Die Anerkennung des Verletzbaren. Bernhard Kohl
im theologischen Diskurs als auch im modernen, pluralistischen Diskurs zeigt sich also dieser Widerstreit zwischen sozusagen inhaltlicher Füllung einer ethischen Grundlage der Suche nach Wahrung menschlicher Gottebenbildlichkeit und Würde und ihrer bleibenden Offenheit. Während der säkulare Ansatz dabei die immer neue negative Hermeneutik der Verletzlichkeit akzeptieren muss, bleibt für das theologische Verständnis die Aufgabe der immer neuen Kontextualisierung der Aussagen von der transzendenten Verwiesenheit des Menschen - in seiner Mitte die besondere Aussage vom Menschen als Gottes Ebenbild.
3.1 Die Septuaginta
Generell ist zu beachten, dass den Übersetzern der LXX mit dem von ihnen verwandten Koine-Griechisch ein um das Zehnfache größerer Wortschatz als beispielsweise dem Platons zur Verfügung stand. Somit war er auch um ein Vielfaches größer als der der hebräischen Bibel. Die Übersetzer waren also zu einer gewissen Auswahl innerhalb des Vokabulars gezwungen, was indirekt auch eine Entscheidung bzw. Interpretation darstellt.177 Die Diasporasituation der LXX-Übersetzer veranlasste sie darüber hinaus sich besonders im Bereich der Anthropologie deutlich auszudrücken. Während in geschlossenen Gesellschaften – beispielsweise des Mutterlandes – Vorschriften ausreichen, um ein einheitliches Verhalten der Bevölkerung in wichtigen Bereichen zu bewirken, so bildete das Diasporajudentum eine Pädagogik der Motivation aus, welche vor dem Hintergrund der griechischen Psychologie und Ethik eine wortmächtige Sprache angeboten erhielt.178
In der innerbiblischen Rezeption von Gen 1,26ff. wird nicht die funktionale Gottebenbildlichkeit rezipiert, sondern über die hellenistische Tradition eine am Urbild orientierte qualitative Interpretation. Dabei wird die Gottebenbildlichkeit als Gottähnlichkeit gefasst und mit Unsterblichkeit gleichgesetzt. Im Zusammenlesen der beiden Schöpfungsberichte der Genesis wird der Sündenfall als Verlust der Gottebenbildlichkeit gedeutet, mit der Folge der Sterblichkeit. Somit ist die Gottebenbildlichkeit bereits hier eine verlierbare Eigenschaft, die nur eschatologisch wiedererlangt werden kann.179
3.1.1 Der Textbefund
Die LXX übersetzt zaelaem in der Regel mit eikon (είκών, Bild), Num 33,52 und 2 Chr 23,17 mit eidolon (είδωλον, Götzenbild); an der Parallelstelle 2 Kön 11,18 allerdings mit eikon), 1 Sam 6,5 mit homoioma (ὁμοίωμα, Bild, Gestalt), Am 5,26 mit typos (τύπος, Form, Abbild). Folgende Änderungen fallen bei der griechischen Übersetzung des Gen Textes auf:
- Die beiden hebräischen Präpositionen in Gen 1,26 (ב, b= und ב, k=) werden vereinheitlicht und als normangebend aufgefasst; die beiden Präpositionalgruppen werden syndetisch (durch Konjunktionen verknüpft) gefügt und so einander formal gleichgeordnet. Die Septuaginta verwendet für die beiden Charakterisierungen des Menschen, anders als der Urtext, zweimal die gleiche Präposition kata (κατα, gemäß) und gibt die Nomen durch zwei in der platonischen Philosophie wichtige Begriffe wieder: „Wir wollen einen Menschen machen gemäß unserem Urbild (eikon) und gemäß Übereinstimmung (homoiosis, ομοίωσις).“180
- Homoiosis ist ein Nomen actionis: es bedeutet „ähnlich machen“ und bringt durch diese dynamische Nuance einen neuen Aspekt ein. Darüber hinaus verstärkt es semantisch die syntaktische Gleichwertigkeit der beiden Substantive. Hauptterminus ist eikon.181
Bereits die beiden inneralttestamentlichen griechischen Übernahmen haben unterschiedliche Ausgangspositionen. Sir 17,3 übersetzt die LXX entsprechend Gen 1,26.27: […] kai kat’ eikona autou epoiesen autous ([…] καὶ κατ’ εἰκόνα αὐτοῦ ἐποίησεν αὐτούς, […] und nach seinem Bild machte er sie). Dahingegen formuliert Weish 2,23 ohne Präposition: […] kai eikona tes idias aidiotetos epoiesen auton ([…] καὶ εἰκόνα τῆς ἰδίας ἀιδιότητος ἐποίησεν αὐτόν, […] und als Bild von sich selbst hat er ihn gemacht).
