Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner
des Recyclings – wobei das damals noch schön deutsch «Altstoffsammlung» oder «Altwarenwiederverwertung» hiess. Dahinter stand bittere Notwendigkeit angesichts des stockenden Nachschubs aus dem Ausland, nicht etwa ökologisches Bewusstsein. Lebensmittel wurden rationiert, später kam die Verdunkelung in der Nacht dazu. Es waren nervenaufreibende, schwierige Jahre. Umso grösser die Erleichterung, der Jubel, als im Mai 1945 der Krieg in Europa endete. Die Kirchenglocken läuteten, die Menschen tanzten in den Strassen, auch in der Schweiz, die zum Glück einmal mehr verschont geblieben war.
Und dann machte sich die Region auf zum nächsten Aufschwung. Die Wirtschaft florierte schweiz- und weltweit, und das stark industrialisierte Brugg profitierte davon. Die Kabelwerke wurden zum Kern regionaler Wirtschaftspotenz. Die Platzverhältnisse waren für die expandierenden Industriebetriebe oft problematisch. Man wich auf unerschlossene Landreserven aus – in den Brugger Wildischachen, ins benachbarte Birrfeld. Auch ein anderer Engpass machte sich bald bemerkbar: Fach- und Arbeitskräftemangel. Viele Arbeiter wurden aus dem Ausland geholt. 1963 waren 38 Prozent der in Brugg dem Fabrikgesetz unterstellten Arbeitnehmer Fremdarbeiter. In der Spinnerei Kunz wurden immer mehr junge Italienerinnen beschäftigt. Unter der Aufsicht von Nonnen gingen sie an ihrem freien Sonntag an der Reuss spazieren. 1920 hatte der Ausländeranteil in Windisch 7,5 Prozent betragen, bis 1970 kletterte er auf fast 20 Prozent. Die Einwohnerzahlen in der Stadt und in den umliegenden Gemeinden schnellten nochmals in die Höhe. Brugg, das nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 5500 Einwohner zählte, wies 1970 9000 aus; Windisch erlebte eine Zunahme von 4500 (1950) auf 7500 (1970). In Windisch erstellte die Eisenbahner-Genossenschaft Mehrfamilienhäuser am Römerhof beim Amphitheater, und die Georg Fischer AG baute im Bodenacker die charakteristischen Hochhaus-Wohnblöcke, die noch heute die «Skyline» im Westen Bruggs dominieren. Auch sonst wandelten sich die Ortsbilder. Das Gebiet zwischen Eisi und Bahnhof in Brugg wurde zunehmend zu einem modernen Geschäftsviertel ausgebaut, so etwa mit dem 1959 eröffneten Kaufhaus Jelmoli.
Die raschen Veränderungen verlangten nach städtebaulicher Planung. Eine Architektengruppe namens team brugg 2000 wollte das Wachstum der Stadt systematisch angehen, Industrie und Wohngebiete sollten ebenso getrennt werden wie Autoverkehr und Fussgänger. Es war eine Zeit der grossen Würfe: Man erwartete für die Schweiz im Jahre 2000 eine Einwohnerzahl von zehn Millionen; allein im Raum Brugg-Baden-Spreitenbach hätten sich 200 000 Menschen geballt. Seitens der Bevölkerung gab es ein überraschend grosses Echo auf die Pläne des team brugg 2000. Doch dann kam es zum grossen Drama. An einer Gemeindeversammlung gab es heftige Kritik an den Bauordnungsplänen der Stadt. Mitten in der Versammlung brach Stadtammann Arthur Müller zusammen – er starb an einem Herzinfarkt. Die Versammlung musste abgebrochen und neu angesetzt werden. Die Stimmberechtigten folgten dem Stadtrat, und so endeten die Pläne des team brugg 2000 schliesslich im Papierkorb.
Unabhängig davon waren beträchtliche Investitionen in öffentliche Bauten und in die Infrastruktur notwendig. Der Strassenverkehr nahm mit der Massenmotorisierung rapide zu. Er wurde zu einer Belastung für die Altstadt, und es gab erste Pläne für Umfahrungen. Windisch seinerseits expandierte in Richtung Hausen mit einem Siedlungsteppich von Einfamilienhäusern und grossen Wohnblöcken. Windisch gewann auch das Tauziehen mit Brugg um den Standort des neuen Technikums. Vor allem Industrielle, die in einer Zeit der Hochkonjunktur begehrte Fachkräfte binden wollten, wünschten sich das Technikum. Mit der Klostermatte konnte Windisch ein einschlägiges Areal zur Verfügung stellen. 1964 bis 1966 entstanden dort die modernistischen Glaskuben des Technikums mit ihren charakteristischen farbenfrohen Kegelskulpturen, die für einige Jahre zu einem regelrechten Markenzeichen wurden.
1970 war die Region Brugg-Windisch voll im Umbruch und im Aufschwung, wie es der Fall gewesen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie damals herrschten Zukunftsoptimismus und Technikgläubigkeit. Doch wie der Erste Weltkrieg der Euphorie um die Jahrhundertwende ein Ende gesetzt hatte, würgte jetzt die Ölkrise von 1973/74 die Hochkonjunktur ab. Der Umbau von einer Industrie- in eine Informations-und Dienstleistungsgesellschaft begann. Und die Jugendunruhen von 1968 liessen eine soziale Liberalisierung ahnen, die unter zahlreichen Wehen das konservative und oft auch starre Klima der Zwischen- und Nachkriegszeit auflöste. Institutionen wie Wirtschaft, Kirche und Staat mussten sich neu definieren und legitimieren.
