Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens. Hans-Joachim Höhn

Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens - Hans-Joachim Höhn


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dass die Botschaft Jesu mit einem Puzzle vergleichbar ist, bei dem sich ein vollständiges Bild erst dann ergibt, wenn alle Puzzlestücke zusammengesetzt wurden.79 Das christliche Kerygma besteht aber nicht aus einer Addition von Textteilen zu einem Gesamttext, sondern aus der Koinzidenz von Vollzug und Gehalt einer unbedingten Selbstzusage Gottes. Wenn diese Koinzidenz im Blick auf die Texte des Neuen Testamentes nicht aufweisbar bzw. performativ nicht darstellbar ist, hilft eine noch so große Sammlung von „kanonischen“ Schriften nicht weiter. In diesem Fall wäre sie aus theologischer Sicht formal und material „unvollständig“.

      (3) Die Zusammenstellung des Kanons der neutestamentlichen Schriften stellt aus heutiger Sicht ihrerseits eine problemerzeugende Problemlösung dar. Gelöst werden musste das Problem, dass bereits im 2. Jahrhundert eine Situation der „literarischen Unübersichtlichkeit“ eingetreten war und etliche Texte kirchlich im Umlauf waren, die unter gnostischem Einfluss auf eine Rückbindung an das geschichtliche Ursprungsgeschehen der christlichen Verkündigung kaum mehr Wert legten. Von der Kirche zu leisten war eine Antwort auf die Frage: Anhand welchen Kriteriums lässt sich ermitteln, ob ein Text überhaupt in den Korpus der Heiligen Schrift aufgenommen werden soll? Die Entdeckung eines solchen Kriteriums ist in der Tat die Leistung der Kirche. Dies gilt auch für den Akt der Aufstellung eines Kanons. Hierbei handelt es sich um ein historisch kontingentes Geschehen.80 Woran die Kirche dabei aber Maß nimmt, ist nicht sie selbst. Auch ist nicht der Kanon als solcher maßgebend, sondern in und mit dem Prozess der Kanonbildung findet die Kirche den Maßstab, an dem Maß zu nehmen ist, wenn sie das Maßgebliche des Glaubens ermitteln will. Als Prüfstein gilt die Frage: Enthält ein Text die Wahrheit, die Gott den Menschen um ihres Heils willen mitteilen wollte?81 Ist es eine Wahrheit, auf die ein Mensch sich im Leben und Sterben verlassen kann? Hierbei geht es fraglos nicht um ein Heil, das von der Kirche kommt, und es geht auch nicht um Texte, die allein wegen ihrer apostolischen Verfasserschaft heilsrelevant sind.

      Käme es allein auf das Kriterium der Apostolizität an, würde der bestehende Kanon ein Problem erzeugen, das sich angesichts der Ergebnisse historisch-kritischer Forschung verschärft: Zu den 27 Schriften des Neuen Testamentes zählen etliche Paulusbriefe, denen keine apostolische Verfasserschaft zukommt. Es fehlen hingegen Texte, wie etwa der erste Clemensbrief oder der „Hirt des Hermas“, die durchaus in die apostolische Zeit zurückweisen. Stattdessen ist der 2. Petrusbrief aufgenommen worden, dessen Entstehungszeit bereits ins 2. Jahrhundert fällt. Unberücksichtigt bleiben dagegen ein Petrus-, Thomas- und Jakobusevangelium, die möglicherweise authentische Jesusworte enthalten.

      Dass es dennoch beim bestehenden Kanon bleiben kann, lässt sich kaum anders rechtfertigen als durch die bereits benannte „regula fidei“: Die kanonisierten Texte sind Partituren für die Tradition der Koinzidenz von Vollzug und Gehalt des christlichen Kerygmas. Dass sie unter dieser Rücksicht ein Bezeugungsort der Heilszusage Gottes ist, macht die Autorität der Hl. Schrift aus. Dass die Kirche diese Autorität anerkennt, begründet die Normativität des Kanons für die Vermittlung des christlichen Glaubens. Aber nicht der Kanon als solcher ist maßgebend für Theologie und Kirche. Seine regulative Bedeutung besteht vielmehr darin, dass er angibt, wo und wie der normative Maßstab für die Übersetzung des christlichen Kerygmas in andere Formen der Verkündigung und Glaubenspraxis zu suchen und zu finden ist.

