Eine Zukunft für meine Kinder. Pacem Kawonga
Wir wohnten in einem schönen Haus, das uns von der Regierung zugewiesen worden war und nichts mit den Baracken und Hütten gemeinsam hatte, von denen das Umland übersät war. Für mich war Mulanje eine »neue Welt«, die ich fasziniert beobachtete. Sie machte mich neugierig und zog mich magisch an. Mir wurde bewusst, dass sich mein Horizont Schritt für Schritt erweiterte. Die Menschen, die zu uns kamen, um mit meinem Vater zu sprechen, hatten ihre Geschichten, kamen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und kämpften mit vielerlei Problemen, auch wenn ihre Sorgen, um ehrlich zu sein, größtenteils um die Ernährung kreisten. Damals begann ich die Welt und ihre Bewohner zu entdecken und die Unterschiede zu erkennen, die sie charakterisierten. Da waren die Armen und die Reichen, die Ehrlichen und die Gauner, die Faulen und die Fleißigen … Zum ersten Mal sah ich über die Mauer jener kleinen, geschützten Welt hinweg, in der ich aufgewachsen war. Zum ersten Mal begegnete ich dem echten Leben, dem Leben der ländlichen Bezirke, wo etwa 80 Prozent der Bevölkerung lebten ; dem Leben der Bauern und Viehzüchter und all der Menschen, die sich durchschlagen und anstrengen und Tag für Tag immer wieder neu um ihre Zukunft kämpfen mussten.
Ich weiß nicht, ob meine Mutter glücklich war. Sie war eine sehr zurückhaltende Frau und folgte meinem Vater ohne Kommentare und ohne Klagen. Doch ihm merkte man die Unzufriedenheit an. Er setzte alles daran, die Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen nicht zu verlieren : Die meisten waren Funktionäre, die wie er selbst aus dem Norden stammten und Positionen in Sichtweite der Regierung bekleideten, oder ehemalige Studienkollegen. Es half. Sie setzten sich für ihn ein. 1992 wurde er zum stellvertretenden Sekretär des Finanzministeriums in Lilongwe ernannt. Wir kehrten zurück in den zehnten Bezirk, und nach meinem achten Schuljahr erhielt ich das Abschlussdiplom der Primary School.
Mein Vater meldete mich an einer Privatschule in Rumphi im Norden des Landes an. Miteigentümer dieses renommierten Instituts war Chakufwa Chihana, ein entschiedener Gegner des Präsidenten, der sich – insbesondere nachdem Banda sich 1971 selbst zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt hatte – mit der von ihm gegründeten Partei AFORD, Alliance for Democracy, für Demokratie und freie Wahlen einsetzte. Die politische Lage änderte sich jedoch erst 1992, nachdem die malawische Bischofskonferenz den »Vater des Vaterlandes« in einem Hirtenbrief zum Rücktritt aufgefordert hatte. 1993 stimmte die Bevölkerung in einem Referendum für die Demokratie. 1994 wurde Bakili Muluzi von der UDF (United Democratic Front) zum neuen Präsidenten gewählt.
Ich blieb zwei Jahre in Rumphi. Wenn ich heute als erwachsene Frau auf die damalige Zeit zurückblicke, dann ist mir klar, dass ich als Schülerin weder ernsthaft bemüht noch respektvoll gewesen bin. Ich kam aus einer guten Familie, mir fehlte es an nichts, ich hatte schöne Kleider und immer genug zu essen. Ich begriff nicht, wie wichtig die Ausbildung für meine Zukunft war. Am Lernen lag mir nichts, es interessierte mich nicht. Ich hatte anderes im Kopf. Ich liebte die Musik und das Tanzen und ging oft in die Diskothek. Die Schnelllebigkeit dieser Welt zog mich an und machte mich neugierig. Die Schule war eine Art Internat und nahm einen großen Teil des Tages in Anspruch. Der Unterricht fand morgens statt. Die Nachmittage mussten wir im Klassenzimmer verbringen und lernen, bis es Zeit zum Abendessen war. Es war eine Qual. Ich passte während des Unterrichts nicht auf und machte auch keine Hausaufgaben. Stattdessen redete und lachte ich mit meinen Freundinnen. In diesen Jahren entstanden einige der wichtigsten Freundschaften meines Lebens. Zu einigen habe ich noch heute Kontakt. Wir stehen über das Internet und die sozialen Netzwerke miteinander in Verbindung. Die meisten sind ausgewandert, vor allem nach England, und haben sich ein neues Leben aufgebaut. Ich weiß nicht, ob sie glücklich sind. Wenn wir voneinander hören, dann sagen sie, dass es ihnen gut geht und dass sie eine Arbeit haben, aber wenn ich nachfrage, sind die Antworten vage. Ich habe das Gefühl, dass das Leben eines Malawiers im Ausland nicht gerade leicht ist. Nicht umsonst kommen viele nach einigen Jahren zurück und investieren all ihre Energie und das Wenige, was sie gespart haben, in ihr Heimatland. Andere dagegen sind niemals weggegangen. Sie sind in Malawi geblieben und haben sich mithilfe ihrer Familie oder aus eigener Kraft eine gute Position verschaffen können. Vor einiger Zeit ging ich über die Straße, als ein Mann mit dunkler Sonnenbrille aus einer großen Limousine ausstieg und sich vor mir aufbaute : »Pacem, bist du das ?«, fragte er mich.