Da der Herrschaftsauftrag sich im syndetischen Hauptsatz anschließt, scheint er etwas abgehoben von der Gottebenbildlichkeitsaussage, nach einer Art Zusatz bzw. einer Weiterführung. Das bewirkt eine Perspektivänderung: von nun an wird die Aussage nicht vom Menschen zu den Tieren, sondern von den Menschen zu Gott hin interpretiert. Da die Herrschaft über die Tiere keine enge inhaltliche Verknüpfung mit der Urbild-Abbild-Relation Gott und Mensch zu haben scheint, wächst die Tendenz, die Gottebenbildlichkeitsaussage kontextfrei auszulegen. Diese Strömung entfaltet sich in der patristisch-mittelalterlichen Theologie voll, womit der Reigen kontextferner Spekulation über den konstitutionsmäßigen Inhalt der Gottebenbildlichkeit beginnt. Ihr Inhalt ist die Ewigkeit Gottes, aus ihr folgt die Bestimmung des Menschen zur Unvergänglichkeit. Wie die Gottesstatuenhaftigkeit nur besagt, dass der Mensch Gott unter einer bestimmten Rücksicht, nämlich der Herrschaft, repräsentiert, so besagt die Gottebenbildlichkeit, dass der Mensch nur in einer bestimmten Hinsicht, nämlich der Ewigkeit, Gott abbildet.182
3.1.2 Aufgabe und Würde des Menschen aus Sicht der LXX
Die griechische Bibel prägte die gesamte christlich-theologische Auslegungsgeschichte des Theologumenons der Gottebenbildlichkeit. Nach deren Les- bzw. Übersetzungsart ist der Mensch nicht als Bild, sondern nach dem Bild Gottes erschaffen. Über die Logosspekulation des Philo von Alexandrien führt diese Auffassung zur christologischen Ausdeutung im Neuen Testament. Der Bildbegriff zielt nun nicht mehr primär – wie im Hebräischen – auf den Menschen als Abbild, sondern mit veränderter Blickrichtung auf Gott als das Urbild.183 Der Inhalt der Gottebenbildlichkeit ist hiernach nicht eine funktionale, sondern eine seinshafte Abbildhaftigkeit gegenüber dem göttlichen Urbild, konkret bestimmt als Abbild der Ewigkeit (Weish 2,23). Dies beinhaltet nicht nur eine Bestimmung des Menschen (zur Unvergänglichkeit), sondern eine konstitutionelle, allem verantwortlichen Handeln vorausliegende Gottähnlichkeit.184
3.1.3 Ausblick auf das Neue Testament
Für das Urchristentum ist seine Beheimatung im Judentum vollkommen selbstverständlich, was sich u. a. daran zeigt, dass die Welt hier wie dort als Schöpfung des einen Gottes verstanden wird. Als Novum wird im jungen Christentum die ganze Geschichte von der Schöpfung bis zur Erhöhung Christi als Kontinuität des Wirkens Gottes aufgefasst.185 Dabei beginnt die Entfaltung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Gnosis.186 Das eikon Theologumenon nehmen im Neuen Testament allerdings nur die Paulinen und Deuteropaulinen auf, wobei sie neue Wege gehen, indem sie Christus als das Bild Gottes (εἰκὼν τοῦ θεοῦ, eikon tou theou) bestimmen (2 Kor 4,4; Kol 1,15). In der Konsequenz lösen sie außerdem die nun direkt auf das Bild Christus bezogene Abbildhaftigkeit von der Erstschöpfung aller Menschen und behalten sie stattdessen – das Abbildsein zum Abbildwerden dynamisierend und eschatologisierend – den Christen vor (Röm 8,29; 2 Kor 3,18; 1 Kor 15,49). Darüber hinaus kann auch der Mensch Abbild Gottes genannt werden (Jak 3,9 hier allerdings nicht eikon sondern homoiosis).
Verbunden mit der Christusbezogenheit kommen im Neuen Testament, genauer in den (Deutero)Paulinen Spekulationen darüber auf, ob der Mensch durch den Sündenfall generell der Gottebenbildlichkeit verlustig gegangen ist. Davon wissen weder das Alte Testament noch die rabbinische Tradition. Wohl wird von einem Verlust an „Herrlichkeit“ (דובכ, kabod / δόξα, doxa) durch den Fall Adams ausgegangen. Daneben existieren außerdem Überlegungen darüber, ob die Ebenbildlichkeit des Menschen durch den Sündenfall gemindert ist. Das Bewahren und Verlieren der Ebenbildlichkeit ist also eine Frage persönlicher sittlicher Lebensführung und der Erfüllung des Gesetzes.187
3.2 Schritte der Dissoziation bei den Kirchenvätern
Für die christliche Anthropologie ist der Mensch in seinem Personsein und die Sicht des Menschen im sozialen Kontext von entscheidender Bedeutung. Anthropologie und Ekklesiologie stehen also in einer Wechselbeziehung zueinander. Das verdeutlichte auch die frühchristliche Theologie, indem sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen niemals nur als eine bloße Widerspiegelung verstand, sondern den Menschen immer auch als von Gott angesprochenes, freies Individuum betrachtete. Dies spiegelt sich vor allem auch in der Herausbildung einer trinitarischen Theologie wieder,