Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner
und Alte, bedeutete dies vor allem Heimarbeit. Die Seidenbandweberei, die sogenannte Heimposamenterei, stand im Vordergrund. Die Basler Seidenindustrie und die Strohfabriken im Freiamt waren Hauptauftraggeber für Seidenbänder und -schleifen. Die Nachfrage war beträchtlich: Denn es war eine Zeit, da gingen die Damen der besseren Gesellschaft in den Städten nicht ohne Hut auf die Strasse – und im Sommer war ein Strohhut allemal leichter und bequemer als ein Exemplar aus dicken Stoffen, umhüllt mit schwerem Tüll. Aber auch auf dem Land trugen viele Frauen Kopfbedeckungen, schon von der Tradition her – der Strohhut ist bis heute Bestandteil vieler Trachten. Seidenbänder schmückten all diese Kopfbedeckungen. Doch auch anderswo wurden Seidenbänder benötigt, für Trauer- oder Lorbeerkränze etwa. So sehr allerdings die Heimposamenterei bäuerlichen Familien ein zusätzliches Einkommen verschaffte – die Ansätze waren oft sehr niedrig, und die Seidenbandweberei war für schlechte Bezahlung berüchtigt. Die Armut liess sich mit der Heimarbeit nur mildern, keineswegs beseitigen.
Der Hornusser Gemeinderat führte um die Jahrhundertwende kaum eine Sitzung durch, bei der nicht die Versorgung von Witwen, Waisen und Armengenössigen die Haupttraktanden gebildet hätten. Die Armut schlug sich in den Finanzen der Kommunen nieder; sie waren ebenso arm wie ihre Bewohner: Die Einkünfte aus Gemeindesteuern betrugen etwa in Gipf-Oberfrick im Jahr 1900 ganze 5000 Franken – auch unter Berücksichtigung der Geldentwertung schon damals ein geringer Betrag für eine Gemeinde. Vielen Bewohnern des oberen Fricktals blieb keine andere Wahl, als ihr Glück anderswo zu suchen. In Hornussen wanderten zwischen 1850 und 1867 fast zehn Prozent der Bevölkerung nach Nord- und Südamerika aus, und auch in Gipf-Oberfrick suchten Bedrängte eine zweite Chance in Amerika und Australien, von den Behörden oft mit Zuschüssen an die Reisekosten unterstützt. Denn es war für die Gemeinden einfach günstiger, einmal einen etwas höheren Betrag für die Auswanderung auszurichten, als über Jahre hinweg für die gleichen Armen immer wieder finanzielle Unterstützung tätigen zu müssen. Die meisten Auswanderer aus dem Fricktal zog es aber nicht nach Übersee, sondern in die aufstrebenden Industriestädte des nahen Auslands, der Schweiz und des Aargaus. Zwischen 1850 und 1900 ging die Bevölkerung in einigen Gemeinden des oberen Fricktals als Folge von Abwanderung um bis zu 40 Prozent zurück – trotz gleichzeitigen Geburtenüberschusses. Erst ab den 1920er- und 1930er-Jahren des 20. Jahrhundert kehrte der Trend, und die Anzahl der Einwohner nahm wieder zu, wenn auch vorerst nur langsam. Zum Vergleich: Dank der Industrialisierung verdoppelte sich die Bevölkerung der Region Brugg-Windisch zwischen 1837 und 1941.
Doch nicht nur die wirtschaftliche Not war gross. Das Leben war allgemein hart und entbehrungsreich. Zwar wurden grosse Fortschritte in Medizin und Hygiene gemacht. Doch betrug im Jahr 1900 die Lebenserwartung einer in der Schweiz geborenen Frau immer noch höchstens 60 Jahre, ein Mann musste sich mit weniger als 55 Jahren begnügen. Das war allerdings nur ein statistischer Wert – was die Lebenserwartung drückte, war die nach wie vor hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit. Für die Frauen blieben Geburten trotz aller medizinischen Fortschritte ein Risiko. Die Hausgeburt war die Regel, und wenn es Komplikationen gab, musste der Arzt von weit her gerufen werden – was in der Praxis oft hiess, dass er zu spät kam. Ein Transport ins Spital war meist nicht möglich, was den Tod der Mutter und auch des neugeborenen Kindes mit sich brachte. Die sozialen Konventionen und Erwartungen waren rigid, die Geschlechterrollen in der bäuerlichen Gesellschaft klar verteilt und fixiert. Ein junger Witwer mit Kindern war meist bestrebt, so schnell wie möglich wieder zu heiraten, damit eine Frau und vor allem eine (Ersatz-)Mutter ins Haus kam. Auch junge Witwen wollten wieder unter die Haube, freilich aus anderen Gründen: Hatten sie Kinder zu betreuen, drohte ihnen häufig ein Abgleiten in die Armut, und damit stieg die Gefahr, dass ihnen die Kinder entzogen wurden. Das Verding- und Vormundschaftswesen war gerade in einer Umbruchphase: Traditionell oblag die Betreuung von Halb- und Vollwaisen der erweiterten Grossfamilie. Doch nun ging diese Aufgabe zusehends auf den Staat über. Alleinerziehung war für Mütter nur bei wirklich guten wirtschaftlichen Verhältnissen eine Option. Eine Wiederverheiratung bot die beste Gewähr, dass eine Mutter mit ihren Kindern zusammenbleiben konnte. Das Praktische stand also vor der Liebe. Die Wiederverheiratung führte oft zu Komplikationen und Konflikten, da zumindest einer der Partner, gelegentlich auch beide Partner Kinder aus früheren Verbindungen mitbrachten. Geheiratet wurde übrigens generell relativ spät, vor allem auf dem Land: Es war keine Seltenheit, dass Braut und Bräutigam schon einiges über 30 waren respektive bereits auf die 40 zugingen.
