Martin Fourcade. Martin Fourcade
Leistungsfähigkeit und seiner taktischen Intelligenz ist Martin aber auch ein engagierter Athlet mit einer außergewöhnlichen Neugier, Offenheit und Direktheit. Für die Kandidatur von Paris als Austragungsort der Olympischen wie der Paralympischen Spiele des Jahres 2024 hat er sich schon stark gemacht, als wir noch nicht einmal offiziell Kandidaten waren. Dann war er drei Jahre lang immer bereit, wenn man im Rahmen der Bewerbung seine Unterstützung brauchte – sogar zwischen den Weltmeisterschaftswettkämpfen –, bis Paris dann am 13. September 2017 das Rennen für 2024 machte.
Martin ist noch keine dreißig Jahre alt und hat die Geschichte des Biathlons schon sehr geprägt. Er ist eine Ausnahmeerscheinung, wie es sie nur selten gibt, und ein echtes Vorbild – nicht nur für meinen Sohn, sondern für Millionen Franzosen und Sportfans auf der ganzen Welt. Sein Traum von Olympia ist der Traum von vielen Millionen Menschen geworden. Das ist die Macht des Sports: die Inspiration zu weiteren Träumen von Gold und Schnee.
Für Manon und Inès, meine zwei großen Lieben.
Zum Auftakt: eine Erinnerung
Alles geht sehr schnell, nachdem ich die Ziellinie überquert habe. Ich habe gerade noch Zeit, Florent, meinen Physiotherapeuten, zu umarmen und meine Lebensgefährtin Hélène, die in Frankreich geblieben war, anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich sie liebe, bevor ich vom Protokoll verschluckt werde.
Von der Mixed Zone, wo ich live mit den verschiedenen Fernsehsendern spreche, werde ich zur Blumenzeremonie geschoben. Ich entdecke meine Eltern auf der Tribüne und winke ihnen zu. Ich würde sie gerne anfassen, um sicher zu sein, dass diese verrückte Situation tatsächlich echt ist, aber meine Verpflichtungen lassen das nicht zu. Ich gebe Cathy, der Pressesprecherin des Teams, den Blumenstrauß, damit sie ihn meiner Mutter überreicht, während ich zur Pressekonferenz eskortiert werde.
Bei den vielen Glückwünschen stelle ich fest, dass ein erfolgreicher Wettkampf sogar viel länger dauert als nur 15 Kilometer3. Nachdem ich mich den Fragen der Journalisten gestellt habe, stehe ich vor den Ärzten zum Dopingtest. Im Warteraum habe ich Zeit, auf mein Handy zu schauen. Eine Flut an Glückwünschen trifft ein. Nur zehn Minuten nach dem Rennen sind es schon mehr als 150 Nachrichten, und mein Telefon hört nicht auf, alle zwei Sekunden zu vibrieren!
Ich möchte auf jede einzelne antworten – was ich übrigens auch machen werde –, aber zu diesem Zeitpunkt bin ich schlicht überwältigt. Ich schreibe eine Nachricht an Thierry Dusserre, meinen Jugendtrainer, und danke ihm für seine Unterstützung, ohne die ich nicht so weit gekommen wäre, und eine weitere an Pascal Étienne, der mich letztes Jahr trainiert hat und aktuell gegen eine Krebserkrankung kämpft – diesen Kampf wird er nur wenige Tage später verlieren.
Endlich werde ich in den Untersuchungsraum gerufen. Die Stimmung hier ist seltsam, sehr misstrauisch scheint mir. Das hier ist weit entfernt von der Routine bei den Dopingtests während des Biathlon-Welt-Cups. Aber das gehört dazu. Nach der Blutentnahme muss ich nackt vor einem Unbekannten in einer Toilette, deren Wände, Boden und Decke aus Spiegeln bestehen, meinen Urin abgeben. Eine seltsame Erfahrung für einen 21-Jährigen, auch wenn ich nicht zu den schamhaftesten Naturen gehöre.
Nachdem ich zum fünften Mal die Nummer der wohl wichtigsten Probe meiner bisher kurzen Karriere überprüft habe, fahre ich in einem großen Geländewagen zurück ins Olympische Dorf in Whistler. Also nicht mehr im Bus – die ersten Annehmlichkeiten beginnen.
Doch auch dann ist der Zeitplan eng: Ich muss etwas essen, mich massieren lassen für die Regeneration und mich fertig machen für die Siegerehrung in der Stadt. Ich begegne einigen Athleten des französischen Teams. Wir können nur kurz sprechen, doch ich spüre, dass die mit einem Lächeln vorgetragenen Glückwünsche von Herzen kommen.
Es ist 18.00 Uhr, als ich zur »Medals Plaza« aufbreche. Ich bin aufgeregt und kann es kaum erwarten, endlich in den Händen zu halten, wovon alle sprechen seit dem Massenstart vor fünf Stunden.
