Vom Lieben und vom Sterben. Bertram Dickerhof
ganzes Vorhaben! Wieso beziehen die Frauen ihn nicht in ihre Vorkehrungen ein?
Als mein Bruder in der Ferne gestorben war, wollte ich den Toten unbedingt vor seiner Beisetzung sehen und Abschied nehmen. Ein leichter Gang war das dennoch nicht. Neben der Liebe war da auch tiefer Schmerz. Der Verlust tat so weh! Die Aussicht war schlimm, nun alleine weitergehen zu müssen, ohne seine Begleitung und sein Verständnis. Ich fühlte mich einsam und leer. So in etwa wird auch den Frauen das Wiedersehen mit dem Leichnam Jesu nicht leichtfallen, und der Verschlussstein steht für ihren Widerstand dagegen und die Kraft, die seine Überwindung kostet: vielleicht mehr, als sie aufbringen können. Diesen Widerstand schieben die Frauen gerade nicht weg, er ist ihnen bewusst, sie sprechen davon und halten ihn aus. Sie gehen ihren Weg, doch gehen sie ihn mit der Frage, wer ihnen hilft, ins Grab hineinzukommen, d. h., sie gehen ihn im Bewusstsein ihres Widerstandes.
Doch dann, am Grab, ist alles anders als gedacht: Die Sonne geht gerade auf und ein frischer Tag bricht an. Der Verschlussstein und damit die Last, die auf ihnen lag, ist weg. In ihnen breitet sich eine gewisse Leichtigkeit aus, durch die sie sich öffnen. Das aufgegangene Grab wirkt nun geradezu wie eine Einladung, hineinzugehen. Drinnen erblicken sie als Erstes einen jungen Mann in weißem Gewand und erschrecken. „Hier ist Göttliches am Werk“, will die Geschichte uns vermitteln: Alles atmet Neubeginn, Reinheit, Zukunft, ist faszinierend und gleichzeitig erschreckend, das typische Erleben, wenn Menschen dem Göttlichen begegnen:13 Rudolf Otto hat in seinem Klassiker14 das Heilige als „Fascinosum et Tremendum“, als faszinierend und erschreckend beschrieben. Einladung, Anziehung und Erschrecken charakterisieren das Erleben der Frauen, und ihnen geht auf: Jesus ist auferstanden; er ist nicht hier. Das ist keine Fantasie, keine Einbildung, kein Ergebnis eines schlussfolgernden Denkens. „Auferstehung“ wird ihnen mitgeteilt in einem göttlichen Einfall, den sie empfangen können, weil sie offen sind. Die aufgehende Sonne, der Tag, der neu anbricht, der junge Mann im weißen Gewand – all das beschreibt das innere Milieu der Frauen, in dem sie fasziniert und ins Tiefste getroffen die Botschaft von der Auferstehung Jesu erhalten. Eine Erfahrung dieser Art ist Menschen nicht unbekannt. Zum Beispiel beschreibt Ignatius von Loyola sie in seinen Geistlichen Übungen als beste Möglichkeit einer „heilen und guten Wahl“. Diese ist dann gegeben, „wenn Gott, unser Herr, den Willen so bewegt und an sich zieht, dass eine Ihm ergebene Seele, ohne zu zweifeln oder auch nur zweifeln zu können, dem folgt, was ihr gezeigt worden ist.“15 Der „Seele“, die offen und empfänglich ist, widerfährt etwas. Sie wird „bewegt“ und „gezogen“, und zwar zu Gott, d. h. ist erfüllt von dem Glück, das sie ersehnt. Ihr wird etwas „gezeigt“, und dem folgt sie. Sie hat verstanden. Sie zweifelt nicht daran, ja, sie kann es gar nicht. Sie ist pure Einsicht und Zustimmung. Etwas in der Art werden auch die markinischen Frauen erleben. Durch die Art und Weise, wie die Idee der Auferstehung sich ihnen vermittelt, ist ihnen unmittelbar klar: Jesus gehört zur Sphäre des Himmels, er lebt bei Gott, er ist in das Göttliche eingegangen.
Doch damit ist der innere Weg der Frauen noch nicht zu Ende. Die Idee der Auferstehung, die zunächst in Spannung steht zu ihrer Alltagswirklichkeit, trachtet danach, integriert und damit in der Welt fruchtbar zu werden. Als Erstes können sie nun sehen, dass das Grab leer ist, dass der Leichnam Jesu nicht dort ist, wo er sein sollte. Das ist mehr als irritierend: Wie kann der Leichnam des Menschen Jesus plötzlich weg sein? Natürlich, weil er auferstanden ist. Es passt alles zusammen. Doch diese Ungeheuerlichkeit der Auferstehung drängt die Frage auf: Wer war der Jesus, mit dem nun derart Unerhörtes geschieht, wirklich? Kann das Bild denn stimmen, das die Jüngerinnen und Jünger sich aus ihren Erlebnissen mit ihm gemacht hatten? Oder waren ihre Deutungen zu kurz gegriffen, Werk ihrer eingeschränkten Sicht? Sollte Gott, der Jesus am Ende aus dem Tod in seine Herrlichkeit auferweckt, schon in Jesu irdischem Leben in einer bisher unvorstellbaren Weise „da“ gewesen sein? Ihrem bisherigen Verständnis von Jesus, vom Ende der Toten im Schattenreich der Scheol, von Gott, den keiner geschaut hat und den sie doch in Jesus hätten sehen können, wenn sie nicht so blind gewesen wären …, wird der Boden weggezogen. Sie hatten die Welt, wie sie sie zu sehen gewohnt waren, selbstverständlich für die Wirklichkeit gehalten und merken nun, dass sie ihre Welt ist, ein Bild der Wirklichkeit, das sie sich gemacht haben. Der mittelalterliche Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) sieht in diesem Aufwachen eine Erkenntnis unseres Erkennens: „Was auch immer wahrgenommen wird, es wird auf die Weise des Wahrnehmenden wahrgenommen.“16 In der Tat werden Sinneseindrücke vielfach be- und verarbeitet – physiologisch, unbewusst, bewusst –, bis sie Baustein der Welt eines Menschen werden. Was ihm zu fremd ist, dafür hat er gar keinen Sensus, was ihn nicht interessiert, fällt raus, was ihm zu bedrohlich erscheint, verdrängt er; in Beziehungen überträgt er alte Beziehungserfahrungen und verkennt dabei die Person, mit der er hier und jetzt zu tun hat. Die Lücken seiner Welt schließt er durch Assoziationen und Verallgemeinerungen.17 Unpassendes versucht er an seine gewohnte Welt anzupassen – die sich dabei verändert in dem Maße, wie er sich durch das Unpassende stören lässt.
