Die Heilkraft christlicher Rituale und Symbole. Dr. Norbert Weidinger
Entscheidungssituationen stehen.
• die mit Schwierigkeiten unterschiedlichster Art zu kämpfen haben.
• die momentan nicht weiterwissen und nach Orientierung suchen.
• die an einer Krankheit leiden und mit dem Leben hadern.
• die Kranke pflegen und innere Unterstützung brauchen.
• die einfach im Moment nach Trost suchen, nach etwas, was ihnen guttut.
• die das Gefühl haben, dass sie eine Stärkung, einen Segen brauchen können.
• die vor Umbrüchen und Veränderungen oder vor medizinischen Eingriffen stehen und Kraft brauchen.
• die als Christen leben oder die das Christentum neu für sich entdeckt haben und mehr über die Heilkraft christlicher Rituale und Symbole wissen möchten.
Einstiegshilfen
Zwei Übungen für den Anfang
Zur Annäherung an Titel und Inhalt dieses Buches empfehlen wir Ihnen, sich die Zeit zu nehmen für zwei kleine Übungen als Einstiegshilfe in unsere Gedankenwelt. Am besten suchen Sie sich ein ruhiges Plätzchen, an dem Sie ungestört sind. Vielleicht brauchen Sie leise Musik im Hintergrund oder nichts anderes als Stille, um unseren Impulsen mit innerem Gewinn folgen zu können.
Übung 1: Persönlicher Lebensrückblick
Im Rückblick auf mein bisheriges Leben denke ich an Situationen, die für mich heilbringend, heilsam waren. Hier können folgende Sätze helfen:
»Für mich war es eine heilsame Erfahrung, als …«
»Mir tat es gut, als …«
Die folgenden Beispielsätze könnten Ihnen als Anregung dienen:
»… sich ein lange schwärender Konflikt mit einem anderen Menschen endlich gelöst hat, weil dieser großherzig auf mich zukam.«
»… mir jemand einen Fehler, der mir längere Zeit Gewissensbisse bereitete, verziehen hat, nachdem ich endlich den Mut fand, diesen einzugestehen und mich dafür zu entschuldigen.«
»… sich bei einer ärztlichen Untersuchung der Verdacht auf … als haltlos erwies.«
Finden Sie doch für sich weitere Beispiele, und überlegen Sie, welche Heilkräfte da am Werk waren. Hatten Sie bei oder nach diesen Erlebnissen schon mal den Eindruck, dass da ein Schutzengel oder Gott mit im Spiel war?
Übung 2: Mehr als Worte sagt ein Lied oder Bild
Für manche tief greifenden Erlebnisse lässt sich des Öfteren schneller und treffender ein Bild oder ein Bildwort (eine Metapher) finden als eine exakte, sachliche Beschreibung. Wir laden Sie ein, zu den von Ihnen in Übung 1 geschilderten Situationen ein Bild oder Bildwort zu finden mit dem Impuls: »Das war für mich wie … der Sonnenaufgang nach dunkler Nacht« (oder ähnliche Bilder).
Ziel beider Übungen ist es, Heilkraft anhand eigener Erlebnisse und Erfahrungen wahrzunehmen und zu erspüren. Sie können sich auch Gedanken darüber machen, welches Symbol sich mit dieser Metapher in Verbindung bringen lässt oder ob es vielleicht auch ein Ritual gibt, das diese Metapher widerspiegelt. Auf obiges Beispiel bezogen, könnte dies das Symbol Licht sein und als Ritual die Feier der Osternacht.
RITUALE UND SYMBOLE BAUEN BRÜCKEN
Rituale und Symbole begleiten uns ein ganzes Leben lang, im gesellschaftlichen wie im privaten Leben. Jeder Mensch entwickelt neben den allgemein gebräuchlichen Ritualen und Symbolen noch seine ganz eigenen, auch jede Gemeinschaft, jedes Volk und jedes Land. Sie stehen uns allen als erstes Kommunikationssystem, noch vor der Sprache, zur Verfügung. In ihrer unüberschaubaren Vielfalt verwirren Rituale und Symbole manchmal. Aber sie helfen uns gerade dann aus der Patsche, wenn uns die Worte fehlen. Ohne sie wären wir manchmal tatsächlich sprach-los. In solchen Situationen bringen Rituale und Symbole ihre heilenden Kräfte zur Geltung. Wir bezeichnen sie deshalb als Brückenbauer, die Zusammenhalt geben. Das macht sie interessant, wenn es um Suche und Sehnsucht nach Gesundheit, Wohlbefinden und innerer Ausgeglichenheit, um Heilung geht. Aus dieser Perspektive stellen Rituale und Symbole ein ergiebiges Objekt des menschlichen Forschergeistes dar – in der Philosophie, Psychologie, Psychotherapie und Soziologie, aber auch in der Theologie.
