Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner
Imelda diese Hostie zu sich genommen hatte, starb sie, überglücklich, auf der Stelle. Später wurde sie selig gesprochen, ihr Kult wurde von der Kirche im 19. Jahrhundert anerkannt und sie zur Patronin der Erstkommunikanten erhoben; ihr Leichnam ist angeblich nie verwest. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der praktisch denkenden Margrit, bei aller jugendlichen Schwärmerei, diese fantastische Geschichte besonders Eindruck machte. Auf jeden Fall erwähnt Louise in der späteren Korrespondenz das Thema nicht mehr.
Eher entsprach Margrit das Leben der Schwester Maria Theresia Scherer. Sie war die Mitbegründerin der Ingenbohler Schwestern und eine Pionierin der sozialen, karitativen und pädagogischen Frauenarbeit. Als ein Zürcher Verlag gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Sammlung von Lebensbildern bedeutender Schweizer Persönlichkeiten herausgab, war sie unter Dutzenden Männern die einzige Frau. 1825 im luzernischen Meggen in einfache bäuerliche Verhältnisse geboren, begegnete sie 1844 dem Kapuzinerpater Theodosius Florentini. Dieser genoss damals einen Ruf als Sozial- und Schulreformer. Florentini betrieb zahlreiche Projekte zu Verbesserungen im Kranken-, Armen- und Schulwesen; diese liessen sich aber nur verwirklichen, wenn ihm entsprechend geschultes Personal zur Verfügung stand. Seine Idee war, speziell auf diese Aufgaben zugeschnittene Ordensgemeinschaften von Frauen und Männern einzusetzen. Er gründete deshalb die Menzinger Schwesterngemeinschaft. Als sich diese aber auf ihre Aufgaben im Bereich der Mädchen- und Töchterausbildung konzentrieren wollte, trennte er sich von ihr und rief als neue Kongregation die Ingenbohler Schwestern ins Leben. Eine von Florentinis engsten Mitarbeiterinnen war von Anfang an Schwester Maria Theresia. 1857 wurde sie zur ersten Generaloberin der Ingenbohler Kongregation gewählt und betrieb systematisch deren Aufbau, zuerst in der Schweiz, anschliessend auch im benachbarten Ausland. Als sie 1888 starb, umfasste die Kongregation fast 1700 Schwestern weltweit, 80 Schulen, 28 Waisen- und Erziehungsheime, 25 Kinderheime und -horte, 87 Armenhäuser und 149 Spitäler und Krankenpflegestationen. 1995 wurde sie von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen.
Da ihre Schwester Elisabeth in den Ingenbohler Orden eintrat, dürfte Margrit die Geschichte von Schwester Maria Theresia früh und gut gekannt haben. Die Parallelen zwischen beiden Frauen sind frappant: Beide gaben sich der Hilfe für die Armen, die Kranken und die Waisen hin, mit grösster Selbstverständlichkeit und oft (fast) bis zum Punkt der Selbstaufopferung; beide hatten einen eisernen Willen und konnten sich durchsetzen; beide waren tiefgläubig und sahen in ihrer Aktivität den Tatbeweis der Liebe; beide hatten, wenigstens in ihren Anfängen, einen kirchlichen Mentor, von dem sie sich aber mit der Zeit auch emanzipierten – bei Schwester Maria Theresia war das Theodosius Florentini, bei Margrit Erzbischof André Perraudin. Beide Frauen besassen einen guten Sinn für Humor. In Schwester Maria Theresias umfangreicher Korrespondenz finden sich Wortspiele wie «Sie machen Fortschritte wie ein alter Schuh». Oder, an eine Schwester gewandt, die von einer Sammelreise zurückkehrte: «Im Falle Sie so viel Geld sammeln, dass Sie es von Brunnen bis ins Institut hinauf nicht schleppen können, so telegrafieren Sie in Luzern, damit man Ihnen Pferd und Wagen entgegenschicken kann» – Sätze, die so auch von Margrit hätten geschrieben werden können. Und wie später von Margrit hiess es damals von Schwester Maria Theresia: «Sie galt als Mutter der Waisen.» Nur die Tatsache, dass Margrit schliesslich keinem Orden beitrat, unterschied sie.
