Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner
die Klasse IIc, in der Margrit war, am 1. Juli 1930 von Brugg nach Schindellegi, wanderte über den Etzel, stieg nach Pfäffikon (SZ) hinunter und liess sich per Schiff auf die Insel Ufenau bringen. In der vierten Klasse waren sogar zweitägige Reisen die Regel. Für viele Schülerinnen und Schüler waren solche Schulreisen eigentlich unerschwinglich, und immer wieder gab es welche, die nicht mitkonnten, weil es trotz Zustupf aus der Klassenkasse nicht reichte. Wie erwähnt: Der Besuch der Bezirksschule war eine kostspielige Angelegenheit. Ob Margrit an diesen Schulreisen auch teilnehmen konnte, oder ob sie zu Hause bleiben musste, lässt sich nicht feststellen. Die Ferien verbrachte sie wenigstens zum Teil bei ihrer Tante mütterlicherseits, Maria Josefa, in Stein am Rhein, wo diese zusammen mit ihrem Mann ein Restaurant führte.
Zeitweise gab es vier Gertruden in der Mädchenklasse von Margrit. Der Klassengeist war gut. Gemeinsam beschwerte man sich einmal beim Rektor über die Deutsch- und Geschichtslehrerin, die einen eher rüden Umgangston pflegte – sie sprach zum Beispiel die Mädchen nur mit Nachnamen an –, einzelne Schülerinnen immer wieder hänselte und öffentlich demütigte und überhaupt als ziemlich parteiisch galt. Eine solche Aktion war in einer Zeit, in der in der Schule die Autorität der Lehrer noch sehr hochgehalten wurde, aussergewöhnlich und erforderte einigen Mut. Andere Lehrer dagegen waren Opfer von Streichen und bekamen – meist harmlose – Übernamen zugeteilt. Der Französischlehrer etwa wurde wegen seiner markanten Nase, die an einen Vogelschnabel erinnerte, als «Spatz» veräppelt. 1931 traf die Klasse eine Tragödie, als eine Kameradin starb.
Margrit schloss die Bezirksschule im Frühjahr 1933 ab. Es war eine schwierige Zeit: Die Weltwirtschaftskrise traf die Schweiz wie andere europäische Länder mit grosser Härte. Bei den regelmässigen Elternzusammenkünften der Bezirksschule war die Berufswahl ein wichtiges Thema. Im Frühling 1934 reiste Margrit dann für ein knappes Jahr nach Belgien und setzte ihre Ausbildung fort, und zwar am Ursulinenpensionat im belgischen Vilvoorde. Ob das Zwischenjahr von Anfang an so geplant war oder ob es die Konsequenz einer vergeblichen Stellensuche war, lässt sich nicht schlüssig rekonstruieren. Dass sie diese weitere Ausbildung in Angriff nahm, passt aber dazu, dass die Mutter grossen Wert auf eine gute Ausbildung ihrer Töchter legte. Sprachaufenthalte für Mädchen nach der Schulentlassung waren in städtischen Bevölkerungsschichten zwar keine Seltenheit, wenn auch dieser Sprachaufenthalt zur Erlernung und Verbesserung des Französischen vorwiegend in der Welschschweiz und nicht im Ausland absolviert wurde. Allerdings war Belgien damals ein beliebtes Ziel; in der Erinnerung meiner Mutter begaben sich in den 1930er-Jahren mehrere Mädchen aus Brugg und Umgebung dorthin. In ihrem ersten Brief aus Vilvoorde berichtet Margrit denn auch davon, dass sie ab Basel mit einer ganzen Gruppe von Schweizer Mädchen nach Brüssel gereist sei. Der Vorteil der Ursulinen lag darin, dass sie dem unentgeltlichen Mädchenunterricht verpflichtet waren. Trotzdem: Es wird wohl nicht so selbstverständlich gewesen sein, dass eine Bähnlertochter aus Windisch zur Ausbildung ins ferne Belgien reiste. Angesichts der engen Bindung an die Mutter und die Schwestern war zudem die Trennung wohl auch nicht einfach. Andererseits hatte Margrit hier zum ersten Mal Gelegenheit, den «Duft der grossen, weiten Welt» zu schnuppern. Das war nicht ohne Auswirkungen auf die spätere Ruanda-Auswanderin.
Das Ursulinenkloster im belgischen Vilvoorde nahe Brüssel war 1858 gegründet worden und unterhielt ein angesehenes, auch international anerkanntes Mädcheninternat. Als Margrit in Vilvoorde eintraf, standen Institut und Kloster unter dem energischen Regime der 77-jährigen Mère Eleonore, die seit 1905 als Oberin tatkräftig wirkte. Die Hausordnung des Instituts liest sich sehr streng. Die Mädchen waren gehalten, gehorsam, respektvoll und fleissig zu sein. Es war untersagt, sich nur zu zweit zu unterhalten oder miteinander etwas zu unternehmen. Man wollte verhindern, dass sich Freundinnenpaare bildeten, was als dem Gemeinschaftsgeist abträglich angesehen wurde. Über weite Strecken des Tages war Stillschweigen zu wahren, so etwa beim Gang zur Messe oder während des gemeinschaftlichen Essens. Die Korrespondenz wurde kontrolliert, und Ausgang gab es nur am Sonntag, im Sommer von 9 bis 18 Uhr, im Winter eine Stunde kürzer.
Margrit polierte in Vilvoorde ihr Französisch auf und vervollständigte ihre kaufmännische Ausbildung. Diese als «technische Ausbildung» bezeichnete Unterrichtsform war im Institut sehr populär; Vilvoorde nahm in diesem Bereich unter den Ursulineneinrichtungen in Belgien einen vorderen Platz ein.