Von der Kraft allgemeiner Rituale und Symbole
Wir schreiten mit Ihnen den Horizont der vielfältigen Erscheinungsformen allgemein menschlicher Rituale und Symbole ab (lassen aber die christlichen noch beiseite) und hoffen, anhand praktischer Beispiele aus der Geschichte und dem alltäglichen Leben Ihr Interesse zu wecken.
Ein kleiner Spaziergang
Als Einstieg in diese Welt schlagen wir einen Spaziergang in drei Etappen vor, zugleich unter drei unterschiedlichen Blickwinkeln – wie bei einer Stadtbesichtigung. Wir umschreiten den Ort auf der Stadtmauer und entdecken dabei Besonderheiten wie Türme, Prachtstraßen, ein Schloss. In Gedanken umrunden wir das Thema: Wie und wozu brauchen Menschen Rituale und Symbole im öffentlichen wie im privaten Leben? Was bewirkt ihr Gebrauch? Wir wählen den Weg von außen nach innen, vom Einfachen zum Komplexeren, von der Gestalt zum Gehalt.
Der Kniefall in Warschau
Er geschah am 7. Dezember 1970, 25 Jahre nach Kriegsende. Der Krieg begann am 1. September 1939 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen. Er hinterließ über Europa hinaus Zerstörung, Vertreibung, Not und Elend, Existenzängste und Qualen sowie eine nur zu schätzende Zahl an Toten. Eine Gräueltat hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegraben: die Räumung des Warschauer Ghettos am 16. Mai 1943. Das Denkmal der Helden des Ghettos hält die Erinnerung daran wach.
Kranzniederlegungen an Mahnmalen gehören als öffentliches Ritual zum festen Bestandteil eines offiziellen Staatsbesuches. Jedes Ritual hat einen festen Ablauf. Hier sieht er vor, dass die Staatsoberhäupter beider Länder hinter Soldaten, die den Kranz tragen, zum entsprechenden Ort schreiten. Die Staatsmänner bleiben in gemessenem Abstand stehen, bis die Soldaten den Kranz niedergelegt haben und zur Seite getreten sind. Nun geht das Staatsoberhaupt, das als Gast gekommen ist, nach vorn, berührt den Kranz kurz, glättet die Streifen, verharrt im stillen Gedenken, verneigt sich, tritt zurück und verlässt die Gedenkstätte gemeinsam mit dem Gastgeber.
Den Ablauf dieses Rituals hat Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 anlässlich der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags zwischen Polen und Deutschland überraschend verändert. Er sank auf die Knie und verharrte schweigend etwa eine halbe Minute am Mahnmal.
Die Reaktionen auf diesen Kniefall fielen unterschiedlich aus. Viele sahen darin eine Demutsgeste. Andere eine Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Tatsache ist, dass noch am gleichen Tag der Warschauer Vertrag mit der Anerkennung der Unverletzlichkeit der faktischen polnischen Grenzen beiderseits unterschrieben wurde. Ein gefährlicher Schwebezustand war beendet. Heute besteht Einigkeit darüber, dass der Kniefall eine wichtige Rolle für das Zustandekommen des Vertrags gespielt hat. Allerdings zeigten sich selbst Freunde des Bundeskanzlers wie Egon Bahr oder Günter Grass damals betroffen, überrascht und besorgt. Sie befürchteten Missverständnisse und negative Auswirkungen. Aber der Spiegel-Redakteur Hermann Schreiber hielt dagegen: »Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durch das ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet – dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können und nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selbst nicht zu tragen hat, und bittet um Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland« (Spiegelausgabe vom 14. Dezember 1970, S. 29 f.). Im Rückblick schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen: »Immer wieder bin ich gefragt worden, was es mit dieser Geste auf sich gehabt habe. Ob sie etwa geplant gewesen sei? Nein, das war sie nicht. (…) Ich hatte nichts geplant, aber Schloss