Dass also die Jüngerinnen und Jünger Jesus in ihrem Bild von ihm verkannt haben, stellt nun sie selbst in Frage. Kein Wunder also, dass die Frauen von Schrecken und Entsetzen gepackt vom Grab fliehen. Doch nehmen sie als Aufgabe mit, nach Galiläa zu gehen, wo sie neu auf ihre Erlebnisse mit Jesus zurückblicken können in der Hoffnung, dass sie ihn dort sehen werden, wie er es gesagt hat. Dies alles den Aposteln mitzuteilen, fürchten sie sich. Durch die Infragestellung ihres Welt- und Selbstverständnisses drohen sie, wie in einen Abgrund zu stürzen. Sie können nicht sprechen. Doch in Galiläa sollen sie ein neues, bleibendes Lebensfundament erhalten. Galiläa, wo alles angefangen hat. Galiläa, wo viele Orte mit Erinnerungen an das Wirken Jesu verbunden sind. Dorthin zu gehen ist die Chance, ihre damaligen Begegnungen mit Jesus nun im Licht der Auferstehungsbotschaft neu zu verstehen, eine Aufgabe, die sich allen Zeitgenossen Jesu stellt: Auch wenn wir früher Christus dem Fleische nach gekannt haben, jetzt kennen wir ihn nicht mehr so. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2 Kor 5,16f). Die Perspektive ist wahrhaft ungeheuerlich. Sie ist das Ende der Welt, in der sie bisher so selbstverständlich gelebt haben, in der Gott und Mensch, Gerechter und Sünder, Tod und Leben fein auseinandersortiert waren. In der neuen Welt wohnt Gott, der geheimnisvolle Grund aller Wirklichkeit, allem inne und ist damit allem näher und innerlicher, als es je sich selbst sein kann. Allen Gegensätzen widerfährt Gerechtigkeit, sie werden gewürdigt und doch in Barmherzigkeit miteinander versöhnt. Das Leben lernt schon jetzt eine Erfüllung kennen, die bleibt und zunimmt.
Halten wir einen Moment inne, um ein erstes Fazit aus unserem markinischen Osterevangelium zu ziehen: Die Idee „Auferstehung“ ist nichts, was der menschliche Verstand logisch erschließen oder sich in irgendeiner Weise ausdenken könnte. „Auferstehung“ ist eine vollkommen neue Möglichkeit, die mitgeteilt und empfangen werden muss. Das leere Grab Jesu wird zu einem dreifachen Symbol: Als Grab bezeichnet es zum einen die Grenze, die die Wirklichkeit dem Leben setzt: dem leiblichen Leben und immer wieder auch dem Leben, wie wir es uns vorstellen und wünschen. Wir stoßen an diese Grenze am Ende in unserem Sterben und während unseres Lebens in Enttäuschungen und Verlusten aller Art, in der Konkretheit einer geschichtlichen Situation, in der wir uns vorfinden, ob sie uns gefällt oder nicht. Aber gerade im Hineingehen in die Grenzsituation, im Annehmen der mit ihr verbundenen Gefühle, wie die Frauen das tun, wird das Grab Jesu, zweitens, zum Ort des Aufgehens göttlichen Lebens und göttlicher Wirklichkeit und zum Symbol einer beginnenden Verwandlung: Diese lässt das bisherige Selbst- und Weltverständnis zusammenbrechen. Das leere Grab wird so, drittens, auch zur Chiffre für das Sterben der eigenen Welt- und Selbstkonstruktionen.
Werfen wir noch einen Blick darauf, wie Matthäus und Lukas, die beide das markinische Osterevangelium verarbeiten, mit ihrer Vorlage umgehen: Matthäus macht aus dem jungen Mann im weißen Gewand gleich einen Engel. Seine Frauen sind nicht nur voll Furcht, sondern auch voll großer Freude. Anders als die markinischen Frauen eilen [sie] zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft auszurichten. Auf dem Weg kommt ihnen Jesus entgegen. Sie gingen auf ihn zu, warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füße (Mt 28,9). Der Auferstandene selbst erscheint ihnen, sie machen eine Erfahrung, es bleibt nicht bei der bloßen Idee und Möglichkeit von Auferstehung. Doch scheint der Prozess des Durchsäuert-Werdens des bisherigen Lebens durch den Sauerteig der neuen Wirklichkeit unverzichtbar. Denn der Auferstandene