Die Anerkennung des Verletzbaren. Bernhard Kohl

Die Anerkennung des Verletzbaren - Bernhard Kohl


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des Anderen bleiben kann, weswegen die dritte, doppelsinnige Phase von Hegel als doppelsinnige Rückkehr des Selbstbewusstseins in sich selbst gefasst wird. In dieser Phase erhält das Selbstbewusstsein 1.) durch das Aufheben des Andersseins sich selbst zurück und lässt 2.) durch diese Rückkehr zu sich selbst das Andere wieder frei und ermöglicht ihm so ein selbstständiges Wesen zu sein. Der Begriff der Anerkennung besteht bei Hegel also „aus einer Dialektik des Sich-selbst-Findens im Anderen und der Distanzierung vom Anderen […]. Anerkennung ist für Hegel eine Synthese aus Assimilation und Distanz“84. Hegel macht darüber hinaus deutlich, dass Anerkennung symmetrisch-reziprok und reflexiv angelegt ist, da Subjekte sich nicht nur gegenseitig anerkennen, sondern sich gegenseitig als anerkennend anerkennen.85 Allerdings führt dieser Prozess der Entstehung des Selbstbewusstseins nicht unmittelbar in eine vernünftige Welt geteilter Gründe. Die Erzeugung eines solchen Raumes findet in der Theorie Hegels erst durch den Kampf statt, den die Subjekte aufgrund ihrer Einsicht in ihre wechselseitige Abhängigkeit führen müssen. Das Charakteristikum des phänomenologischen Anerkennungsbegriffs besteht darin, dass Anerkennung in einer Stufenfolge der Erfahrungen defizitärer Anerkennungsverhältnisse realisiert wird, in einem Kampf um Anerkennung.86

      Dieser Kampf um Anerkennung ist die Folge der Detranszendentalisierung der Anerkennung. Ein Subjekt lernt Teile seiner eigenen Identität kennen und setzt diese dem Anderen wiederum in dem Maße als Unverwechselbares entgegen, in dem es sich in seinen Fähigkeiten und Eigenschaften durch ein anderes Subjekt anerkannt weiß. In dieser Logik liegt nun eine weitere Stufe bzw. Dynamik: dadurch, dass Subjekte im sittlichen Verhältnis der reziproken Anerkennung stets etwas Neues über ihre eigene Identität erfahren, müssen sie die erreichte Stufe der Sittlichkeit auf konflikthafte Weise wieder verlassen bzw. überschreiten, um zu einer weiteren, anspruchsvolleren Anerkennung ihrer Identität zu gelangen. Damit ist das Anerkennungsverhältnis, welche einem sittlichen Verhältnis zwischen Subjekten zugrunde liegt, durch einen Prozess der sich ablösenden Schritte von Versöhnung und Konflikt gekennzeichnet.87 Damit ist dieses sittliche Verhältnis zwischen zwei Subjekten aber auch mit einem moralischen Potential aufgeladen, „das sich nicht mehr einfach aus einer zugrundegelegten Natur der Menschen, sondern aus einer besonderen Art der Beziehung zwischen ihnen ergibt: was der menschlichen Lebensform von Anbeginn an im Sinne einer existierenden Differenz als eine normative Spannung zugrundeliegen soll, sind die moralischen Ansprüche, in denen Subjekte wechselseitig voneinander die Anerkennung ihrer Identität einfordern“88.

      Sobald aber die sozialen Lebensformen des Menschen als verletzbare Beziehungen einer reziproken Anerkennung gedacht werden, kann auch der Kampf um Anerkennung nicht mehr im hobbesschen Sinne als Kampf aller gegen alle, als bloßer Selbsterhaltungskampf gedacht werden. In der hegelschen Uminterpretation ist der Kampf um Anerkennung selbst ein sittliches Geschehen, da er strukturell auf das Ziel der intersubjektiven Anerkennung hin ausgerichtet ist.89 In diesem Bildungsprozess des menschlichen Geistes zeichnet sich die Organisationsform der sittlichen Gemeinschaft bzw. eines Gemeinwesens ab, für das Hegel den Begriff der „wechselseitigen Anschauung“ verwendet: Das Individuum schaut sich in jedem als sich selbst an. Damit erreicht Hegel ein Modell der Anerkennung, das über eine bloß kognitive Form hinausgeht, reziproke Beziehungen zwischen Subjekten umfasst und bis ins Affektive hineinreicht. Der Kampf um Anerkennung, der soziale Konflikt zwischen Subjekten bildet somit moralische Antriebsbasis und Potential eines Bildungsprozesses, der schrittweise zu einer immer weitergehenden Anerkennung führt. Anerkennung ist eine Bewegung, die eine Reihe von Stufen der individuellen Bewusstseinsbildung und der menschlichen Kulturgeschichte umfasst. Außerdem beschreibt Hegel Anerkennung als einen teleologischen Prozess, „der bei ungestörtem Verlauf ein Individuum zum Bewusstsein seiner vernünftigen Subjektivität und seiner Stellung in einer vernünftig verfassten Rechts-, Staats- und Kulturgemeinschaft bringen kann“90. Der Kampf um Anerkennung führt letztendlich „zu einer Anerkennung der sich gleichermaßen als schuldig bekennenden Subjekte, die die Anerkennungstheorie der Phänomenologie zum Abschluss bringt. Sie besteht in der Einsicht in die Ungerechtigkeit der moralischen Subjekte gegeneinander und vollzieht sich als wechselseitiger Verzicht auf die Absolutsetzung des eigenen moralischen Standpunkts. In der ‚Verzeihung‘91 verzichten die moralischen Subjekte darauf, die anderen in ihrer Einzelheit nur an dem eigenen für allgemeingültig ausgegebenen moralischen Maßstab zu messen und anerkennen sich in ihrer unverwechselbaren moralischen Individualität, […]“92. Damit wird die Anerkennungsstruktur erreicht, die Hegel schlussendlich als absoluten Geist bezeichnet, in welcher das Bewusstsein sich als Ende und Anfang seiner eigenen Bewegung begreift. Der absolute Geist sind die Selbstbewusstseine selbst, „aber nicht als bloße Ansammlung oder Menge von Einzelpersonen, als bloßes distributives Kollektiv, sondern als eine Gemeinschaft, in welcher die Formen der Vernunft […] zu einer einheitlichen Menschheit verbunden sind. […] Er [der absolute Geist | BK] existiert sozusagen als vergegenwärtigte Vollzugsform des Menschseins“93.

