Vom Lieben und vom Sterben. Bertram Dickerhof
Sein Erbteil zu fordern, wie er es tat, war rechtlich möglich, entsprach jedoch nicht den Gepflogenheiten in Israel und bürdete zudem der Familie einen finanziellen Aderlass auf. Vielleicht erkennt er Schuld darin, möglicherweise auch in dem zügellosen Leben, das er dann führte und bei dem er sein Vermögen verschleuderte (Lk 15,13). Sünde führt zu schuldhaften Taten, für die der Täter verantwortlich ist – aber Schuld macht das Phänomen Sünde nicht aus. Das Wesentliche der Sünde liegt verborgen hinter der Schuld. Sünde ist zuerst eine existenzielle Kategorie, nicht eine moralische.
Dem jüngeren Sohn muss es so erschienen sein, dass er sein Glück nur finden kann, wenn er restlos alles, was ihm zusteht, fordert – nicht etwa nur einen Teil, um so seiner Familie entgegenzukommen. Er begibt sich in die Fremde und schneidet damit alle bestehenden Beziehungen zu seiner Familie, seinen Freunden und zu seiner Heimat ab. Sein zügelloses Leben mag ihm Kumpane und Gespielinnen schaffen, es verhindert jedoch echte Begegnungen und personale Beziehungen. Der drohende finanzielle Ruin kann ihn nicht davon abhalten, sein Vermögen restlos durchzubringen. Wir können in diesem Verhalten des jüngeren Sohnes eine Fixiertheit auf die eigenen Vorstellungen und Bestrebungen sehen, die sich gegenüber berechtigten Anliegen anderer ebenso verschließt wie überhaupt gegenüber Beziehungen: Der jüngere Sohn will sich nicht stören und nicht in Frage stellen lassen. Er wirkt wie gefangen in einer Eigenwelt, die blind für die Wirklichkeit ist: Wie kann er glücklich sein, wenn ihm das Geld, das er für sein Glück braucht, zwischen den Fingern zerrinnt? Diese Eigenwelt hat zerstörerische Wirkungen auf andere, z. B. die Familie, und auch auf ihn selbst: Am Ende steht er völlig verarmt und von allen verlassen da. Diese Zerstörung bewirkt allerdings auch, dass seine Eigenwelt aufgedeckt und als Sünde erkannt werden kann, wie der Fortgang der Geschichte zeigt: Sünde ist die geistige Macht, die den Menschen verschließt und in eine starre, beziehungsfeindliche, eigentümliche Welt einsperrt, deren Boden Angst ist – denn Angst ist es, die Verschlossenheit und Starre bewirkt. Erfüllung, die im Menschen angelegt ist und sich durch Beziehungen entfaltet, wie an den lebendig machenden Begegnungen mit Jesus zu sehen ist, wird durch die Sünde verhindert. Durch die Sünde wird das Leben verfehlt, der Schöpfer dieses Lebens und auch der Mitmensch.
Dem „verlorenen Sohn“ geht all das nun an diesem Karfreitag seines Lebens auf, als er die Schweine um ihr Fressen beneiden muss. Er kann in sich gehen und seine Sünde erkennen. Die Weise, wie er als Mensch bisher unterwegs war, stirbt dadurch. Er kann nicht mehr derselbe Sohn sein, der er war: Mach mich zu einem deiner Tagelöhner! (Lk 15,19). Das ist die Kapitulation: das Loslassen-Können des bisherigen naiv gewissen Lebensfundamentes, des bisher Plausiblen und Sinnstiftenden, um die Wirklichkeit, an der nicht mehr vorbeizusehen ist, annehmen zu können. Auch die Jünger werden sich ihre Sünde eingestehen müssen, die durch das Abblocken eines klärenden Gesprächs sie die Begegnung mit Jesus verfehlen, sich ihm entfremden und ihn verlassen ließ, so dass er ohne seine Freunde leiden und sterben musste. Die Sünde und ihre Macht sind jedoch nicht das Ende: Der „verlorene Sohn“ gewinnt sich selbst als Person. Der barmherzige Vater nimmt den Sünder an. Er verleiht ihm eine neue Sohnschaft und Herrschaft. Das werden auch die Jünger erleben.
Die entscheidende Voraussetzung dabei ist Vertrauen. Der „verlorene Sohn“ vertraut darauf, dass sein Vater ihn als Tagelöhner aufnehmen wird. Auch die Jünger können sich einen Rest an Offenheit bewahren durch ihre Erfahrungen mit Jesus und ihre Liebe zu ihm. In dem Maß allerdings, wie wir nicht vertrauen können, dass das Sterben in einer solchen kreuzigenden Lebenssituation in Auferstehung gewandelt wird, bleibt uns nur die Devise „lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot“ (1 Kor 15,32; Jes 22,13).
5 Zur Weisheitsliteratur zählen die Bücher Ijob, Sprichwörter, Kohelet, Jesus Sirach und Weisheit; für sie ist wahrer Humanismus ohne Gottesfurcht undenkbar.
