Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens. Hans-Joachim Höhn
1. Lebenszeichen – Glaubenszeichen: Theologie im semiotic turn
1.1. Entsprechungen: Sein – Sinn – Sprache
1.2. Beziehungen: Existenz – Symbol – Glaube
2. Zeichen, die zu denken geben: Theologisch-semiotische Diskurse
2.1. Reflexionsbedarf: Geltungsansprüche ansprechen!
2.2. Theoriekritik: Problemerzeugende Problemlösungen?
Epilog: Gute Theologie – eine Stilfrage?
I.
Einstieg: Die Intelligenz des Glaubens
Die Fundamentaltheologie interessiert sich um der Sache des Glaubens willen für die Sache der Vernunft. Darum ist sie der Ort einer doppelten Interessenvertretung – der Interessen der Vernunft und des Glaubens. Als Interessenvertretung der Vernunft versteht sich jedoch auch die Religionskritik. Sie konfrontiert und provoziert Theologie und Glaube mit dem Vorwurf, Defizitgestalten einer vernunftgemäßen Einstellung zur Wirklichkeit zu sein. Religiösen Menschen wird attestiert, dass sie an einer Unterfunktion ihres Vernunftvermögens leiden und dass sie darum außer Stande sind, ihr Leben im Zeichen von Aufklärung und Mündigkeit zu führen. Wo Religionskritiker nicht den erwünschten Erfolg haben, halten sie für ihren Misserfolg eine wiederum religionskritische Antwort parat: Die Aufklärung über Religionsdefizite bleibt erfolglos, weil religiöse Menschen an ihrem Glauben umso bornierter und fanatischer festhalten, je größer ihre Vernunftdefizite sind. Sie bemerken diesen Mangel noch nicht einmal.
Weniger rigoros und unversöhnlich ist die Haltung, die Vertreter einer kritischen Religionsphilosophie einnehmen, wenn sie ebenso aufgeschlossen wie skeptisch religiöse Daseinsdeutungen auf ihre Modernitätskompatibilität befragen. Aber auch ihr Urteil fällt letztlich negativ aus, wenn es darum geht, dem Glauben eine eigene Intelligibilität zuzuerkennen. So vermag für J. Habermas die Vernunft sich nur unvollständig des Glaubens anzunehmen, weil er wegen seines „opaken“ Charakters seinerseits nur unvollständig Vernunft anzunehmen vermag. „Das nachmetaphysische Denken verhält sich zur Religion lernbereit und agnostisch zugleich. … Aber eine Apologie des Glaubens mit philosophischen Mitteln ist nicht Sache der agnostisch bleibenden Philosophie. Bestenfalls umkreist sie den opaken Kern der religiösen Erfahrung, wenn sie auf die Eigenart der religiösen Rede und den Eigensinn des Glaubens reflektiert. Dieser Kern bleibt dem diskursiven Denken so abgründig fremd wie der von der philosophischen Reflexion auch nur eingekreiste, aber undurchdringliche Kern der ästhetischen Anschauung.“1
Sehen sich religiöse Menschen von den Wortführern einer aggressiven Religionskritik2 auf groteske Weise verunglimpft, kontern sie den Vorwurf der Vernunftpathologie meist mit der Diagnose, dass die Religionskritik selbst pathologische Züge trage.3 Damit ist vorerst ein Patt hergestellt, das zwar keinen Gleichstand in der Sache bedeutet, aber immerhin deutlich macht, dass ein solcher Stil kaum sachdienlich ist. Gegen weniger verächtliche Kritiker des Glaubens bringt jedoch nicht die Schärfe der Sprache, sondern nur eine geschärfte Argumentation etwas ein. So ist etwa gegen Hinweise auf die Opazität des Glaubens deutlich zu machen, dass sie sowohl dem Glauben als auch der Vernunft zu wenig zutrauen: Wo die Wissenschaft auf Opakes trifft, sind höchst unterschiedliche Stufen des Durchdringens möglich. Die Kategorie der Opazität steht in der Physik für eine graduelle optische Transparenz bzw. bezeichnet den Grad der Lichtabsorption. Opak sind in diesem Sinne auch Gegenstände und Medien, die zwar nicht durchsichtig, aber doch lichtdurchlässig sind. Wenn die Philosophie auf solche Phänomene stößt, muss sie damit rechnen, dass diese das Licht der Vernunft nicht abblocken, sondern es durch sich hindurchgehen (und auf anderes fallen) lassen. Das gilt auch für die Religion. Wenn sie der Aufklärung auf dem ersten Blick im Wege steht, so kann diese ihren eigenen Weg gleichwohl durch sie nehmen.
