Vater


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