Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner

Ein Leben für Ruanda - Rolf Tanner


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Tonfall hiess. Aber sie hatte ihre Meinung und konnte diese durchsetzen, auch und gerade in männlich dominierten Institutionen wie der katholischen Kirche. Dann, mit 46 Jahren, gab sie ihren Beruf auf, um die Mutter zu pflegen bis zu deren Tod. Deswegen, und auch später wegen ihres ersten Ruanda-Aufenthalts, erlitt Margrit Fuchs beträchtliche Einbussen bei der AHV-Rente; es gab damals noch keine Betreuungsgutscheine. Die Pflege von Kranken und Alten war (und ist auch heute noch vorwiegend) Frauensache, die unentgeltlich zu sein hatte. Staat und Gesellschaft sahen die Gratisarbeit der Frauen für selbstverständlich an. Frauen wie Margrit Fuchs lassen sich von Hindernissen, Schwierigkeiten und Ungerechtigkeit nicht abschrecken. Sie knüpfen das eigene Handeln und Tun nicht an kleinliche Kosten-Nutzen-Rechnungen, um einen möglichst grossen persönlichen Profit aus einem Engagement zu schlagen. Menschen wie Margrit Fuchs sind der Kitt der Solidarität einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft verliert ihre Raison d’Être, wenn sie keine Solidarität mehr kennt.

      Die wenigsten von uns im reichen Norden können sich vorstellen, was extreme Armut heisst. Diskriminierung, Hass und Gewalt fördern Armut, und diese Armut wiederum nährt neue Ungerechtigkeiten. Es ist ein zerstörerischer Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt, weil er sonst sich immer mehr ausbreitet. Wenn sich Flüchtlinge aus Afrika in zerbrechlichen Booten aufmachen, um übers Mittelmeer nach Europa und zu uns zu gelangen, dann sind diese Verzweiflungstaten eine Auswirkung dieses Teufelskreises. Darum ist Entwicklungszusammenarbeit nicht einfach ein Almosengeben. Es ist Interessenpolitik. Globale Solidarität mit dem Süden nützt uns und es nützt dem Süden zugleich.

      Margrit Fuchs erlebte extreme Armut, jeden Tag. Sie leistete Not- und Überlebenshilfe, indem sie Strassen- und Waisenkinder kleidete, ernährte und medizinisch betreuen liess. Doch sie leistete auch Entwicklungshilfe zum Aufbau Ruandas. Sie baute ein Dutzend Schulen und eine Universität, sie unterhielt eine mechanische Werklehrstätte und eine Schneiderei; einer ihrer – unerfüllten – Wünsche war ein Atelier zur Ausbildung junger Mädchen. Die Kinder sollten etwas lernen können. Sie investierte damit in die Zukunft ihres Gastlandes und ihrer zweiten Heimat. Sie fand dabei Unterstützung bei Tausenden von Spendern aus der Schweiz, vor allem aus dem Kanton Aargau. Die offizielle Schweiz kommt mittlerweile der UNO-Vorgabe, 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Süden bereitzustellen, recht nahe und hat ihren Anteil seit 2000 mehr als verdoppelt. Doch bei den Diskussionen um die Entwicklungszusammenarbeit geht oft vergessen, dass es neben der öffentlich-staatlichen Entwicklungshilfe von 2,4 Milliarden Franken (2015) auch eine private gibt. Und die Schweizerinnen und Schweizer sind entgegen dem, was gelegentlich gesagt und geschrieben wird, sehr spendenfreudig: 2015 gaben sie 1,8 Milliarden Franken an private Hilfswerke, und dieser Betrag ist seit 2006 kontinuierlich gestiegen. Das ist ein beeindruckender Akt der Solidarität mit den Bedürftigen dieser Welt.

      Gut ausgebildete Kinder und Jugendliche können, wenn sie ins Erwerbsleben eintreten, ihr wirtschaftliches Schicksal besser in die eigenen Hände nehmen. Das schafft Vertrauen und Selbstständigkeit. Wer seinen Lebensunterhalt unter würdigen Umständen bestreiten kann, ist weniger anfällig für Hassprediger und Ideologen aller Art. Wer auf eigenen Füssen steht und die eigene Familie versorgen kann, fühlt sich sicherer. Wer sicherer ist, hat weniger das Bedürfnis, auf andere herunterzuschauen, sie herunterzumachen, bloss, weil sie eine Minderheit sind. Und wer Diskriminierung ablehnt, der schätzt die Menschenrechte. Frieden und Sicherheit, Menschenrechte und Entwicklung bedingen und bestärken sich gegenseitig. Mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement hat Margrit Fuchs ganz direkt zu dieser Stärkung in Ruanda beigetragen.

      Wenige Tage vor ihrem Tod bin ich ihr ein zweites Mal begegnet. Als Bundespräsidentin war ich auf Staatsbesuch in Ruanda. Bei dieser Gelegenheit gab es einen Empfang für die kleine Schweizer Gemeinde des Landes in der DEZA-Mission in Kigali. Einmal mehr war ich beeindruckt von ihrem Tatendrang und ihrer Energie. Margrit Fuchs war inzwischen 90 Jahre alt, aber ihre Schaffenskraft für die Verbesserung des Loses der Bevölkerung, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, war weiterhin ungebrochen. Und dann kam, eine Woche später, die Nachricht von ihrem Unfalltod. Das hat mich seinerzeit sehr betroffen gemacht.