Kapitel III
Erwachsenenleben auf der Klosterzelg
Hausgemeinschaft am Kapellenweg
Eine undatierte Schwarz-Weiss-Fotografie aus den 1930er-Jahren zeigt Ida Fuchs mit ihren leiblichen Kindern und Anna an einem sonnigen Tag vor dem Eingang zum Haus am Kapellenweg in Windisch. Sie posieren fürs Familienfoto, allerdings ohne den Vater. In der Mitte sitzt die Mutter, um sie herum die Kinder. Aus den Kleidern zu schliessen, muss es Frühling oder Herbst gewesen sein. Die Mutter blickt etwas nach unten, als ob sie von der Sonne geblendet würde; Margrit, Ida und Elisabeth lächeln, Josef und Anna machen ernste Mienen. Auf einer anderen Fotografie, diesmal ohne Mutter, lachen alle. Josef – Hahn im Korb – geniesst es sichtlich im Kreis seiner Schwestern, Margrit hat ihn sogar untergehakt. Die Töchter der Familie Fuchs haben stattliche Figuren, ziemlich weit weg vom heutigen Schlankheitsideal. Doch es sind hübsche, fröhliche, aufgeweckte junge Frauen, die sich da um ihren Bruder scharen. Anna, die Halbschwester, hebt sich deutlich ab von den anderen. Sie hat dunkleres Haar, einen dunkleren Teint. Auch auf weiteren Fotografien fällt sie sofort auf mit ihrem intensiven, schönen Blick.
Andere Fotografien zeigen die Familie Fuchs auf Ausflügen im ganzen Land – man war offensichtlich unternehmungslustig. Die vergünstigten Fahrkarten des SBB-Angestellten Josef Fuchs mögen da mitgeholfen haben. Doch jetzt, Mitte der 1930er-Jahre, war die Jungmannschaft des Kapellenwegs erwachsen und erwerbstätig, man konnte sich also durchaus auch etwas leisten. Untereinander tauschten sich die Geschwister rege aus, schickten sich gegenseitig Karten von Ausflügen und kleine Briefchen zu Namens-und Geburtstagen. Ida schickt Ostergrüsse aus Genf und Neuenburg, wo sie ihr Welschlandjahr verbrachte. Der Umgangston unter den Schwestern war wie eh und je vertraut und liebevoll, manchmal zärtlich, manchmal aber auch mit dem gewohnten Witz. Adressatin der Schreiben war oft Anna, die mindestens seit Mitte der 1920er-Jahre kränkelte und immer wieder in Kurheime und Sanatorien musste: Amden ob dem Walensee, Wolfhalden im Appenzellischen, dann ab den 1930er-Jahren auch das teurere und höher gelegene Davos, alles bekannte Luftkurorte für Tuberkulosepatienten. In Davos waren es dann schon mehrere Monate, die Anna bleiben musste. Sie erhielt Besuche von einer Freundin, mit der sie sich gemeinsam immer wieder fotografieren liess. Ein Bild aus dem Jahr 1937, fünf Jahre vor ihrem Tod, zeigt sie bereits schwer von der Krankheit gezeichnet: Sie ist erst eine 34-jährige Frau, doch sie geht am Stock, das Gesicht wirkt verhärmt und vorzeitig gealtert. Die einstige Schönheit ist verflogen. Es war wohl nicht ohne Folge für das Leben von Margrit, mitansehen zu müssen, wie ihre 14 Jahre ältere, leidende Halbschwester langsam ihr Lebenslicht verlor. Sie hat vielleicht darum die Korrespondenz mit ihr sorgfältig aufbewahrt.
Auf einer weiteren Fotografie, die wohl ein paar Jahre später entstand, steht die Mutter im Kreis ihrer leiblichen Töchter. Margrit trägt eine Aargauer Tracht – diese taucht in den nächsten Jahren auf Bildern immer wieder auf; sie muss in diesen Jahren ihr Stolz gewesen sein. Sie zeigt vielleicht auch symbolisch Margrits Heimatverbundenheit, die sie später immer wieder an den Tag legte. 1986 schreibt sie in einem Brief an das Organisationskomitee der 100-Jahr-Feier der aargauischen katholischen Landeskirche gewohnt humorig, doch auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, sie sei «überzeugte, ja fanatische Aargauerin». Auch die Tatsache, dass die Mutter immer wieder im Zentrum von Fotografien steht, ist symbolisch. Sie ist es, welche die Familie zusammenhält.
Der Vater dagegen lebte immer mehr sein eigenes Leben. Zumindest zeitweise scheint er gar nicht mehr am Kapellenweg gewohnt zu haben. Anfang der 1930er-Jahre verkaufte er sein Elternhaus in Hornussen, wofür er rund 7000 Franken löste. Mehr als die Hälfte ging für Schuldentilgung drauf, den Rest beschlagnahmte die Gemeinde und legte 1500 Franken zinstragend für die Kinder an. Josef Fuchs verblieben 1800 Franken, die aber für die Begleichung von Schulden gegenüber der Gemeinde ebenfalls zweckgebunden waren. Dass die Gemeinde sich zu einem solch drastischen Schritt entschloss, zeigt, wie kritisch die Situation angesichts seines Alkoholismus inzwischen war. Ob diese Massnahme mit dem Einverständnis seiner Frau