Die Anerkennung des Verletzbaren. Bernhard Kohl

Die Anerkennung des Verletzbaren - Bernhard Kohl


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Ordnung wird Moral zum Projekt von in Freiheit angenommener Verantwortung […]“13.

      Ethik kann zeitgenössisch außerdem nur noch als autonome Ethik, d. h. als auf praktischer Vernunft basierte Verantwortungsethik verstanden werden. Normative Gültigkeit einer ethischen Norm ergibt sich dann auch nicht mehr aus den Faktoren Tradition oder Autorität, sondern aus der Richtigkeit des durch diese Faktoren Tradierten. Daraus ergibt sich wiederum, dass Traditionen aufgrund ihres Vermögens beurteilt werden müssen, „die universale Respektierung der menschlichen Würde zu verwirklichen. […] Tradition wird gemessen an der Ethik, und nicht die Ethik an der Tradition“14. Werte und Normen erlangen ihre Plausibilität immer nur innerhalb eines konkreten, gelebten und reflektierten Kontextes.

      Eine solche Auffassung von Ethik und Moral wird dann auch von einem bestimmten Geschichtsverständnis grundiert, welches sich nicht als Fortschrittsmodell, sondern als Modell bezeichnen lässt, welches geschichtliche Veränderungen anerkennt, sich aber des wertenden Urteils im Sinne einer Fortschritts- oder Niedergangstheorie enthält. Dieses Geschichtsverständnis lässt sich als „strukturelles Transformationsmodell“ bezeichnen. Der Sinn solcher beschreibenden Gesellschaftsanalysen kann allerdings nicht darin bestehen, gänzlich auf eine Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen zu verzichten.15 Faktoren für diese Bewertung müssen dabei die Berücksichtigung der durchgängigen Veränderbarkeit und somit die Vorläufigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen, deren Pluralität, also die Gleichzeitigkeit mehrerer Gesellschaftsentwürfe und die Komplexität moderner Gesellschaften, d. h. deren tendenzielle Unüberschaubarkeit darstellen.16 Konkret schlägt K.-W. Merks folgende Kriterien zur Bewertung der Fortschrittlichkeit oder Rückschrittlichkeit konkreter Lösungen ethischer Probleme vor:17

      - Autonomie der Ethik | Eine Theorie der Moral muss in modernen Gesellschaften die Eigenständigkeit ihrer ethischen Fragestellungen „in ihrer Eigenheit gegenüber technokratischen Automatismen zur Geltung zu bringen“18. Somit besteht Fortschrittlichkeit von Moral nicht in einer Adaption von technischem oder wissenschaftlichem Fortschritt, sondern in der Aufrechterhaltung moralischer Autonomie – nicht Kontextlosigkeit – gegenüber diesen Faktoren. Außerdem ist im normativen Sinn nur ein weltliches Ethos denkbar, dass über dem der Religionen und dem verschiedener Ideologien steht, damit die Kulturtranszendenz und -bindung der Ethik gleichzeitig abgrenz- und legitimierbar wird.19

      - Subjektivität | Moral muss den sittlichen Kern der Wende zum Subjekt integrieren, weil dies der Würde des Menschen, sein Leben in Freiheit zu verantworten, einzig entsprechend ist. Dafür ist es notwendig, dass eine moderne Moral diesen Kern in ihren Strukturen deutlich halten und in ihrer normativen Theorie beherzigen kann.

      - Verantwortung für die Strukturen | Da moderne Gesellschaften immer weniger auf traditionelle Bestände und Ressourcen zurückgreifen können, werden Institutionen und Strukturen zunehmend von Menschen abhängig. Neben die Verantwortung für das Handeln tritt also in modernen Gesellschaften die Verantwortung für die Normen des Zusammenlebens und dessen gesellschaftliche Institutionen und Strukturen. Gerade die Bereitschaft und Fähigkeit zu dieser Verantwortungsübernahme kann ein Indikator für den Fortschritt der Moral in der Moderne sein.

      - Veränderlichkeit | Eine zu einer höchst wandelbaren und innovatorischen Gesellschaft passende Moral muss fähig sein, auf diese gesellschaftlichen Wandlungen, Veränderungen und Entwicklungen einzugehen. Eine moderne Moral sollte also Flexibilität und Korrekturoffenheit aufweisen. Darüber hinaus bilden konkrete Sittlichkeitserfahrungen und -reflexionen einen weiteren wichtigen Faktor für Veränderungen innerhalb eines ethischen Systems.20

      - Komplexität | Moderne Gesellschaften bilden hoch komplexe Gebilde aus sich überlagernden Prozessen dar, deren Steuerung wiederum komplexer Systeme bedarf und nur partiell möglich ist. Ein beschränktes Maß an „Sicherheit in Diagnose und Prognose, in der Abschätzung von Ursache und Folgen“21 bilden den Status quo ethischen Urteilens und Handelns. Für die Findung moralischer Normen und Regeln bringt diese Diagnose die Konsequenz mit sich, sich mit einer gewissen Vorläufigkeit und Revdierbarkeit abfinden zu müssen. Von zentraler Bedeutung für eine moderne Ethik wird daher die Fähigkeit zum verantworteten Kompromiss sein.