6 Nach Joh 12,4 ist es Judas allein.
7 Außer im Johannesevangelium der Lieblingsjünger Jesu, bei dem es sich um Johannes selbst handelt.
8 Das sind ungefähr 24 kg: Geduld ist also nötig, bis der Sauerteig diese Menge Mehl durchsäuert hat.
3. Auferstehung
Auferstehung ist das Herzstück des christlichen Glaubens. Das hat schon Paulus klar erkannt: Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos (1 Kor 15,14). Auferstehung durchzieht der Sache nach das gesamte Neue Testament, in 18 von 27 Schriften kommt sogar das Wort selbst vor. Versuchen wir zu verstehen, was die Schrift damit sagen will, damit dadurch auch uns diese Wirklichkeit erschlossen wird.
3.1 Der biblische Befund
Das älteste schriftliche Zeugnis der Auferstehung Jesu, etwa 50 n. Chr., findet sich in 1 Thess 1,10: … Jesus, den er [Gott] von den Toten auferweckt hat … Solche eingliedrigen Auferweckungsformeln9 müssen bereits vorher als mündliche Bekenntnisformeln in Gebrauch gewesen und damit deutlich älter sein. Sie besagen, dass Gott Jesus nicht in der Scheol, dem Totenreich, gelassen, sondern an ihm gehandelt, ihn erweckt hat. Darüber, wie es zu dieser Überzeugung kommt, besagen sie nichts.
Diese Lücke schließt 1 Kor 15,3–8. Dieser Text verknüpft die Auferstehungsbekenntnisse mit Erscheinungen des Auferstandenen, die damit zur Quelle des Wissens von der Auferweckung Jesu werden. 1 Kor 15,3–8 ist eine gebündelte Zusammenfassung von Traditionen und Inhalten der Auferweckungspredigt und reicht weit in die mündliche Überlieferung zurück: Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als Letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der Missgeburt.
Paulus sieht seine eigene Bekehrung als Erscheinung des Auferstandenen an. „Ohne die Erscheinungen hätte es keine Zeugen und keine Zeugnisse für die Auferstehung des Herrn gegeben. Sie sind unersetzlich“ (Scheffczyk). Wie diese Erscheinungen zu verstehen sind, wird uns später beschäftigen.
Zwanzig und mehr Jahre später, also ab etwa 70 n. Chr., sind die Ostererzählungen der Evangelien verschriftlicht worden. Diese sind keine historischen Berichte, sondern „Geschichten um Geschichte“, d. h., sie enthalten Historisches, sind aber vor allem Verkündigung. Diese muss die Adressaten, Menschen des letzten Viertels des ersten Jahrhunderts, Juden- und Heidenchristen in unterschiedlichen Gemeinden an verschiedenen Orten der Welt, mit jeweils ihrem Vorwissen, ihrem Denkhorizont und ihren Fragen dort abholen, wo sie stehen. Auch das Verständnis der Verkündiger der Osterbotschaft hat sich entwickelt, vertieft und akzentuiert. So lassen sich ansatzweise die Unterschiede in den Osterevangelien verstehen. Gemessen an der fundamentalen Bedeutung der Osterbotschaft, sind die Texte der Osterevangelien spärlich; so spärlich, dass sie sich hier im Überblick präsentieren lassen:
• Das älteste Osterevangelium ist Mk 16,1–8, das um etwa 70 n. Chr. entstanden sein dürfte. Es schildert lediglich, wie ein weiß gekleideter junger Mann den Frauen, die auch bei Kreuzigung und Grablegung Jesu zugegen waren, im leeren Grab die Auferstehung Jesu mitteilt und ihnen den Auftrag gibt, seine Jünger nach Galiläa zu schicken, wo sie den Auferstandenen sehen werden. Die von Schrecken und Entsetzen gepackten Frauen fliehen vom Grab und sagen niemandem etwas. Dieses Ende des Evangeliums wurde als so unbefriedigend empfunden, dass es nach 100 n. Chr. durch eine Zusammenfassung aus den beiden anderen synoptischen Evangelien ergänzt wurde.
• Lk 24,1–53 ist in den frühen 80er Jahren geschrieben worden. Lukas benutzt Markus als Vorlage, aber bei ihm führen die Frauen den Auftrag der beiden Engel aus. Allerdings werden die Jünger nicht nach Galiläa geschickt, vielmehr sollen sie in Jerusalem bleiben. Darüber hinaus erzählt Lukas die Geschichte von den Emmausjüngern, in der sich die Gegenwart des Auferstandenen durch Schrift und Brotbrechen im Aufgehen der Augen und Brennen der Herzen vermittelt. Außerdem setzt Lukas sich besonders mit der Art der Leiblichkeit des Auferstandenen auseinander.
• Etwas später als Lukas ist Mt 28,1–20 entstanden, etwa 80–90 n. Chr. Auch Matthäus verarbeitet die Markusvorlage: