Die Heilkraft christlicher Rituale und Symbole. Dr. Norbert Weidinger
klagt und betet zu Gott. Da sendet Gott den Engel Rafael.
Raguel schickt Tobit mit dem Schuldschein nach Ekbatana. Rafael begleitet ihn als Beschützer, aber auch Aufgabensteller: Tobit muss unter Todesgefahr einen Fisch angeln, Galle, Leber und Herz entfernen und mitnehmen. Mit einem Teil davon vertreibt Tobit den Dämon Saras. Beide feiern Hochzeit und begeben sich auf die Rückreise.
Unglaubliches geschieht. Mit der Galle heilt Tobit mit Rafaels Hilfe die Blindheit Raguels. Rafael gibt sich als Gottes Bote zu erkennen und verabschiedet sich mit den Worten: »Alles geschah im Auftrag Gottes. Er meint es gut mit euch. Lobt und preist ihn ein Leben lang!« 8
Impuls
Es lohnt sich, diese Erzählung im Original, also in der Bibel zu lesen. Allein schon die Gebete Tobits und Saras sind es wert, die Bibel aufzuschlagen.
Um den tieferen Sinn dieser märchenhaften Erzählung zu erschließen, ist es wichtig, sich ihr historisches Alter bewusst zu machen: 700 Jahre vor Christus! Sprache und Inhalt spiegeln das damalige Weltbild und Auffassungsvermögen wider. Wir können sie nicht wortwörtlich ins Heute übersetzen. Als Christen gehen wir davon aus, dass wir Gottes Wort nur im Menschen-Wort begegnen können. Auch diese Erzählung ist Ausdruck zutiefst menschlichen Glaubens, inspiriert von Gottes Geist und trotzdem im zeitgebundenen Gewand.
Ihr Sinn kann sich erschließen u. a. mit der Ihnen inzwischen bekannten tiefenpsychologischen Methode Lorenz Wachingers:
• Der Name Rafael ist ein »altes Bekenntnis zu der Macht, die wirklich heilen kann«9.
• Wie Held und Heldin in einem Märchen müssen Tobias und Sara einen weiten, mühe- und gefahrvollen Weg mit schmerzhaften Erlebnissen meistern.
• Dennoch bleibt unübersehbar: »Alle Personen dieser Geschichte erfahren ihre Heilung«,10 gehen den Weg innerer Veränderung und Verwandlung, von materieller bzw. seelischer Not und Heillosigkeit angetrieben, kurzzeitig auch in Erstarrung festgehalten. Ihre erste Zuflucht ist das Gebet. Sie klagen und schreien zu Gott. Doch dann rührt eine Hand sie an und befreit sie.
• Ein Mensch hat eine innere Wende, eine Umkehr vollzogen. Die Berührung (samt eigentümlicher Medizin) ist angekommen, wirkt sich aus. Ein Schicksalsschlag ist verarbeitet, eine seltsame Verstrickung gelöst, die Botschaft verstanden.
• »Gewiss gibt es Unglück, das einem zustößt. Es lohnt sich aber, den (eigenen) Anteil der Angst zu sehen: Angst vor dem Neuen, vor der Macht der Triebe, Angst vor dem Fremden …
• Der Mythos legt nahe, dass das Vertrauen eine Gestalt braucht, an die es sich halten kann, eine Gestalt, die aus dem göttlichen Bereich kommt, wird (zusätzlich) zu den eigenen Kräften Mut machen können.«11
Lorenz Wachinger schließt mit einem Zitat, das Martin Buber von seiner Großmutter überliefert hat: »Man weiß nie vorher, wie der Engel aussieht.«12
Weitere wichtige Gesichtspunkte der Geschichte sind:
• Die Tobit-Erzählung erreicht uns heute nach fast 3000 Jahren über zunächst lange mündliche, dann schriftliche Überlieferung in einer völlig veränderten Welt.
• Christliche, gottesdienstliche Riten und Rituale, aber auch theologische Seminare holen die Gestalten der Erzählung immer wieder aus der Versenkung hervor und halten den Überlieferungsprozess lebendig, verhindern, dass sie zu stummem Wissen erstarren. Sie bauen tragfähige Brücken bis in unsere Zeit.
• Schon die Namen der Hauptakteure rückten die zentrale Botschaft ins Zentrum: »Gott ist gut« und »Gott heilt«. Zugleich reichen sie die Fragen »Wer ist Gott? Auf welche Weise berührt er mich?« an uns weiter.
• Gott ist für die Menschen dieser märchenhaften Erzählung eine feste Bezugsgröße, den sie preisen und loben, aber auch bitten und anklagen in Glück und Elend. Nicht an Leid und Zweifel vorbei, sondern durch beides hindurch zeigt ER sich. Auf ihn setzen Tobit, Tobias und Sara ihre ganze Hoffnung und scheitern nicht. Ihre Gebete lassen sie Schicksalsschläge ver-kraft-en. Sie begraben trotz aller Gefahren ihre Toten und geben ihnen damit ihre Würde zurück.
