Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner

Ein Leben für Ruanda - Rolf Tanner


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Erlebnisse war es für Ida Fuchs umso wichtiger und dringender, dass ihre Mädchen auf eigenen Beinen stehen konnten und sich nicht von einem Mann abhängig machten.

      Ida und Josef Fuchs zogen nach Windisch. 1905 hatte die Brugger Baufirma Gottlieb Belart1 im Klosterzelgquartier am nachmaligen Kapellenweg 5 eine Parzelle mit einem zweistöckigen Haus bebaut. Auf dem Grundstück stand zudem noch ein Holzschuppen, der als Waschhäuschen diente. 1907 kaufte ein Büroangestellter namens Severin Keller das Haus. 1910 zog die Familie Fuchs als Mieterin in die Wohnung im ersten Stock. Die Nähe der Klosterzelg zum Bahnhof Brugg war der Grund, weshalb sich viele «Bähnler» in dem neu entstehenden Quartier niederliessen und ihm einen speziellen Charakter verliehen. Noch Ende der 1940er-Jahre waren an der Klosterzelg- und Hauserstrasse von 104 Hausbesitzern nicht weniger als 33 SBB-Angestellte. Die Beziehungen des neuen Quartiers zu den alteingesessenen Windischern waren anfänglich nicht ohne Spannungen. Denn die Bewohner der Klosterzelg wünschten einen möglichst raschen Anschluss an die von Brugg betriebene Gasversorgung: Eisenbahner mit unregelmässigen Arbeitszeiten waren darauf angewiesen, bei jeder Tages- und Nachtzeit eine warme Mahlzeit zubereiten zu können. (Koch-)Gas war da eine grosse Erleichterung: Man musste nicht jedes Mal mühsam und zeitaufwendig den Ofen mit Holz oder Kohle einfeuern. Der neu gegründete, kämpferische Quartierverein Klosterzelg-Reutenen stritt für diesen Anschluss und drohte im Falle der Nichterfüllung der Forderung gar mit Sezession nach Brugg hin; 1912/13 kam der Anschluss an die Gasversorgung.

      Die Wohnung im ersten Stock des Hauses am Kapellenweg 5 verfügte über eine Küche, zwei Schlafräume und ein Wohnzimmer. Die Toilette befand sich im Zwischengeschoss und wurde von den Bewohnern beider Stockwerke benutzt. Erst in den 1960er-Jahren baute man in beiden Wohnungen separate Nasszellen ein. Das Haus hat bis heute keine grösseren Umbauten erfahren und befindet sich noch im Originalzustand. Das Waschhäuschen wurde allerdings nach der Anschaffung von Waschmaschinen zu einem gewöhnlichen Geräteschuppen umfunktioniert. Für die wachsende Familie Fuchs müssen die Platzverhältnisse im ersten Stock mit jedem weiteren Kind zunehmend beengend geworden sein. Da eines der Schlafzimmer den Eltern vorbehalten war, mussten sich die vier Mädchen auf den anderen Schlafraum als «ihr» Zimmer beschränken. Der erstgeborene Sohn Josef Fuchs schlief in einer Mansarde im Estrich. Hinzu kam, dass zumindest zeitweise eine Nichte Josef Fuchs’, die uneheliche Tochter Klara Margaretha seiner Schwester Elisabeth, bei ihnen wohnte. Josef Fuchs amtete als Vormund für das Mädchen; allerdings nur zwei Jahre lang. Als Elisabeth schliesslich aus Deutschland zurückkehrte, zog das Mädchen zu seiner Mutter. Möglicherweise brauchte man einfach Platz, nachdem Margrit geboren worden war. Das Pflegekind war eines zu viel.

      Der Hausbesitzer Severin Keller starb 1929 und vererbte das Haus an seinen Bruder, der es aber noch am gleichen Tag an Ida Fuchs verkaufte. Vermutlich waren schon vorher entsprechende Abmachungen getroffen worden. Aussergewöhnlich ist, dass als Käuferin Ida und nicht ihr Ehemann Josef auftrat. Offenbar verfügte sie über ein gewisses Vermögen als separates Frauengut, auf das ihr Mann keinen Zugriff hatte. Dieser war zu dem Zeitpunkt bereits dermassen von Geldsorgen geplagt, dass er nicht in der Lage war, das Haus zu kaufen.

      Anna, die Josef Fuchs als Vierjährige in die Ehe mitgebracht hatte, arbeitete nach der Schulzeit als Büroangestellte. Sie war ihr Leben lang kränklich und starb nur 39-jährig im Februar 1942 an Tuberkulose. Wie alle anderen Mädchen im Haushalt Fuchs wurde sie mit der Verkleinerungsform ihres Namens angesprochen, Anneli. Obwohl Ida Fuchs ihre Stiefmutter war, legte sie grossen Wert darauf, Anna und ihre leiblichen Kindern gleich zu behandeln – was fast so weit ging, dass sie Anna gegenüber den anderen bevorzugte. Dies könnte mit der Kränklichkeit der Stieftochter zu tun gehabt haben. Gerade aus religiöser Sicht sollte Kranken besondere Aufmerksamkeit zukommen; denn als Leidende galten sie als von Gott mit besonderer Gnade ausgestattet. Auch die drei Stiefschwestern nahmen auf Anna immer wieder Rücksicht: Als Elisabeth einmal mit dem Fahrrad stürzte und dabei ihre neuen Strümpfe zerriss, bat sie Margrit, Anna nichts davon zu erzählen, weil diese sonst in ihren Ferien – in denen Anna sich gerade befand – nicht mehr schlafen könne.

