Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens. Hans-Joachim Höhn

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ist eine andere Lösung möglich. Bei der Vermittlung göttlicher Instruktionen kann der Inhalt des einst Mitgeteilten weitergegeben werden, ohne den ursprünglichen Akt der Mitteilung einer Information wiederholen zu müssen. Hier genügt es, eine originalgetreue Abschrift der ursprünglichen Mitteilung anzufertigen und zu tradieren.67 Wenn aber der Inhalt der Offenbarung mit ihrem Akt koinzidiert, ist es unabdingbar, zum Akt der Offenbarung Zugang zu erhalten. Wenn also Schrift, Tradition und Dogma relevant sein wollen für die Vergegenwärtigung des Glaubensgrundes, dann müssen sie verweisen auf die Reaktualisierung der Einheit von Vollzug und Gehalt der Selbstoffenbarung Gottes.

      Schrift, Tradition und Dogma sind nur insoweit normativ für die Weitergabe des Glaubens, als sie selbst der Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung gerecht werden bzw. in deren Dienst stehen.

      Die Vermittlung des christlichen Glaubens (fides quae) entspricht also nur dann der Verkündigung Jesu, wenn sie selbst die Verlaufsform unbedingter Zuwendung zum Menschen annimmt. In ihrem Zeugnis muss sie vollziehen, was sie bezeugt. Mehr noch: Wenn die Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth bestimmt ist durch die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung, dann kann es eine Weitergabe und Vergegenwärtigung dieser Offenbarung nur geben, wenn diese Koinzidenz tradiert werden kann.

      3.1. Heilige Schrift: Den Glauben bezeugen

      Die bisher in immer neuen Anläufen verdeutlichte Korrespondenz und Koinzidenz von Vollzug und Gehalt bei der Weitergabe des Evangeliums stellt zweifellos eine problemerzeugende Problemlösung dar. Sie gibt eine Antwort auf die Herausforderung einer zeitversetzten Gleichzeitigkeit mit dem Grund-Geschehen des Christentums. Aber sie muss sich auch fragen lassen, ob sie zureichend abgesichert ist und nicht vielleicht eine Reihe von problematischen Sachverhalten unterschlägt. Dies gilt zunächst und vor allem für die Bestimmung von Autorität und Normativität der Hl. Schrift als ursprünglicher Partitur einer Vergegenwärtigung des „Wortes Gottes“. An ihr vorbei ist demnach das „Wort Gottes“, wie es in der Verkündigung Jesu vergegenwärtigt wurde, nicht zugänglich. Sie ist somit nicht in einem beliebigen Sinn autoritativ oder normativ für den Glauben, sondern nur in dem Sinn, in dem es ihr um die Zusage von Gottes Zuwendung zum Menschen geht. Zur Einlösung dieses Anspruchs bedarf es der Praxis ihres Inhaltes, d. h. unbedingter Zuwendung zum Menschen.

      Gegen diese These sind gewichtige Einwände denkbar, die es auf den ersten Blick fraglich erscheinen lassen, ob sie tatsächlich Bestand haben kann:

      – Ist es statthaft, in der Reflexionsfigur „Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter Zuwendung Gottes zum Menschen“ die Grundaussage nicht bloß des Neuen Testamentes, sondern der ganzen Bibel zusammenzufassen? Lässt sie sich wirklich auf sämtliche „Bücher“ der Bibel beziehen?68 Wie ist mit jenen biblischen Texten umzugehen, die eine ganz andere Geschichte erzählen: die Gottverlassenheit des Menschen, die Erfahrung der Abwendung Gottes von den Menschen, Gottes Zorn über die Abwendung der Menschen von Gott?69

      – Verdient das Neue Testament wirklich das ursprüngliche Zeugnis der christlichen Verkündigung genannt zu werden, wenn doch jeder seiner einzelnen Schriften eine Phase der mündlichen Tradition der Jesusbotschaft vorausging und die Zusammenstellung eines Kanons der biblischen Schriften bis zu seiner Endredaktion mehrere Jahrhunderte brauchte?70 Wie kann man sicher sein, dass tatsächlich die ältesten Zeugnisse aus der Ursprungszeit des Christentums erfasst wurden?

      – Verdankt das Neue Testament seine Autorität und Normativität wirklich sich selbst und nicht einem Konsens kirchlicher Autoritäten, die einen verbindlichen Schriftkorpus (Kanon) zusammengestellt haben?71 Steht dies nicht im Widerspruch zur Behauptung, die Hl. Schrift sei „norma normans“ der Verkündigung bzw. die Kirche stünde nicht über dem „Wort Gottes“?