Um die Besonderheit des Verhältnisses von Philosophie und Religion, Theologie und Glaube genauer zu erfassen, ist die Lichtmetaphorik vor allem dann hilfreich, wenn man sie anhand eines Beispiels aus der Ästhetik variiert: In der Theologie wird der Glaube so betrachtet, als wäre er ein Fenster, das aus vielen bunten Scheiben zusammengesetzt ist, die ein Bildmotiv erkennen lassen. Der Zweck eines solchen Fensters besteht nicht darin, einen Blick von innen nach außen gehen zu lassen, um etwas zu erkennen, das sich außerhalb des Raumes befindet – oder umgekehrt nach Art eines Schaufensters den Blick von außen auf Objekte innerhalb eines Raumes zu ermöglichen. Ein Buntglasfenster hat zwar auch die Funktion, Licht in einen Raum zu lassen. Aber es will diesen Raum nicht primär hell und licht machen. Und es ist auch nicht dazu da, dass man durch es ins Freie sehen kann. Vielmehr will es durch den Lichteinfall sichtbar machen, was es selbst zeigen kann bzw. was „in ihm steckt“.4 Das einfallende Licht soll gebrochen werden, damit betrachtet werden kann, was es in und mit dem Fenster zu sehen gibt.
Würden Philosophie und Religionskritik ihr Interesse an Aufklärung so verstehen, dass sie nur Fenster akzeptieren, die einen klaren Durchblick ermöglichen und ungetrübt den Blick freigeben auf Dinge, die sich dahinter befinden, müssten sie ein Buntglasfenster so bearbeiten, dass sie alles an ihm tilgen, was den klaren Blick mindert oder verhindert. Alles Farbige an ihm müsste entfernt werden. Jede farbige Scheibe müsste ersetzt werden durch Klarglas. Nur so kann gesichert werden, dass das Fenster seine vermeintlich eigentliche Funktion optimal erfüllt: wahrnehmbar zu machen, was jenseits des Fensters ist. Um solche klaren Aus- und Einblicke zu ermöglichen, müssen Buntglasfenster letztlich beseitigt und durch funktionale Äquivalente ersetzt werden. Dann aber wird genau das zerstört, was das bunte Fenster eigentlich zeigen wollte. Das Einzige, das in einem solchen Fenster bei entsprechendem Lichteinfall konturenscharf zu sehen ist, steckt nämlich im Fensterbild und nicht dahinter.
Trifft dieser Vergleich zu, dann muss die Theologie daran interessiert sein, dass möglichst viel Licht möglichst intensiv auf den Glauben fällt, damit erkennbar wird, was er aufzeigen will. Philosophie und Religionskritik kommen auf diesem Weg mit ihrer aufklärerischen Absicht ebenfalls an ihr Ziel. Entweder wird im Licht der Vernunft klar, dass der Glaube nichts Ansehnliches vorzuweisen hat. Oder der Vernunft geht auf, dass der Glaube etwas sichtbar macht, das es wert ist, genauer in Augenschein genommen zu werden.
Einer theologischen Epistemologie wird vor diesem Hintergrund klarer werden, was um der Sache des Glaubens und der Vernunft willen zunächst von ihr erwartet wird: Sie muss verdeutlichen, dass hinter dem Glauben eine eigene Praxis, eine eigene Technik des Zeigens und Sehenlassens steht, für die sich auch die Vernunft interessieren kann. Es handelt sich dabei um eine Praxis, die dem Menschen etwas für ihn Bedeutsames aufgehen lässt.
Bevor es dabei um bestimmte Inhalte des Glaubens (fides quae) geht, muss der Vollzug des Glaubens (fides qua), d. h. die mit einer bestimmten Einstellung zur Wirklichkeit verbundene Praxis, als vor der Vernunft verantwortbar aufgezeigt werden. Zu klären ist, ob es ein für die Vernunft einsichtiges existenzielles und epistemisches Problem gibt, auf das der Glaube Bezug nimmt. Im Zentrum steht dabei die Überlegung: Für welche Sinn-Frage will er eine Antwort anbieten? Welches Bild vom Leben, von Grund, Richtung und Ziel menschlichen Daseins will der Glaube zeigen? Welches Licht muss auf das Sinn-Bild des Glaubens fallen, damit sichtbar wird, was man mit ihm und in ihm sehen kann? Wie muss man auf dieses Bild und mit diesem Bild auf das Leben des Menschen im Ganzen blicken, um dabei jene Perspektive zu entdecken, aus der die Antworten des Glaubens auf Lebensfragen einleuchten?