Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner
deshalb relevant sein, nicht voyeuristisch.
Meine Stellung als Patenkind und die Tatsache, dass ich Margrit Fuchs aus diesem sehr persönlichen Blickwinkel kannte, stellten mich vor die Frage, wie ich diese Biografie schreiben sollte: als subjektiv gehaltenes, von Sympathie geprägtes Lebensbild oder als distanziert-objektives wissenschaftliches Werk, wie mir das meine Ausbildung als Historiker eigentlich nahelegte? Ich entschied mich für eine Art Mittelweg. Einerseits soll dieses Buch das Leben meiner Taufpatin nach wissenschaftlichen Prinzipien und Methoden sowie strikt gestützt auf Quellen dokumentieren. Ich habe also nichts hinzugefügt, das sich nicht irgendwie belegen lässt, und ich habe versucht, alle Fakten, die mir für dieses Leben wichtig scheinen – soweit bekannt – einzubeziehen, auch Fakten, die für Margrit vielleicht weniger schmeichelhaft sind. Wenn ich irgendwo nicht sicher bin, wie die Faktenlage genau ist, erwähne ich das. Andererseits habe ich mich entschlossen, mich selbst nicht auszublenden und mich als Quelle einzubringen beziehungsweise die Lebensbeschreibung durch eigene Erfahrungen anzureichern. Aus diesem Grund eröffne ich diese Biografie mit einem Kapitel zu einem Schlüsselerlebnis, das ich mit meiner Taufpatin hatte: unserer gemeinsamen Reise nach Ruanda. Und auch später trage ich aus meinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen zur Geschichte bei, wo mir das angebracht scheint.
Ein Leben ist nicht nur das Produkt der persönlichen Eigenschaften eines Menschen – seines Charakters, seines Temperaments, seiner Emotionen und seiner eigenen Erfahrungen. Ein Mensch ist immer auch ein Produkt seines Umfelds, mit dem er in ständigem Austausch steht und das er im Gegenzug mit seinen Handlungen (sowie seinen Nichthandlungen) ebenfalls beeinflusst, formt und prägt. Eine Biografie muss deshalb immer auch das Umfeld und die Umwelt der dargestellten Person in Betracht ziehen. Das gilt insbesondere für ein so langes und abwechslungsreiches Leben wie das von Margrit. Ich habe mich deshalb entschieden, zu einzelnen, wichtigen Themen in ihrer Vita «Kontext»-Kapitel einzubauen, die einen bestimmten Aspekt vertiefen. Eilige Leser können auf diese Hintergrundinformationen verzichten, ohne deswegen etwas von Margrits Leben zu verpassen.
Zu einigen formalen Punkten: Das Land Ruanda wird auf Französisch, Englisch und in Kinyarwanda, der Landessprache, als «Rwanda» bezeichnet. Auch im Deutschen findet sich regelmässig diese Schreibweise, und Margrit verwendete sie in ihren Rundschreiben ebenfalls. Ich bevorzuge aber die Schreibweise «Ruanda», da sie eigentlich die korrekte deutsche ist und sich auch phonetisch besser an die Aussprache des Namens in der Landessprache anlehnt. Familiennamen in unserem Sinn kennen Ruander nicht. Sie haben in der Regel einen ruandischen Namen und einen europäischen Namen, wobei dieser in der Regel einem europäisch-christlichen Vornamen entspricht (beziehungsweise einem islamischen Vornamen, wenn es sich um Angehörige der muslimischen Minderheit handelt). Traditionell wird der ruandische dem europäischen Name vorangestellt wird; im Schriftlichen wird er oft mit Grossbuchstaben geschrieben (nach belgischem Vorbild). Da es keine Familiennamen gibt, führen Eheleute wie auch Kinder und Eltern einer Familie unterschiedliche Namen. Diese Gepflogenheiten sind allerdings heute unter Druck. Das hat einerseits mit der internationalen Berichterstattung zu Ruanda tun, welche in der Regel den europäischen Namen im Sinne eines Vornamens und danach den ruandischen Namen im Sinne eines Familiennamens nutzt. Andererseits ist man unter dem Einfluss der englischsprachigen Welt dazu übergegangen, Familiennamen nach unserem Verständnis anzuwenden. Ich orientiere mich an der internationalen Berichterstattung, das heisst, ich stelle den europäischen dem ruandischen Namen voran (letzterer ohne Grossbuchstaben), mache den ruandischen Namen aber nicht zum Familiennamen, das heisst, Eheleute haben ebenso unterschiedliche Namen wie Kindern und Eltern.
2006 führte die ruandische Regierung eine Verwaltungsreform durch; dabei wurden die Namen vieler Orte und Städte mit Ausnahme der Hauptstadt Kigali geändert. Aus diesem Grund sind heutige Karten von Ruanda in Bezug auf Margrits Wirken nicht hilfreich. Ich verwende deshalb die alten Ortsnamen: Gitarama statt Muhanga, Butare statt Huye, Ruhengeri statt Musanze. Zur leichteren Orientierung ist auf Seite 109 eine Karte abgebildet, die den Zustand vor 2006 zeigt. Kongo beziehungsweise die Demokratische Republik Kongo, Ruandas westliches Nachbarland, hiess von 1971 bis 1997 Zaire. Im Text werden beide Bezeichnungen dem Zeitraum gemäss verwendet.