      Es ist deshalb passend, dass jetzt eine Biografie erscheint. Ihre charismatische Persönlichkeit, ihr spannendes Leben und ihr aussergewöhnliches Wirken sind inspirierend!

      Genf, im Juni 2017

      Vorwort

      Margrit Fuchs war eine bescheidene Frau. Um ihre Person machte sie kein Aufheben, und es ging ihr bei dem, was sie machte, immer um die Sache. Diese Sache war die Hilfe für die Armen, die Bedürftigen, die Kinder. Insofern ist es vorstellbar, dass ihr eine Biografie über sich peinlich gewesen wäre. Ich habe mich deshalb in den vergangenen zweieinhalb Jahren immer wieder gefragt, ob mein Vorhaben, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, ihr, ihrem Werk und insbesondere ihrem Geist gerecht wird. Doch bin ich zum Schluss gekommen, dass es viele gute Gründe gibt, das Leben von Margrit Fuchs in einer Biografie zu erzählen.

      Da ist einmal die Tatsache, dass Margrit auch zehn Jahre nach ihrem Tod noch eine öffentliche Person ist, bekannt durch die Spendenaktionen in der Aargauer Zeitung. Ein weiterer Grund ist, dass sie bis ins hohe Alter aktiv und engagiert blieb. Sie bewies eindrücklich, dass man nie zu alt ist, um etwas anzupacken und sein Leben selbst zu gestalten. Ein dritter Grund dafür waren Margrits Mut und Stärke. Mutig war, dass sie sich nach einer Sinn- und Lebenskrise entschloss, eine neue Herausforderung im Ausland anzunehmen. Mutig war, nach dem Völkermord nach Ruanda zurückzukehren, ungeachtet der Gefahr für Leib und Leben. Mutig war schliesslich, dass sie immer weitermachte und trotz Rückschlägen nicht aufgab. Und sie war eine starke Frau, weil sie sich nie unterkriegen liess. In einem konservativen katholischen Milieu, in dem weibliche Unterordnung unter männliche Autorität «normal» war, fand sie ihren eigenen Weg. Dabei war sie keine Rebellin. Statt Konfrontation zu suchen, setzte sie ihre Intelligenz, ihre Warmherzigkeit, ihre Leutseligkeit und ihren Humor ein. Sie konnte damit Gegensätze überbrücken und sich den Respekt verschaffen sowie die Unterstützung von Vorgesetzten und Behördenmitgliedern gewinnen, mit denen sie zusammenarbeitete und auf die sie für die Verwirklichung ihrer Projekte angewiesen war.

      Und zum Schluss: Margrit Fuchs war meine Taufpatin. Wir hatten ein gutes, wenn auch kein enges Verhältnis. Doch ihr Leben in einem für mich exotischen Land hat mich als Jugendlicher immer fasziniert. Sprach sie in mir ein nie gelebtes Fernweh an? Später, als ich erwachsen wurde, kam zur Faszination der Respekt vor ihrer Lebensleistung. Schon früh hatte ich die Idee, dieses Buch zu schreiben, aber erst 2014 wagte ich den Schritt. Alle diese Gründe haben mich in meinem Entschluss bekräftigt, diese Biografie zu Ende zu führen. Ich denke, das spezielle Leben der Margrit Fuchs verdient es, festgehalten zu werden.

      Das Leben eines Menschen zu schildern, ist immer eine Herausforderung, besonders wenn diese Person verstorben ist und nicht mehr direkt befragt werden kann. Biografien können kein Leben vollständig wiedergeben; sie können bloss ein Auszug davon sein. Vieles, was einen bestimmten Menschen ausmacht, bleibt im Verborgenen. Und selbst wenn er oder sie sich dazu einmal gegenüber Dritten äussert, geht es oft verloren, weil letztere es nicht festhalten, sei es aus Vergesslichkeit, Desinteresse, vielleicht auch aus Verlegenheit. Die Biografie eines Verstorbenen oder einer Verstorbenen stützt sich notgedrungen auf das, was vorhanden ist: schriftliche Dokumente, mündliche Zeugnisse, Fotografien und Filme, Gegenstände. Doch gibt es Grenzen, was aus einer Quelle herausgelesen werden kann: Schriftliche Dokumente zum Beispiel sind oft unvollkommen beziehungsweise in einem bestimmten Zusammenhang entstanden und können ohne Kenntnis dieses Zusammenhangs gar nicht richtig gelesen werden. Im besseren Fall bleibt uns das Dokument dann unverständlich, im schlimmeren Fall interpretieren wir es falsch. Der Biograf könnte versuchen, Wissenslücken oder Widersprüche durch Erfundenes – Dichtung – zu überbrücken und aufzufüllen. Doch selbst wenn er dieser Versuchung widersteht und nur wiedergibt, was er durch «Fakten» belegen kann, wird er dennoch zum Dichter. Denn jede Interpretation von etwas ist ein Stück weit auch Dichtung. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat denn auch von Biografien als von «Konstruktionen von Leben» gesprochen. Die Biografie zeigt nie das «ganze» oder «wahre» Leben ihrer Protagonistin oder ihres Protagonisten. Man kann sich fragen, ob eine Biografie wirklich auch das «ganze» Leben eines Menschen aufzeigen soll oder nicht. Die meisten Leserinnen und


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