Ein Leben für Ruanda. Rolf Tanner
ihres Mannes ging.
1934 stellte Josef Fuchs bei der Gemeinde den Antrag auf die Herausgabe des Geldes, das nach dem Hausverkauf für die Kinder blockiert worden war. Er schaltete sogar einen Anwalt ein. Das Gemeinderatsprotokoll hält fest: «Die Angelegenheit wird eingehend besprochen und dabei festgestellt, dass, wenn Fuchs den Betrag erhält, das Geld von ihm restlos in Alkohol umgewandelt wird. Seinen Angehörigen will er alles entziehen.»
Man fand einen Kompromiss: 1000 Franken gingen an die kranke Anna, 500 verblieben dem Vater. Alle Parteien erklärten sich damit – nolens volens – einverstanden. Da der Vater mit seiner Frau und den Kindern unter einem Dach wohnte, muss die Situation belastend gewesen sein. In der Korrespondenz, die Margrit während ihres Belgien-Aufenthalts mit ihren Geschwistern führte, finden sich zwar davon kaum Spuren. Doch ist es naheliegend, dass jedes Kind die gemachten Erfahrungen auf seine eigene Art verarbeitete. Möglicherweise gewann Margrit hier die Stärke, mit der sie später durchs Leben ging. Vielleicht hat die Präsenz eines tyrannischen Vaters auch dazu geführt, dass die Kinder eigentlich erst relativ spät von zu Hause auszogen – obwohl es damals viel üblicher war als heute, dass Kinder bis zur eigenen Heirat den Hausstand mit ihren Eltern teilten.
Josef war der Erste, der ausflog: 1930 verliess er Windisch in Richtung Brugg. Allerdings blieb er nur sehr kurze Zeit und kehrte nach wenigen Monaten zurück. Er absolvierte die Rekrutenschule und diente als Korporal bei der Artillerie. Bis zu seiner Heirat im Jahr 1942 blieb er in Windisch am Kapellenweg angemeldet. Ida, die älteste Schwester, kehrte 1930 nach einem längeren Aufenthalt aus der Westschweiz zurück. Wie ihre Schwestern war sie kirchlich engagiert und sass im Vorstand der Marianischen Kongregation, allerdings nur kurz. 1938 zog sie schliesslich nach Zug und von dort später nach Luzern. Elisabeth arbeitete nach der Schule einige Jahre in ihrem erlernten Beruf als Näherin. Von 1934 bis 1938 war sie Kassierin der Marianischen Kongregation. 1940 trat sie schliesslich bei den Ingenbohler Schwestern ein. Anna meldete sich im November 1932 nach Montana im Wallis ab. Vermutlich war es die Höhenluft, die sie ins Wallis zog. Trotzdem schritt die Krankheit weiter voran und machte weitere, «richtige» Kuraufenthalte nötig. Anna kehrte schliesslich wieder nach Windisch ins Elternhaus zurück, wo sie von ihrer Mutter und den Schwestern Elisabeth und Margrit gepflegt werden konnte.
Es ist auffällig, dass von den fünf Kindern im Haushalt nur eines heiratete und eine Familie gründete: Josef. Die Mädchen blieben alle ledig. Ihre guten Ausbildungen und beruflichen Positionen ermöglichten es ihnen, selbstständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen; sie waren also, im Gegensatz zu vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen jener Zeit, nicht aus wirtschaftlichen Gründen auf die Ehe angewiesen. Doch es stellt sich die Frage, ob es noch weitere Gründe gab, weshalb keine der Töchter eine Familie gründete. Elisabeth trat ins Kloster ein, was eine Ehe ausschloss. Bei Anna mag das frühzeitige Auftreten der Krankheit ein Hinderungsgrund gewesen sein. Doch auch Ida und Margrit verzichteten auf eine Heirat. Die Ehe von Vater und Mutter muss abschreckend gewirkt haben. Das heisst nicht, dass es keine Verehrer und Bewerber gegeben hätte – Margrit hat bestätigt, dass sie «Möglichkeiten» zur Ehe gehabt hätte. Doch sie entschied sich gegen den Schritt. Nachdem 1942 der Bruder als Letzter ausgezogen und Anna im gleichen Jahr verstorben war, war sie – damals 25 Jahre jung – die Letzte, die noch zu Hause wohnte. Die Bindung zur Mutter war eng. Vielleicht hat sie auch aus diesen Gründen auf eine Heirat verzichtet. Und möglicherweise spielte die Religion eine Rolle. Viele Jahre trug Margrit an der linken Hand einen Goldring, der einem Ehering sehr ähnlich sah. Später, in Ruanda, schmückte sie ihn mit einem Goldstück. Nonnen tragen oft einen Ehering, da sie mit Gott beziehungsweise Jesus Christus «verheiratet» sind. Margrit entschied sich letztlich gegen den Eintritt ins Kloster. Doch es ist nicht auszuschliessen, dass sie sich – zumindest in jüngeren Jahren – einer Nonne nicht unähnlich als mit Jesus verheiratet sah, auch wenn sie das so wahrscheinlich nicht gesagt hätte.