Über das sittliche und gesellschaftliche Leben wachte damals mit strengem Auge die katholische Kirche. Das Fricktal war erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Schweiz und zum Aargau gekommen. Vorher war es Teil der österreichischen Besitzungen, gewissermassen der letzte verbleibende Rest der ursprünglichen Habsburger Stammlande südlich des Rheins. Da das österreichische Herrscherhaus während der Reformation katholisch geblieben war, hing auch das Fricktal dem alten Glauben an. Durch die Präsenz ihrer Priester in den Dörfern, den noch üblichen täglichen Kirchgang vor der Feldarbeit, die zahlreichen religiösen Rituale und Vorschriften im Alltag und insbesondere die häufigen Feiertage und Heiligenfeste war die Kirche allgegenwärtig im Leben der Menschen – sie war in vielerlei Hinsicht um einiges präsenter als der noch junge schweizerische Bundesstaat. Die Religion und damit die Kirche erhielten zusätzlichen Auftrieb durch Not und Armut; sie spendete Trost und erleichterte die Meisterung des materiell schwierigen Lebens.
Im ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde Religion in vielerlei Hinsicht eine Domäne der Frauen. Zwar war die Kirche als Organisation und Hierarchie, wie der Staat, eine ausgesprochene Männersache: Nur Männer konnten Priester werden, und selbst niedrige kirchliche Aufgaben wie etwa das Ministrieren bei der Messe war ausschliesslich eine Angelegenheit für Knaben. Noch stärker als in den reformierten Teilen der Gesellschaft waren die Geschlechterrollen eindeutig festgelegt, und die Kirche kontrollierte mit besonderem, durchaus diskriminierendem Eifer gewisse Bereiche, so zum Beispiel die Sexualität. «Fehltritte» gegen die rigiden Moralvorstellungen der damaligen Zeit, wie etwa aussereheliche Beziehungen oder vorehelicher Geschlechtsverkehr, wurden bei Frauen viel strenger geahndet als bei Männern. Die Kirche war beileibe keine Emanzipations- und Gleichstellungsbewegung.
Und trotzdem: Kirchliche und religiöse Tugenden wie Frömmigkeit, Barmherzigkeit, Fürsorglichkeit und Nächstenliebe, Demut und Hingabe, aber auch Häuslichkeit, Bescheidenheit, Fleiss und Keuschheit waren stark mit dem Bild von Weiblichkeit und Mütterlichkeit verknüpft. Die alltägliche Erziehung der Kinder war fast ausschliesslich eine Aufgabe der Frauen. Die Bildung eines spezifischen katholischen Milieus (siehe «Kontext: Die katholische Pfarrei St. Nikolaus Brugg», S. 84) förderte eine gefühlsbetonte Frömmigkeit, wie sie im 19. Jahrhundert zum Beispiel in der Herz-Jesu-Bewegung oder im neu belebten Marienkult zum Ausdruck kam. Gerade mit dem Marienkult erhielten die Frauen in der Heiligen Jungfrau ein Vorbild und eine Leitfigur, die im Mittelpunkt katholischer Religiosität stand. Dadurch entstanden aber in Kirche und Religion Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen, die sie sonst in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft kaum hatten. Frauen konnten regelrechte Karrieren machen in den Bereichen soziale Fürsorge, Kranken-, Kinder- und Armenbetreuung, Erziehung und auch in gewissen künstlerischen Richtungen wie etwa im (Chor-)Gesang. Die im 19. Jahrhundert aufkommenden, neuen Frauenkongregationen und -orden mit ausgesprochen praktischer sozialer, pädagogischer und missionarischer Tätigkeit, wie etwa die Ingenbohler oder Menzinger Schwestern, boten Frauen aus allen Schichten Chancen. Man hat in dem Zusammenhang denn auch von einer «Feminisierung» der Religion und des Glaubens im 19. Jahrhundert gesprochen – nicht nur im Fricktal, sondern in der ganzen Schweiz und im übrigen Europa.
Kapitel I
Familie und Geschwister
Margrit Fuchs’ Vorfahren kamen väterlicherseits aus Hornussen, mütterlicherseits aus Gipf-Oberfrick. Margrit stand der Mutter eindeutig näher als dem Vater. Ihre Mutter Ida Wilhelmine Fuchs-Hinden kam als sechstes und jüngstes Kind des Johann Baptist Hinden (1834–1906) und der Katharina Schmid (1841–1915) am 2. April 1880 in Gipf-Oberfrick zur Welt. Wie die meisten Bewohner des Dorfs waren die Hindens Bauern – «Landmänner», wie es nicht ohne Berufs- und Standesstolz in den amtlichen Akten verzeichnet wurde. Ihre Geschwister Maria Josefa, Rosa Katharina, Karl August, Alois Albert und Johann Eduard erlangten