Ich hatte ihn nicht erkannt, ich hatte keine Ahnung, wer er war. Ich machte Anstalten, weiterzugehen. Da nahm der Mann seine Sonnenbrille ab und lächelte breit. Es war Kondwani, ein alter Schulfreund, dessen Familie so arm gewesen war, dass sie meinen Vater oft hatte um Hilfe bitten müssen. Er war groß geworden : ein gut aussehender, kräftiger junger Mann, der mit einem teuren Auto herumfuhr und eine Sonnenbrille trug. Das bewies, dass man es auch in unserem Land zu etwas bringen kann, wenn man sich anstrengt, Glück hat oder das bisschen Hilfe, das man bekommt, zu nutzen weiß. Man kann sich aus einer Situation der Armut befreien und sein Leben in die Hand nehmen und selbst gestalten. Man kann sich eine Zukunft sichern. Ich weiß nicht, ob das oft geschieht. Ich glaube nicht. Aber die Möglichkeit besteht. Und das ist schon nicht wenig.
WAS HABE ICH DIR GETAN ?
Mein Vater war sehr zornig über meine bescheidenen schulischen Erfolge. Er warf mir vor, ich hätte mir keine Mühe gegeben, ich hätte ihm schlecht gedankt für sein Vertrauen und für die Opfer, die er gebracht habe, und ich hätte ein so privilegiertes Leben gar nicht verdient : »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte er wieder und wieder, »dass du so oberflächlich bist !« Er meldete mich an einer anderen Schule an, die ebenfalls im Norden lag, in Mzuzu.
Das war weit weg, und so sah ich meine Familie selten, das heißt nur in den Ferien. Bei einem dieser Besuche erlebte ich den ersten echten Streit zwischen meinen Eltern. Nach diesem Streit – sie hatten einander angeschrien, und es waren böse Worte gefallen – kam meine Mutter zu mir und meinen Brüdern ins Zimmer und schlief dort auf dem Boden. Am Morgen danach war ihr Gesicht verweint und ihr Blick verstört. Ich fragte sie, was geschehen sei, doch sie antwortete nicht.
Am Tag danach fanden sich die üblichen »Eheberater« ein – die Verwandten, die sich immer einschalten, wenn ein Paar Probleme hat. Von meinem Zimmer aus hörte ich meine Mutter sagen : »Bevor ich so weiterlebe, gehe ich lieber wieder zurück in mein Dorf.« Ich spitzte die Ohren. Ich lauschte. Ich begriff. Vor unserem Umzug nach Mulanje hatte mein Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau gehabt, seiner Sekretärin. Meine Mutter hatte es herausgefunden und sich gewehrt : Sie hatte dafür gesorgt, dass mein Vater versetzt wurde. Unser Umzug, davon war sie überzeugt, würde der Affäre ein Ende bereiten – doch sie hatte sich getäuscht. Papa drängte seine ehemalige Sekretärin, ihre Stelle zu kündigen, bezahlte ihr die Schwesternschule in Mulanje – und traf sich weiterhin mit ihr.
Von da an sagte meine Mutter jedes Mal, wenn ich wieder zur Schule aufbrach, zu mir : »Pacem, wenn ich nicht mehr da bin, dann sei stark, sei ein braves Mädchen !« Ich war noch sehr jung, nicht einmal 18 Jahre alt, und hielt das Ganze für einen Scherz ; ich dachte, sie wolle mich provozieren und schauen, wie ich darauf reagierte. Als ich im Januar 1995 nach den Ferien wieder nach Mzuzu abreiste, sagte sie : »Pacem, ich werde bald sterben. Ihr werdet mit einer anderen Frau zusammenleben müssen, das wird nicht leicht sein. Kümmere dich um deinen kleinen Bruder.«
Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich dachte, sie wolle mich auf den Arm nehmen oder habe eine Depression. Es war das letzte Mal, dass ich sie lebend sah.
Den Rest der Geschichte habe ich erst nach ihrem Tod von meiner Großmutter erfahren.
Mama war krank gewesen, doch sie hatte mit niemandem darüber sprechen wollen. Auf eigene Faust hatte sie die besten Privatkliniken der Stadt aufgesucht und sich Medikamente verschreiben lassen. An einem Freitag im März war sie ins Bottom Hospital in Lilongwe gegangen. Sie fühlte sich derart elend, dass sie kaum laufen konnte. Man überwies sie sofort an ein anderes Krankenhaus, das Kamuzu Central Hospital. Gleich nach ihrer Ankunft kam eine Schwester in ihr Zimmer und bat sie um die Ergebnisse der im Bottom durchgeführten Blutuntersuchung. Meine Mutter gab sie ihr. Die Frau ging hinaus. Kurz darauf kam sie mit einer Kollegin zurück. Mama lag mit geschlossenen Augen da, schwach, abgemagert und kraftlos. Die Krankenschwestern dachten, sie sei eine ungebildete Frau, und unterhielten sich am Fußende ihres Bettes auf Englisch miteinander.
»Was sollen wir mit ihr machen ?«, fragte