Ich komme viel zu früh an dem Ort an, an dem die Zeremonie stattfindet. In einem Raum hinter der Bühne bin ich in Gesellschaft der anderen Medaillenträger des Tages. Das Protokoll des IOC ist so zuverlässig wie streng. Ein verspäteter oder nicht erscheinender Medaillengewinner wäre bei einer solchen Institution undenkbar.
Eingesunken in riesige Sofas nutzen wir diesen ersten ruhigen Moment des Tages, um etwas zu verschnaufen und uns gegenseitig zu gratulieren. Silvan Zurbriggen, der gerade die Bronzemedaille in der Super-Kombination gewonnen hat und wie ich Rossignol fährt, schüttelt mir die Hand. Ich erinnere mich noch daran, wie beeindruckt ich von der Größe seiner Hand war! Plötzlich komme ich mir sehr jung vor neben all diesen Sportlern, die schon mehrfach mit Medaillen gekrönt wurden.
Ich unterhalte mich lange mit Magdalena Neuner, die ich gerade erst kennengelernt habe. Sie gewann soeben ihre zweite Goldmedaille im Biathlon. Trotzdem wirkt sie ein bisschen schüchtern, aber sehr nett. Aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich den amerikanischen Star Bode Miller, um ihn um ein Foto zu bitten, doch er steht etwas abseits, hat seine Kappe tief ins Gesicht gezogen und ist offenbar sehr mit seinem Smartphone beschäftigt.
Nach einer nicht enden wollenden Wartezeit ertönt schließlich die Olympische Hymne. Ich betrete die Bühne nach dem Slowaken und dem Russen, die mich auf das Podium begleiten. Ich sehe auf Anhieb die Franzosen und muss beim Anblick der wehenden blau-weiß- roten Fahnen lächeln. Ich brauche ein paar Sekunden, um einen Anhaltspunkt auf dieser Seite der Bühne, mit der ich noch nicht vertraut bin, zu finden. Endlich bekomme ich die Medaille. Meine Medaille.
Sie ist nur aus Silber, aber für mich ist sie die schönste überhaupt: wellig und eingraviert mit indigenen Stammesmotiven aus British-Columbia.
Es fällt mir schwer, mich von diesem wunderschönen Ding abzuwenden. Meine allererste echte Medaille …
Die Melodie der russischen Nationalhymne für den Olympiasieger Evgeny Ustyugov bringt mich zurück in die Gegenwart. Aus Respekt nehme ich meine Mütze ab und schaue zum französischen Team. Sie sind alle da: Stéphane Bouthiaux, mein Trainer, Siegfried Mazet, mein Schießtrainer, Christian Dumont, der Sportdirektor des französischen Verbandes, unsere vier Musketiere des Gleitens – die Techniker Gaël Gaillard, Christian Favre, Olivier Gonon und Greg Deschamps –, aber auch die Damentrainer Polo Giachino und Lionel Laurent. Links von den Athleten und den Offiziellen der französischen Delegation entdecke ich meine Mutter und meinen jüngeren Bruder Brice, meinen Onkel mit der Kamera in der Hand und meinen Vater, der irgendetwas mit seiner blau-weiß-roten Fahne verdeckt.
Simon, meinen vier Jahre älteren Bruder, durch den ich zum Biathlonsport gekommen bin und der wie ich zur französischen Nationalmannschaft der Olympischen Spiele in Vancouver gehört, sehe ich nicht. Aber ich weiß, dass er da ist.
Als er in Kanada ankam, hatte er einen Weltcup-Sieg in der Tasche und war überzeugt, dass er nun seine Karriere krönen werde. Doch dann lief er durch die olympischen Wettkämpfe wie ein Geist – weit, sehr weit entfernt von seinem üblichen Niveau. Er ist der Star des französischen Kaders – als ich ihn im Zielbereich umarmte, sagte ich zu ihm: »Eigentlich hättest du diese Medaille gewinnen sollen.« Ich halte weiter nach ihm Ausschau, und als ich ihn endlich entdecke, gefriert mir das Blut in den Adern. Da steht er, weinend. Versteckt hinter der Flagge meines Vaters.
Ich erlebe den schönsten Moment meines Lebens, während er den wohl schlimmsten durchmacht. Ich will nun nur noch eins – dieses Podest verlassen, um bei ihm zu sein. Mein Bruder ist verzweifelt, und das ist wichtiger als jedes olympische Podium.
Kapitel 1
Meine Geschwister
Wie könnte ich meine Familie nicht erwähnen, meine beiden Brüder Brice und Simon, wenn ich versuche, den Ursprung meines sportlichen Werdegangs zu analysieren? Alles führt mich in unsere Kindheit zurück, wenn ich daran denke, wie meine Leidenschaft für den Sport geweckt wurde.
Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, dass alles schon dort entschieden wurde: in dieser freien, glücklichen Kindheit, die uns unsere Eltern boten – mir und meinen Geschwistern Brice als Nesthäkchen