Religiöse Prägung
Nach der Rückkehr aus Vilvoorde pflegte Margrit weiterhin Briefkontakt mit ihren Bekannten in Belgien, vor allem mit Schwester Berchmans und Louise Marijmissen. Beide berichten ausführlich über das religiöse Leben in Vilvoorde und machen kein Geheimnis daraus, dass sie sich einen nachträglichen Eintritt von Margrit in den Orden wünschen. Louise fantasiert, wie das doch wäre, wenn sie gemeinsam die Ausbildung zur Nonne durchlaufen könnten. Sie schildert das Leben in der religiösen Gemeinschaft, berichtet von der Freude und dem Stolz, zum ersten Mal das Kleid der Ursulinen, Habitat genannt, zu tragen, bezeugt die Liebe der älteren Schwestern für die Postulantinnen und Novizinnen und wünscht sich, dass Margrit so viel wie möglich für sie betet – sie werde es umgekehrt auch tun. Allerdings schreibt sie auch in aller Unschuld, dass sie manchmal von anderen Schwestern gehänselt und ausgelacht werde, was einen gewissen Kontrapunkt zum ansonsten offenbar glücklichen Leben hinter Klostermauern setzt. Schwester Berchmans dagegen erkundigt sich vor allem nach Margrits Befinden, erwähnt die Weihen junger Frauen, die Margrit während ihres Aufenthalts in Vilvoorde kennengelernt hat, zu vollwertigen Ursulinen und tönt immer wieder an, wie gut man sie in Belgien brauchen könnte. Und anschliessend an die Schilderung der Aufnahme von drei Postulantinnen im Frühjahr 1936 fragt sie: «Voudriez-vous faire le no. 4 ?» Immer wieder taucht in den Briefen die Frage auf, ob sie den Willen Gottes für sich kenne: «Est-ce que vous soyez bien tous les jours pour savoir ce que le Bon Dieu veut de vous ?» Beide, Schwester Berchmans und Louise, waren sich einig, dass keine der im Institut neu angekommenen Schweizer Schülerinnen das Format von Margrit hatte.
Anfang 1936 gab es Pläne, dass Margrit im Sommer nach Vilvoorde auf Besuch gehen sollte. Doch die Mutter intervenierte schliesslich mit Hinweis auf den eben in Spanien ausgebrochenen Bürgerkrieg, die Reise sei zu gefährlich. Louise äusserte weiterhin die Hoffnung, Margrit werde doch noch einmal nach Vilvoorde kommen. Im Jahr, in dem Margrit 20 Jahre alt und damit volljährig wurde, schrieb ihr Louise, sie wünsche sich inständig, Margrit könne nun die Mutter überzeugen, die Reise zu gestatten. Louise anerbot sich in ihrer kindlichen Art sogar, Deutsch zu lernen, um an die Mutter zu schreiben! Doch wieder wurde nichts daraus. Margrit bot nun Louise an, sie solle sie doch zusammen mit ihrer eigenen Mutter in der Schweiz besuchen kommen. Doch das wiederum lehnte Louise ab.
Der Briefkontakt wurde seltener. Louise schwor, sie werde Margrit nie vergessen und ihr immer treu sein. Ein letztes vorhandenes Schreiben stammt aus dem Januar 1942, in welchem Schwester Berchmans darüber berichtet, dass Louise nun Schwester Virginie sei. Daneben dominieren aber die Schilderungen über die schwierige Situation im von Deutschen besetzten Belgien. Es herrschte mittlerweile Krieg. Die Ursulinen hatten beim Ausbruch der Kämpfe im Mai 1940 das Institut verlassen, waren aber danach relativ schnell zurückgekehrt – zum Glück unversehrt. Versorgungsschwierigkeiten bestimmten den Alltag. Auswärtige Pensionärinnen konnten nicht mehr aufgenommen werden. Alle Schülerinnen aus der Schweiz waren im Herbst 1939 evakuiert worden, zuerst mit dem Autobus nach Paris, von dort mit der Eisenbahn in die Heimat. Für die Bedürftigen und Kriegsgeschädigten hatten die Ordensfrauen eine Suppenküche eingerichtet. Schwester Berchmans hoffte und betete, dass im Januar 1943 endlich Frieden einkehre und die Schweiz weiterhin vom Krieg verschont bleibe. Sie musste sich noch zwei weitere Jahre gedulden. Wenn auch der Kloster- und Ordenseintritt für Margrit offenbar an Bedeutung verlor, blieb das Thema mit dem Eintritt der Schwester Elisabeth bei den Ingenbohler Schwestern und der Cousine Bertha Mettauer doch präsent.
Margrit las religiöse Erbauungsliteratur, wie sie damals unter frommen Katholikinnen weit verbreitet war, später auch die historischen Romane des ungarisch-britischen Schriftstellers Louis de Wohl. Sie schilderten auf moderne Art das Leben von Heiligen und christlichen Helden. Vor allem religiöse Frauengestalten hatten es Margrit angetan – allerdings eine besondere Art: nämlich solche, die sozial und karitativ tätig waren. Mit vergeistigten Mystikerinnen und Wundertäterinnen konnte Margrit wenig anfangen. Louise schreibt ihr einmal, sie erwäge als Schwesternnamen entweder Virginie nach ihrer eigenen Mutter oder Imelda, da ihr die selige Imelda besonders Eindruck mache. Margrit zeigte Interesse, sodass sich Louise anerbot, Literatur zur seligen Imelda herauszusuchen. Der Imelda-Kult hatte damals in Belgien eine gewisse Verbreitung. Die Heiligenlegende geht auf das 14. Jahrhundert zurück. Imelda war ein Mädchen aus einer adeligen italienischen Familie, das schon sehr früh die Kommunion zu sich nehmen wollte, was man ihr aber mit dem Hinweis