Der Briefverkehr zwischen Margrit, ihren Geschwistern und ihrer Mutter, der zum Teil erhalten ist, ist aufschlussreich. Er zeigt etwa das innige Verhältnis, das die Geschwister untereinander hatten, aber auch, dass es am Kapellenweg oft recht lustig zu- und hergegangen sein muss. So endet ein Brief der Mutter vom 1. Januar 1935 mit Grüssen der Schwestern, die sich gegenseitig aufziehen: Anna schreibt, sie habe keine Neuigkeiten, und schliesst dann einen Gruss von «Idda» an, welche das Kuvert anschreibe, und von «Lisely», die bereits ins Bett gegangen sei. Worauf Ida interveniert und mit Bleistift darunter kritzelt: «nein auf der Schäselonge [Chaiselongue]», was Anna aber nicht auf sich sitzen lässt und, da der Platz auf dem Papier immer weniger wird, in zunehmend kleinerer Schrift hinzufügt: «nein auf der Ottomane!» Und eine weitere, nicht identifizierte Handschrift verlängert am Blattrand: «Wir sitzen so fröhlich beisammen wenn Du hier wärest, wären es fünf.» In den Briefen ist Margrits Schalk und Witz allgegenwärtig. Im ersten Brief schildert sie, dass sie im Zug nach Brüssel im Gepäcknetz geschlafen habe: «Das war ein bequemes Schlafen.» Und in einem späteren Brief an Ida bittet sie darin, dass die Mutter ihr Gedichte schicke: «Sage an Mutter ob sie nicht so gut sein wolle und mir die zwei Gedichte die ich auf dem Gubel (wohl anlässlich der ewigen Profess der Cousine Bertha Mettauer) aufgesagt einmal in einen Brief tun wolle.» Und sie fügt augenzwinkernd hinzu: «aber Achtung dass er nicht zu schwer ist». Der Schriftwechsel mit der Mutter ist so liebe- wie respektvoll.
Zuerst gefiel es Margrit gut in Vilvoorde. Ausser ihr besuchte nur eine weitere Schweizerin das Institut, sie sei «ein nettes Ding». Was Margrit auffiel, war vor allem die gute Verpflegung. «Hier in Belgien hat es sehr guten Kaffee, alle Tag Fleisch manchmal zweimal, Kartoffeln und Gemüse. Das Essen gefällt mir also sehr gut. Bald hätte ich noch vergessen dass es jeden Tag Dessert gibt.» Auch mit den Klosterschwestern vertrug sie sich von Anfang an gut. Trotz der strengen Hausordnung empfand sie das Leben als nicht besonders anforderungsreich: «Schaffen müssen wir nicht allzu viel. Wir haben viel freie Zeit.» Sie arbeitete in der Kapelle und erhielt dafür grosses Lob. In der 16-jährigen Louise Marijmissen, einem einfachen, lieben, vielleicht etwas naiven belgischen Mädchen fand sie eine gute Freundin. Sie schloss offenbar auch einige Kontakte mit der lokalen Bevölkerung und kannte die Familie des Vilvoorder Bürgermeisters. In einer undatierten Karte von 1934 schreibt Margrit dann allerdings, dass es «streng» sei. Die Geschwister und die Mutter schrieben zurück, berichteten vom eigenen Alltag und von Ereignissen und Routine in Familie und Nachbarschaft.
Dann kam es zu einer Veränderung. Anfang 1935 verfasste Margrit einen Brief an Ida, konnte ihn aber offenbar nicht abschicken, da sie krank wurde. Das übernahm eine Schwester M. M. Berchmans, die für Margrit eine Art Vertrauensperson geworden war. Diese fügte dem Brief einige persönliche Zeilen bei und erwähnte, dass Margrit seit einiger Zeit sehr schlecht esse. Sie habe versprechen müssen, mehr zu sich zu nehmen, wenn sie bis Juli 1935 am Institut bleiben wolle – offenbar war das der vorgesehene Zeitpunkt, an dem Margrit die Ausbildung abschliessen und in die Schweiz zurückkehren sollte. Schwester Berchmans betonte, sie sehe keinen Anlass zur Sorge. Offenbar durchlebte Margrit eine Krise – oder einen innerlichen Kampf. Die knapp 18-Jährige trug sich ernsthaft mit dem Gedanken, in Vilvoorde ins Kloster einzutreten. Ihre Freundin Louise wurde denn auch Postulantin und trat in den Orden der Ursulinen ein. Wahrscheinlich hatten die Freundinnen die Idee gemeinsam ausgeheckt, wie in einem späteren Schreiben von Louise angedeutet wird. Ob die Unlust zum Essen damit zusammenhing oder vielmehr diesen Gedanken auslöste, lässt sich nicht feststellen. Die beunruhigte Mutter verlangte von Schwester Berchmans, dass Margrit sofort einen Arzt aufsuche. Dieser stellte indes nichts Ernstes fest und meinte, Margrit könne problemlos bis Juli bleiben, wenn sie richtig esse. Er gab ihr ein Stärkungsmittel.
Die Nachrichten aus Belgien müssen zu einem ungünstigen Zeitpunkt am Kapellenweg eingetroffen sein. Anna war nun ernstlich erkrankt. Auch mit dem Vater gab es – einmal mehr – Probleme: Entweder war er krank, oder der Wunsch seiner jüngsten Tochter löste bei ihm einen Tobsuchtsanfall aus – feststellen lässt sich das nicht mehr. Auf alle Fälle wurde Margrit