Margrit war eine fromme Christin und treue Katholikin, aber keine Frömmlerin. Während Jahrzehnten ging sie jeden Tag in Brugg zur Frühmesse. Und am Sonntag gingen die weiblichen Mitglieder der Familie Fuchs geschlossen in die Kirche zum Gottesdienst. Vater und Bruder scheinen dagegen am religiösen Leben wenig bis gar nicht teilgenommen zu haben; doch das war ein altbekanntes Phänomen: Durch all die Jahre hindurch ziehen sich die Klagen seitens der Kirchenoberen, dass sich die Männer kaum am Pfarreileben beteiligten. Dass die Gebote der Kirche und des Glaubens nicht hinterfragt wurden, war selbstverständlich im katholischen Milieu (siehe «Kontext: Die katholische Pfarrei St. Nikolaus», S. 84). Doch Margrit hatte ihre eigene Meinung zu vielen Dingen. Sie war keine kritische Intellektuelle, aber was sie für gut befand, das befand sie für gut, unabhängig von der Doktrin der Kirche. So wurde in der Festschrift zum Aargauer Katholikentag von 1953 noch davor gewarnt, die Frauen ins berufliche Erwerbsleben zu schicken, da ihnen sonst das Frausein abhandenkomme. Margrit kümmerte diese Gefahr wenig. Ihr Urteil über ihr Erwerbsleben war eindeutig: «Ich liebte meinen Beruf!» Geschiedene waren im katholischen Milieu kaum geduldet und wurden zum grossen Teil wie Aussätzige behandelt. Margrit kümmerte sich nicht um diese Vorbehalte und Vorurteile. Die schwierige Ehe ihrer Mutter vor Augen, hatte sie wohl Verständnis dafür, dass es manchmal sinnvoller ist, sich zu trennen, als einfach weiterzumachen um den Preis der seelischen und oft auch körperlichen Schädigung und Zermürbung der Involvierten. Sie pflegte den Kontakt zu Geschiedenen weiterhin, ob katholisch oder reformiert, und hörte sich ihre Sorgen und die oft vor allem bei Frauen wegen der Scheidung auftretenden psychischen Probleme geduldig an. Und während sie religiöse Erbauungsliteratur las, hatte sie auch eine Affinität zum kirchenkritischen bis kirchenfeindlichen Rainer Maria Rilke, den sie in ihren späteren Rundbriefen aus Afrika immer wieder zitierte. Diese Eigenständigkeit im Urteil koppelte sich mit einer sehr persönlichen und eigenen Beziehung mit Gott – «sie hatte einen eigenen Draht zum Himmel».
Kirchliches Engagement
Margrit war sehr aktiv in der Pfarrei St. Nikolaus in Brugg, welcher die Windischer Katholiken bis in den 1960er-Jahre angeschlossen waren (siehe «Kontext: Die katholische Pfarrei St. Nikolaus», S. 84). Sie engagierte sich vor allem in der Jugendarbeit, über die sie später schrieb: «Noch heute habe ich aus dieser Zeit […] schöne Freundschaften.» Durch ihre humorvolle und unkomplizierte Art fand sie leicht Zugang zu Kindern und Jugendlichen.
Grundlage ihrer kirchlichen Jugendarbeit war die Christenlehre, die sie während mehr als zwei Jahrzehnten erteilte, von Anfang der 1940er- bis Mitte der 1960er-Jahre. Sie erteilte diesen Religionsunterricht den jüngeren Primarschülern; ihr Gegenstand waren biblische Geschichten. Er fand für gewöhnlich am Sonntag nach dem Gottesdienst statt. Dass diese Aufgabe an die erst 25-Jährige übertragen wurde, verdeutlicht die besondere Vertrauensstellung, die sie in der Pfarrgemeinde bereits früh genoss. Nachdem 1965 die Pfarrei St. Marien in Windisch von der Brugger Mutterpfarrei St. Nikolaus abgetrennt und Eugen Vogel Pfarrer von Windisch wurde, führte Margrit die Christenlehre trotzdem in Brugg weiter. Ab Ende der 1960er-Jahre nahm die Beteiligung an der Christenlehre zunehmend ab.
Im Sommer 1942 wurde in Brugg eine Blauring-Sektion gegründet. Anfang der 1930er-Jahre schweizweit als Unterorganisation der Marianischen Kongregation für jüngere Mädchen entstanden, erlebte der Blauring wie andere Jugendorganisationen in dieser Zeit rasch einen beträchtlichen Aufschwung. Sein Zweck war die «Erziehung der Mädchen zu bewusstem katholischen Leben (Christusfrömmigkeit) nach dem Grundsatz: Durch Maria zu Jesus. [Die Blauring-Gruppen] sollen ihre Mitglieder anleiten zu lebendiger Frömmigkeit, selbständigem Denken und froher Hilfsbereitschaft (Pietas, Studium, Actio).» Margrit übernahm eine von zwei Gruppen des Brugger «Blaurings», die Gruppe Agnes, benannt nach der heiligen Agnes, einer mythischen Märtyrerin des vierten Jahrhunderts, Schutzpatronin junger Mädchen. Der Gruppe Agnes gehörte etwa ein Dutzend Mädchen aus Brugg und Windisch an.
Margrit als Kleinkind, vor 1920.
Margrit (vordere Reihe, l.) am Brugger Rutenzug, Ende der 1920-Jahre.
Margrit (r.) bei der Erstkommunion, 1920er-Jahre.
Margrit (1. Bank, r.) in der Bezirksschule, Anfang der 1930er-Jahre.
Ida Fuchs-Hinden, undatiert.