• Christlicher Glaube ist von Grund auf interreligiös. Judentum und Christentum sind in der Bibel unauflösbar miteinander verbunden und noch mehr in Jesus, dem gläubigen Juden, Christus, d. h. dem Gesalbten Gottes.
• Heilung geschieht aus der Dynamik dieses Gottesglaubens heraus: ER ist der Schöpfer des Himmels und der Erde, der den Anfang und das Ende für alle und alles setzt und der heilt – aber nicht ohne die Menschen! Sie werden manchmal zu Engeln: »Man weiß nie vorher, wie der Engel aussieht.«
Christliche Kunstwerke – »Christus in der Dose«
Sowohl der Künstler als auch seine teils provokante Symbolsprache sind Ihnen sicher bekannt. Anfangs glaubten selbst manche Kunstkenner, es handle sich bei diesem Kunstwerk um Blasphemie. Sind auch Sie entsetzt? Es handelt sich um ein Frühwerk Joseph Beuys’ aus der Nachkriegszeit, entstanden 1949. Lassen Sie sich auf dieses Kunstwerk ein, und versuchen Sie, erst selbstständig seine Bestandteile zu sammeln und zu entschlüsseln.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Unsere Gedanken
• Da sind … eine Zigarrenkiste aus Sperrholz, links mit den alten Werbeemblemen der Firma und den dazugehörigen Schriftzügen – unverkennbar Nachkriegszeit!
• Rechts – nicht so leicht erkennbar – ein Körper, eine Figur aus knetbarem, inzwischen bröseligem Fensterkitt in Kreuzform mit einem Überbau, einer Gloriole.
• Dose steht nur im Titel. Zu sehen ist keine. Das ist also schon alles!
• Zigarren galten in der schweren Nachkriegszeit – wie heute – als Genussmittel, Geschenkartikel, Statussymbol. Wollen sie einen Hinweis geben auf die Möglichkeit, für eine Zigarrenlänge Elend und Not entfliehen zu können, alles zu unterbrechen, hinter sich zu lassen, der harten Wirklichkeit zu entfliehen …? Nach Johann B. Metz ist Unterbrechung die kürzeste Definition für Religion, deren Grundaufgabe es ist, Leiden zu unterbrechen.
• Zigarrenkistchen waren damals kostbar, darin konnte man Briefmarken, Münzen, Muscheln, Briefe sammeln. Sie waren die reinsten Schatzkästchen. Vielleicht soll uns die Kiste an mittelalterliche Reliquienschreine erinnern, in denen die Gebeine der Heiligen gesammelt und verehrt wurden … ein Schrein ohne Gold, aus Alltäglichem.
• Die Figur, geknetet aus Fensterkitt – nach eigenem Gusto, eigenem Geschmack? Christus, leicht manipulierbar und zugleich zerbrechlich?
• Nein! Denn dieser Christus in der Dose – alias: Zigarrenkiste – ergibt mit Gloriole einen Anker, der bei genauerer Betrachtung mit dem Firmenlogo korrespondiert, dem Anker auf der linken Seite: geschäftlich ein werbeträchtiges Zeichen, aber in der Realität der feste Punkt, der Halt gibt, auch noch im Sturm. Vorsicht! Die Grenze zwischen Klischee und wahrem Symbolzeichen verläuft manchmal fließend.
• Wenn es Joseph Beuys ernst meint, dann vereint er in diesem Kunstwerk Kreuz und Anker. Dann ist das Kreuz zugleich unser Anker und Christus ebenfalls – nicht an Leid und Tod vorbei, sondern mittendrin und mitten hindurch, in Solidarität mit allen Leidenden.
• Unterstrichen wird diese Annahme durch den Titel Christus in der Dose: Auch Dosen waren im Nachkriegsdeutschland etwas Kostbares, nichts zum Entsorgen im Wertstoffhof. Dosen boten Haltbares, Überlebenswichtiges an wie die Eiserne Ration im Krieg.
• Wer Augen hat zu sehen, der sehe und glaube an diesen zerbrechlichen Christus, der Halt gibt, der die eiserne Ration ist für alle Verwundeten, Leidenden, der »zu kurz gekommen« ist. »Er hat unsere Krankheiten und unsere Schmerzen auf sich genommen … durch seine Wunden sind sie, sind wir geheilt.«13
Mit der Erschließung dieses Kunstwerks haben wir zugleich das zentrale Symbol des christlichen Glaubens für uns erschlossen: das Kreuz. Mit dem Jesaja-Zitat aus den Gottesknechtsliedern