In der Bibliografie befindet sich eine detaillierte Aufstellung der genutzten schriftlichen und mündlichen Quellen. Es gibt einen kleinen schriftlichen Nachlass von Margrit mit Briefen und Karten, dazu ganze Säcke von (allermeist undatierten und unbeschrifteten) Fotos. Dazu kommen weitere unveröffentlichte Quellen- und Dokumentenbestände, so etwa im Archiv der Pfarrei St. Nikolaus in Brugg oder im Archiv von Interteam in Luzern. Aus Ruanda schrieb Margrit zwischen 1970 und 2007 mindestens 170 Rundbriefe. Ich weiss nicht, ob ich alle erfassen konnte. Doch sie sind wohl die ergiebigste Quelle zu Margrits Leben in Ruanda, und ich benutze sie denn auch entsprechend. Ergänzt werden sie durch über 70 Interviews und Gespräche, die ich zwischen Oktober 2013 und Januar 2017 mit Personen führte, die Margrit entweder freundschaftlich oder familiär kannten oder mit ihr in irgendeiner Form zusammengearbeitet hatten. Diese Interviews waren überaus wertvoll für meine Arbeit, und ich bin dankbar für die Freundlichkeit und Bereitschaft so vieler, ihr Wissen mit mir zu teilen und sich Zeit zu nehmen. Es gab bei den Anfragen nur ganz wenige Absagen. Einige der Interviewten wünschten, anonym zu bleiben. Eine Liste der Gespräche findet sich in der Bibliografie.
Das Buch ist dem Frieden, der Freiheit und dem Fortschritt
Ruandas gewidmet.
Zollikerberg, im Juni 2017
Einleitung
Reise nach Ruanda 1979
Margrit Fuchs aus Windisch war meine Taufpatin. Als ich 17 Jahre alt war, im Jahr 1979, lud sie mich auf eine dreiwöchige Reise durch Ruanda ein. Es war ein Geburtstagsgeschenk. Ich kam ins Alter, in dem Patinnen und Paten langsam ihrer Geschenkpflicht entledigt werden, also wollte sie mir wohl mit einem letzten grossen Präsent eine besondere Freude machen. Und das tat sie auch: Eine Afrikareise war damals noch einmalig. In meinem Freundeskreis war noch nie jemand auf dem Schwarzen Kontinent gewesen. Man reiste damals, wenn überhaupt ins Ausland, zum Baden im Sommer nach Italien, Spanien oder ins noch existierende Jugoslawien. Die Wohlhabenderen konnten sich Ferien im teuren Skandinavien leisten oder sogar in den USA. Aber Afrika existierte (noch) nicht auf der touristischen Landkarte. Was ich damals noch nicht wusste: Mit dieser Reise traf meine Taufpatin die letzten Vorbereitungen für ihre definitive Übersiedlung nach Ruanda, die für die Zeit nach ihrer Pensionierung geplant war. Sie wollte mit ihrem künftigen Arbeitgeber, Erzbischof André Perraudin, und anderen Verantwortlichen über ihre neue Aufgabe sprechen. Die Reise war für sie also mehr als nur ein Ferienspass. Sie war für sie eine ganz spezielle Mission.
Wir flogen mit der damaligen belgischen Fluggesellschaft Sabena über Brüssel und Nairobi nach Kigali. Wir blieben zur Akklimatisation einige Tage in Kabgayi und besuchten danach eine Reihe von europäischen Geistlichen und Missionaren. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Visite bei einem korpulenten Ordensgeistlichen aus der Schweiz, der Kette rauchte und dessen blaues Hemd, das sich über den kugelförmigen Bauch spannte, schon voller Brandlöcher war. Denkwürdig war auch ein Besuch bei spanischen Schwestern, die auf der «Crête» eine Kranken- und Missionsstation betrieben. Als «Crête» bezeichnete meine Taufpatin den Gebirgszug von 2500 bis 3000 Meter Höhe, der Ruanda von Norden nach Süden durchzieht und die Wasserscheide zwischen Kongo- und Nilbecken bildet. Nach einer Fahrt von mehreren Stunden auf einer holprigen, ungeteerten Strasse gelangten wir zu den Schwestern, die ihren Auftrag unter sehr einfachen, wenn nicht primitiven Bedingungen erfüllten.
Nach den Besuchen, die uns alle nicht weiter als eine Tagesreise von Kigali wegführten, sahen wir uns auch die Hauptstadt selbst an. Viel in Erinnerung geblieben ist mir davon nicht, ausser dass wir im Hotel Méridien eine Erfrischung zu uns nahmen und dass mir meine Taufpatin eine Moschee zeigte, die mit Geldern des libyschen Diktators Muammar Gaddafi gebaut worden war. Wir statteten auch dem Erzbischof von Kigali einen Höflichkeitsbesuch ab. Dann verbrachten wir ein Wochenende in Kibuye am Kiwu-See im Osten des Landes. Die Reise endete mit einer Safari im Akagera-Nationalpark im Westen des Landes.
Unser Quartier bezogen wir, als eine Art Basislager, im Haus Peter Heizmanns, eines Schweizer Bekannten meiner Taufpatin, der in Kabgayi arbeitete. Es war ein einstöckiges Haus