      Das erste leibliche Kind von Ida und Josef Fuchs war ein Sohn. Er wurde 1909 geboren und auf den Namen Josef getauft, damit der väterliche Name weitergegeben werden konnte – der erste Sohn mit Namen Josef aus der Ehe mit Josefina Baldesberger, der Bruder der kleinen Anna, war ja ein Jahr nach seiner Geburt gestorben. Nach dem Abschluss der Schulen machte Josef eine Lehre als Schlosser und arbeitete anschliessend als Mechaniker beim damaligen Industriegiganten BBC in Baden. Er heiratete 1942 Maria Hermine Kempten in Wallisellen. Das Paar hatte drei Kinder: Josef, Marianne und Margrit. Die Familie wohnte in Wettingen, zuerst an der Landstrasse, bevor sie 1950 in einen BBC-eigenen Wohnblock umzog. Wie sein Vater war Josef Fuchs nicht immer einfach im Umgang und neigte zu cholerischen Ausbrüchen. Seinen Kindern schenkte er zu Weihnachten jeweils Silva-Bücher zu exotischen Ländern. Diese Bücher waren damals in der Schweiz überaus populär: Auf zahlreichen Verpackungen von Nahrungsmitteln und anderen Gebrauchsgegenständen, die man kaufte, fanden sich Silva-Punkte, die ausgeschnitten und als Beitrag an den Erwerb der Bücher verwendet werden konnten.

      Nach Josef wurde Ida geboren. In einigen späteren Dokumenten taucht die etwas merkwürdige Schreibform «Idda» für ihren Namen auf, und sie unterschrieb manchmal auch so. Sie wird als eine grosse, kräftige Frau und reservierte Person geschildert, die manchmal schon fast verbittert wirkte. Sie arbeitete als Telefonistin beim staatlichen Post- und Telefonmonopolisten PTT, der Vorläuferorganisation der Swisscom, in Luzern. Telefonistinnen waren für damalige Verhältnisse gut bezahlt, und Ida Fuchs machte eine für eine Frau zu jener Zeit beeindruckende Karriere. Ihr bestimmtes und strenges Auftreten trug ihr den Spitznamen «Generalin im Telefonamt» ein; sie bewegte sich «beruflich souverän». Sie stieg schliesslich bis in die Leitung der Telefonbuchredaktion auf. Ida war aber offenbar auch in Handarbeit nicht unbegabt und verfertigte eigenen Weihnachtsbaumschmuck. Sie war die Patin von Josef Fuchs, dem Erstgeborenen ihres Bruders Josefs. Unter der rauen Schale schlug offenbar ein weiches Herz: Ida unterstützte, wenn auch heimlich, ab und zu die Frau ihres Bruders finanziell, da Josef Fuchs mit dem Haushaltsgeld knausrig war. Auch gab es für die Töchter von Josef gelegentlich Ferien bei «Tante Ida». Einmal stellte sie für ihre Nichten ein eindrückliches Programm zusammen, inklusive Fahrten auf dem Vierwaldstättersee. Die Herbheit, die Ida ausstrahlte, mag auch dazu beigetragen haben, dass sie – im Gegensatz zu ihren Schwestern – nicht mit der Verkleinerungsform ihres Namens angesprochen wurde.

      Die 1914 geborene Elisabeth, auch «Liseli» oder «Lisel» genannt, lernte Damenschneiderin. Doch fühlte sie sich zum geistlichen Leben hingezogen und trat in die Gemeinschaft der Ingenbohler Schwestern ein, wo sie den Schwesternnamen Ida-Rosa annahm und 1945 die Profess – das Gelübde beim endgültigen Ordenseintritt – ablegte. Schwester Ida-Rosa wirkte zuerst als Haushaltungslehrerin in Bremgarten und später in gleicher Funktion in Appenzell und Schwyz. 1961 beorderte man sie ins Mutterhaus nach Ingenbohl zurück, wo sie, als gelernte Damenschneiderin, im Nähzimmer des Klosters und später des Generalats2 ihrer Gemeinschaft von grossem Nutzen war. Das Klosterleben war keine aussergewöhnliche Wahl im weiteren Familienkreis der Fuchs-Hinden: Auch eine etwas ältere Cousine mütterlicherseits, Bertha Mettauer, war Kapuzinerin im Kloster Maria Hilf auf dem zugerischen Gubel; sie nannte sich Schwester Mathilde. Und etliche Jahre später vollzog dann eine Nichte mütterlicherseits den Schritt, den Margrit nicht hatte tun können – oder wollen – und wurde Ordensfrau bei den Ursulinen in Belgien, allerdings nicht in Vilvoorde, sondern in St. Trond.

      Elisabeth, oder eben Schwester Ida-Rosa, wird als jene geschildert, die in Wesen und Gemüt ihrer Mutter am meisten glich. Wie letztere, und wie auch Margrit, hatte sie einen sehr guten Sinn für Humor. Nach einem Sturz mit dem Fahrrad, der sie die Strümpfe kostete, schrieb sie in einem augenzwinkernd-feierlichen Ton: «Am 1. Juni 1934 morgens neun Uhr machte Elisabeth Fuchs ihren 1. Sturzflug mit dem Velo in der neuen Strasse.» Und dann, nach dem Fast-Zusammenstoss mit einem Auto: «Ich nahm das Velo, sass auf und fuhr zum Spiess ein paar neue Strümpfe zu holen die [ich] dann gerade dort anzog. Das ist traurig nicht wahr!!!?» Sie hatte auch eine Vorliebe für Anekdoten, Kehrreime und Wortspiele. Dazu muss sie wie Margrit über ein gutes Zahlengedächtnis sowie ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen für Jahrestage und dergleichen verfügt haben. Ihr Neffe erinnert sich, dass sie einmal ihn und seine Frau zum Hochzeitstag anrief und gratulierte. Er selbst habe den Hochzeitstag


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