      Honneth übernimmt diese positive Auffassung des Kampfes um Anerkennung, grenzt sich allerdings klar von den vernunftidealistischen Voraussetzungen Hegels ab, die sich unter den Bedingungen nachmetaphysischen Denkens nicht mehr aufrechterhalten lassen und legt sich somit auf das von Habermas entworfene nachmetaphysische Paradigma der Philosophie fest.94 Deswegen muss er in seiner sozialphilosophischen Aktualisierung des intersubjektivitätstheoretischen Gedankens Hegels dessen Interpretation des Kampfes um Anerkennung wieder aufgreifen und versucht ihn durch eine empirisch fundierte Phänomenologie von Anerkennungssphären von metaphysischen Bezugnahmen zu befreien.95

      Dafür greift Honneth auf den Sozialpsychologen George Herbert Mead zurück, welcher der hegelschen Idee des Kampfes um Anerkennung die notwendige sozialpsychologische Grundlage verschafft.96 Das gesellschaftliche Fortschrittsschema, welches sich im Anwachsen von individueller Autonomie zeigt, muss nicht mehr im hegelschen Sinne als idealistisch-geistiger Vorgang verstanden, sondern kann als Ergebnis eines historischen Prozesses interpretiert werden, der seine Motivation aus individuell geführten Anerkennungskämpfen gewinnt, zu welchen die Subjekte genötigt werden. Mead stimmt mit Hegel darin überein, dass eine Gesellschaft sich nur dann reproduzieren kann, wenn ihre Individuen durch ein ausreichendes Maß reziproker Anerkennung ein stabiles Selbstverhältnis ausbilden können. Deswegen kommt dem Kampf um Anerkennung eine strukturbildende Kraft zu, da er die gesellschaftliche Praxis bildet, in welcher Individuen sich für eine Erweiterung der rechtlichen Anerkennungsverhältnisse einsetzen und somit das moralische Wachstum einer Gesellschaft befördern.97 Honneth schließt sich Hegel und Mead, deren Theorien kritisch rekonstruierend und aktualisierend, in ihrer Unterscheidung dreier verschiedener Ebenen der wechselseitigen Anerkennung an, wodurch er eine Typologie gesellschaftlicher Anerkennungsverhältnisse entwerfen kann, die sich unterschiedlichen Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion zuordnen lassen und außerdem durch empirische Befunde gestützt werden sollen.98 Kritik übt Honneth dahingehend, dass beide Autoren dem negativen Äquivalent der Anerkennung, nämlich den verschiedenen Formen der Missachtung von Menschen, nur unzureichend systematisches Gewicht zuerkennen. Gerade die Missachtungserfahrungen sind aber für die Dynamik von Kämpfen um Anerkennung und die Entwicklung von Anerkennungsbeziehungen von zentraler Bedeutung.99

      Die Grundstruktur der intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen, welche die Voraussetzung für eine gelungene Selbstidentität bildet, ist durch drei verschiedene Interaktionssphären gekennzeichnet. Die historische Ausdifferenzierung dieser Anerkennungssphären ist nicht nur die Voraussetzung und Kennzeichen der bürgerlichkapitalistische Gesellschaftsform, sondern die wechselseitige Anerkennung in diesen Sphären ist außerdem jeweils dazu bestimmt, einer bestimmten Art individueller Selbstbeziehung zur Entfaltung zu verhelfen, wobei unterschiedliche personale Qualitäten hervorgehoben werden. Die ausdifferenzierten Anerkennungssphären werden dabei als in den entsprechenden Sozialbeziehungen unhintergehbare Integrationsmechanismen verstanden, die ein Wissen davon vermitteln, was Menschen zu einer erträglichen Teilhabe am gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Leben benötigen und was ihnen deswegen nicht verwehrt werden darf.100

      Jede


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