      Nicht zuletzt aus diesem Grunde muss auch die Kategorie der Inspiration einer Revision unterzogen werden. Seitdem sie theologisch eingeführt wurde, musste sie hinsichtlich ihrer supranaturalistischen Annahmen sukzessive abgeschwächt werden. Weder ließ sich die Behauptung der Inspiriertheit des konkreten Wortlautes (Verbalinspiration) aufrechterhalten, noch hatte die Version der Personalinspiration mit Bezug auf die Verfasser der Schrift für längere Zeit Bestand.82 Problematisch an diesen Konzepten ist der Versuch, die herausgehobene Bedeutung der Hl. Schrift durch einen besonderen, äußeren Umstand ihrer Entstehung zu legitimieren. Die „Inspiration“ von Text und Autor wird gedacht im Modus einer Überbietung des menschlichen Anteils am Zustandekommen von Texten durch eine göttliche Zutat oder ein spezielles göttliches Mitwirken. Auf diese Weise wird „Inspiration“ zur Kennzeichnung eines formalen Merkmals der Hl. Schrift oder ihrer Entstehung: Die Verfasser der biblischen Texte wurden von Gott in besonderer Weise dazu autorisiert, so dass diesen Texten eine besondere Autorität zukommt.

      Was die biblischen Texte zum Bestandteil einer „Heiligen Schrift“ macht, muss aber hinsichtlich ihrer Autorschaft keineswegs so gedacht werden, dass Gott einem Menschen durch einen interventionistischen Akt die passenden Worte eingibt, mit guten Einfällen versorgt oder auf eine neue Idee bringt. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass das „Im-Wort-Sein“ von Gott und Mensch, das Kennzeichen der Schöpfung ist, nochmals überboten wird. Wenn aber Gottes daseins-, identitäts- und freiheitsbegründendes Schöpferwort bereits unüberbietbar ist, ist dieses Konzept nicht haltbar. Stattdessen muss gesagt werden: In der „Inspiration“ der Schrift findet die Unüberbietbarkeit des Im-Wort-Seins von Schöpfer und Geschöpf ihren Ausdruck. Sie fügt dem Im-Wort-Sein von Gott und Mensch nichts hinzu oder relativiert es, sondern manifestiert es, d. h. bringt es selbst zur Sprache. „Inspiriert“ vom Geist Gottes ist die Welt bereits durch das Sprachereignis der Schöpfung (vgl. Gen 1,1,ff.; Ps 33,6; Ps 104,30). Gottes Geist „erfüllt die Erde und umschließt alles“ (Weish 1,7). Es ist der Lebensatem des Allmächtigen, der „im Menschen ist und ihn verständig macht“ (Hiob 32,8). Der Atem des sprechenden Gottes ist der Atem der Schöpfung (vgl. Jdt 16,14). Die theologische Verwendung der Kategorie „Inspiration“ ist demnach auf diese Elementarbestimmung von Mensch und Welt zu beziehen, die für die Schöpfung konstitutiv ist und in allen weiteren Bestimmungen des Gott / Welt-Verhältnisses zum Ausdruck kommt.

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      Die Rede von der Inspiration der Hl. Schrift ist aber so lange unvollständig und missverständlich, wie sie nicht auch in Beziehung gesetzt wird zum materialen Moment des „Im-Wort-Seins“ und zum materialen Aspekt der Autorität biblischer Texte. Hierbei geht es um nichts anderes als um die Heilswahrheit der Selbstzusage Gottes im Modus unüberbietbarer Zuwendung. Dies gilt auch für die behauptete „Irrtumslosigkeit“ (Inerranz) der Hl. Schrift. Diese Eigenschaft kommt der Hl. Schrift nur in dem Sinne zu, dass man sich auf das, wovon sie spricht, im Leben und angesichts des Todes existenziell verlassen kann.

      Es handelt sich bei der Rede von der „Inspiration“ und „Irrtumslosigkeit“ der Hl. Schrift somit nicht um eine äußerlich hinzukommende Garantie oder Beglaubigung ihrer Wahrheit, sondern um die Qualität der von ihr bezeugten Wahrheit.83 Gemeinschaft mit Gott lässt sich gar nicht anders aussagen als vom Geist Gottes getragen und als existenziell unbedingt verlässlich. Und nur solche Texte verdienen „Heilige“ Schrift genannt zu werden.

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