      Diese Anfragen entstammen theologischen Debatten, die weit über das Feld einer Topologie des christlichen Kerygmas hinausgehen. Zum Teil werden sie von Seiten der Religionskritik immer wieder neu an die Theologie adressiert, wenn es etwa um das Gewaltpotenzial der biblischen Gottesrede geht.72 Zu einem anderen Teil rühren sie an das Verhältnis von Exegese und Dogmatik,73 tangieren Anspruch und Alternativen historisch-kritischer Bibelhermeneutik74 oder erinnern an lang zurückliegende, aber vielleicht noch immer virulente christlich-konfessionelle Differenzen und Kontroversen.75 Auf diese Kontexte kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden; im Rahmen einer vorläufigen Antwort auf die oben formulierten Einwände sind sie zudem nur von mittelbarer Bedeutung.76

      (1) Zunächst ist festzuhalten, dass nicht das Neue Testament in seiner Schriftgestalt unmittelbarer Ausdruck des „Wortes Gottes“ ist. Zunächst bildet es samt und sonders den schriftlichen Niederschlag menschlicher Erfahrung und Deutung des Wirkens Jesu. Als ein solches Zeugnis ist es selbst „Gottes Wort im Menschenwort“77, indem und insofern es das Leben und Wirken Jesu als „Wort Gottes in Person“ vergegenwärtigt. In ähnlicher Weise ist vom Alten Testament zu sagen, dass es der Niederschlag einer menschlichen Resonanzerfahrung von Gottes Schöpferwort ist. Es erinnert an das bleibende gegenseitige „Im-Wort-Sein“ von Gott und Mensch und es verschweigt jene Situationen nicht, die als Wortbruch Gottes wie des Menschen erlebt werden können. Es macht eindrücklich klar, dass auch dem glaubenden Menschen nichts erspart bleibt an Krankheit, Leid und Gewalt. Auch die Erfahrung der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins hat ihren Ort in den „Resonanzen“, die das Hören auf das Wort Gottes auslöst.

      Wenn es überhaupt eine Grundaussage einer gesamtbiblischen Theologie geben kann, dann wird sie den „Wortcharakter“ der Schöpfung bzw. das gegenseitige „Im-Wort-Sein“ von Schöpfer und Geschöpf zum Thema haben müssen.78 Dann aber wird man den performativen Charakter dieses Wortes zu bedenken haben und damit einen hermeneutischen Schlüssel gewinnen, der die unterschiedlichen Texte der Bibel jeweils nach ihrer Eigenart als Zuspruch und Anspruch dieses Wortes deutbar macht, aber auch jenes nicht auslässt, was im Modus des Widerspruchs zu vermeintlich letzten Worten über Mensch und Gott von den Texten selbst artikuliert wird.

      Das biblische Reden von Gott ist allerdings so facettenreich, dass es jeder Behauptung „so und nicht anders ist Gott“ widerstreitet. Die Bibel schärft immer wieder ein: „Nicht so, sondern anders ist Gott“. Das gilt auch für die Rede von der Liebe Gottes – es ist eine andere, eine durchkreuzte und gekreuzigte Liebe, in der sich ein Mensch der Erfahrung von Leid und Gewalt zum Trotz geborgen wissen soll. Diese Liebe wird dem Menschen im Modus eines Versprechens zugesagt. Es macht die Eigenart eines Versprechens aus, dass man seine Einlösung unterstellen muss in Situationen, die gegen seine Erfüllung sprechen. Wer ein Versprechen annimmt, muss das Versprochene kontrafaktisch als eingelöst annehmen. Wer ein Versprechen gibt, muss von dem, der es annimmt, bereits als jemand angesehen werden, der es hält – auch wenn die Umstände noch nicht darauf schließen lassen.

      Vor allem ist die Bibel auch Ausdruck dafür, dass sich der Mensch von Gott zur Rede stellen lässt. Darum ist sie Ausdruck seiner vielfältigen Antwort auf Gottes Schöpferwort. Diese Antwort umfasst alle Themen und Formen, die auch der betende Mensch kennt und praktiziert: Lob und Dank für den erfahrenen, wohltuenden Unterschied zum eigenen Nichtsein und zu einem „gottverlassenen“ Leben, aber auch Bitte und Klage angesichts des Bedrohtseins vom eigenen Nichtsein und von der Erfahrung bedrängender Gott- und Menschenverlassenheit.

      (2) Die Ergebnisse historisch-kritischer Bibelforschung nötigen in der Tat zu einer Präzisierung, was die Priorität und den Primat des Neuen Testamentes für die Weitergabe der christlichen Botschaft betrifft. Sie kann nicht in einem historischen Sinn als deren ursprüngliches Zeugnis, wohl aber als Zeugnis des Ursprungs gelten. Auch das Postulat der apostolischen Verfasserschaft ist im historisch-kritischen Sinn für etliche Schriften des Neuen Testamentes nicht erfüllbar. Dies würde aber nur dann ihre Relevanz und Autorität schmälern, wenn dafür das formale Kriterium der „Anciennität“ ausschlaggebend wäre. Wenn aber gilt, dass formale Kriterien nicht abgelöst von materialen Überlegungen in Stellung gebracht werden dürfen, dann genügt für den kanonischen Status von Texten das Bestehen folgender Testfrage: Haben die zum Zeitpunkt der Kanonisierung ältesten verfügbaren und bis dahin im katechetischen


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