      - Neue Dimensionen | Die gegenwärtige moralische Situation zeichnet sich durch eine dreifache Ausweitung menschlicher Verantwortung auf den Kontext der einen Welt, die Umwelt und die Gestaltung von Zukunft aus. Fortschritt von Moral zeigt sich in diesem erweiterten Rahmen an der Fähigkeit zur Innovation, d. h. an den Fähigkeiten moralische Fragen in mundialem Zusammenhang zu beantworten, eine Anthropozentrik zu durchbrechen und nachhaltige Entscheidungen zu treffen.

      - Universalität | Eine Gesellschaft ist in dem Maße moralisch fortschrittlich, in welchem sie es vermag die Grenzen eines Gruppenethos zu überwinden und weniger nach Gruppenbelangen, als nach universal gültigen ethischen Grundsätzen zu suchen. Dies bedeutet auch eine „primäre Anerkennung aller Menschen in ihrem gleichen Recht auf sittliche Selbstbestimmung und eine Lebensgestaltung in einer eigenen kulturellen Identität“22.

      - Pluralität | In der Bewegung hin zu einer Welt lässt sich auch eine neue Wertschätzung von Vielfalt erkennen. Moral muss im Rahmen eines gemeinsamen Fundamentalkonsenses in der Lage sein, diese Pluralität und partielle Lebensformen zu integrieren. Auch hier dürfte der Modus des Kompromisses wiederum eine Rolle spielen, um zu einem gesellschaftlichen Fundamentalkonsens zu gelangen, womit nicht die Hinwendung zu einem Postulat der Einheitsvernunft gemeint ist, die auf die heutigen philosophischen und gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr angemessen reagieren kann.23

      - Demokratie und Partizipation | Moralischer Fortschritt erweist sich daran, wie demokratische Informations- und Entscheidungsprozesse für die ethische Urteilsbildung fruchtbar gemacht werden und möglichst viele Menschen, im Sinne einer zunehmenden Inklusion, an diesen Urteilsbildungen teilnehmen und an deren Ergebnissen partizipieren können.

      Die Konsequenz hieraus ist, dass die Menschen jeder Zeit selber mit ihren Erfahrungen für die Definition von Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit eintreten müssen. Auch die theologische Ethik hat als Maßstäbe keine umfassenden Entwürfe zur Hand, sondern muss und darf sich mit den Prinzipien konkreter Menschlichkeit zufriedengeben. Dieses Prinzip erkennt auch das kirchliche Lehramt an, wenn es in der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae erklärt, dass zwischen der Wahrheit und der menschlichen Person eine intime Freiheitsbeziehung besteht, die durch keine allgemeine Rationalisierung, kein Dogma, keine moralische Norm ersetzt werden kann. Die Freiheit des Subjekts, seine Würde, kann nicht mehr hintergangen werden.24 Dadurch kommt es auch zu einem wachsenden Bewusstsein des Rechts auf Pluralität in ethischen Fragen und somit nicht zu einer Aufhebung der Frage nach dem Guten, seinen Bedingungen und seiner Gestaltung, sondern zu einer Herausforderung und Pointierung.25

      „Die Einheit der Moral besteht in einheitsstiftenden Grundsätzen, und nicht in einer positivistischen Übereinkunft der konkreten Normen.“26

      Diese einheitsstiftenden Grundsätze liegen einerseits in der Universalität des Menschseins als solchem mit seinen fundamentalen moralisch-anthropologischen Implikationen und andererseits in den Kulturen und Individuen übersteigenden empirischen Grundlagen von Moral und Ethik, wie z. B. im grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Anerkennung: „In unserem tiefsten Inneren möchten wir mit unseren Lebensentwürfen von anderen nicht nur in Frieden gelassen werden, sondern wir wünschen respektiert zu werden, d. h. die anderen sollen zu uns ‚ja‘ sagen können. […] Der neuzeitlich, abendländische Individualismus kann dazu verführen, über der Ich-Faszination die grundlegende Gemeinschaftlichkeit im Menschsein zu vergessen, über sie hinweg zu sehen. Doch lebt auch er letztlich aus der freien Anerkennung der gleichen Würde aller.“27 Ziel muss eine Kultur der Kulturen, eine interkulturelle Ethik sein, die sich durch folgende Thesen umreißen lässt:28

      - Anerkennung des Zusammenlebens | Der Wille zum Zusammenleben bildet eine conditio sine qua non, da ohne ihn überhaupt keine soziale Existenz möglich ist. Dies bringt auch eine Wachsamkeit gegenüber Tendenzen mit sich, die diesen Willen – wohlgemerkt aus sehr unterschiedlichen Motiven –


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