Toter Dekan - guter Dekan. Georg Langenhorst
gewesen. Die leise durch den Raum summende klassische Musik aus dem CD-Player hatte ihn zusätzlich ganz in eine zeit- und raumlose geistige Innenwelt versenkt. Mühsam, stirnrunzelnd, den Kopf ruckartig nach rechts und links schüttelnd hatte er sich in die Spätabendstimmung seines Dienstzimmers zurückgetastet. Und dann tatsächlich, ein Klopfen! Verwundert hatte er auf seine Armbanduhr geschaut – fast halb elf! Um diese Uhrzeit war er gewöhnlich der Einzige, der noch in diesem Gebäudetrakt der Universität arbeitete. Vor allem freitags war hier schon seit den frühen Nachmittagsstunden fast nichts mehr los. Nach kurzem Zögern hatte sich Gerstmaier mit mürrischer Miene dann doch zur Tür begeben.
„Nun gut, kommen Sie rein“, knurrte er nun, verzog das Gesicht zu einer schwer deutbaren Grimasse, hob aber doch einladend die linke Hand, drehte sich um und ging langsam zurück zu seinem Schreibtisch.
Es waren seine letzten Worte. Zweimal, dreimal ertönte ein gedämpftes „Plopp“. Getroffen von den Kugeln – eine im Rücken, zwei im Hinterkopf – kippte er lautlos nach vorn, streifte den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch mit der Schulter und fiel vornüber auf den abgetretenen dunkelblauen Teppichboden. Es blieb ihm nicht einmal Zeit für ein letztes Gebet. Professor Dr. Anton Gerstmaier, zweiundsechzig Jahre alt, Kirchenrechtler, Priester und päpstlicher Ehrenprälat, seit knapp drei Jahren Dekan der renommierten KatholischTheologischen Fakultät an der altehrwürdigen Gregor-Hu-bertini-Universität zu Friedensberg, war tot.
Dass sein Schreibtisch sorgsam untersucht, sein Büro gründlich durchforstet wurde, dass der anonyme, durch einen Handschuh nicht identifizierbare Zeigefinger den Druckknopf des CD-Players bediente und dadurch den Raum in plötzliche gespenstische Stille tauchte, dass einige schmale Mappen, Schnellhefter und andere zusammengeheftete Kopien in einer dunklen Aktentasche verschwanden, dass die Lichtschalter neben der Tür auf Aus gedreht wurden, dass sich die Tür behutsam schloss – all das ereignete sich in einer Zeit, die ihm selbst bereits vorenthalten war.
Montag, 10. Mai, vormittags
Lust und Last des Lebens einer Universitätssekretärin
Silvia Hoberg war gern Sekretärin. Als sie vor etwas mehr als dreißig Jahren – tatsächlich, so lange war das schon her! – ihre Arbeit an der Universität von Friedensberg begonnen hatte, war sie eher zufällig an der Katholisch-Theologischen Fakultät gelandet. Im Büro des damaligen Moraltheologen Professor Gerhard Füstner war eine Stelle als Sekretärin ausgeschrieben, und sie hatte sich – damals vierundzwanzig-jährig und fast noch Berufsanfängerin – beworben.
Sehr zu ihrer Überraschung hatte sie die Stelle bekommen, obwohl sie evangelisch war, und das auch eher aus Tradition denn aus Überzeugung. Vom ersten Tag, vom Bewerbungsgespräch an hatte sie sich mit ihrem Chef verstanden. Ohne große Anweisungen oder Absprachen hatte sie sich das Arbeitsfeld selbstständig erschlossen. Füstner war froh über die immer adrett gekleidete, eigenständige, selbstbewusste, stets loyale Mitarbeiterin, die ihm mehr und mehr den Rücken freihielt von unliebsamen Organisationsaufgaben. Und sie genoss die Möglichkeiten zur kreativen Gestaltung und eigenverantwortlichen Tätigkeit in einem angenehmen Arbeitsklima.
Insofern war es nur konsequent, dass er sie einige Jahre später fragte, ob sie die frei werdende Stelle als Dekanatssekretärin übernehmen wollte. Er war gerade zum Dekan ernannt worden und wusste, dass dieses Amt nur mit einer überaus zuverlässigen Mitarbeiterin bewältigt werden konnte. Silvia Hoberg war eigenständig und flexibel, zudem zeitlich verfügbar, weil unverheiratet und ungebunden.
„Der Richtige war eben nie dabei“, sagte sie stets, wenn sie auf dieses Thema in vertrautem Rahmen zu sprechen kam. Und manchmal fügte sie schmunzelnd hinzu: „Oder schon vergeben an Mutter Kirche …“ Insider wussten, dass ihr gerade Füstner nur zu gut gefallen hätte, aber die gesteckten Grenzen waren immer klar und von beiden weder thematisiert noch innerlich – geschweige denn äußerlich – eingerissen worden.
Inzwischen – nach mehr als zwanzig Jahren – hatte sie mehrere Dekane kommen und wieder gehen sehen. Hatte sich daran gewöhnt, mit ganz unterschiedlichen Charakteren und Arbeitsstilen zurechtzukommen. Und war mehr und mehr selbst zur eigentlichen Herrscherin der Fakultät geworden. Die gewählten Dekane brachten meistens wenige Kenntnisse mit, die man zur Leitung einer Fakultät benötigte. Sie verstanden sich als Wissenschaftler, die in ihrem jeweiligen Spezialfach Forschungen betrieben. Das war ihre Welt.
Manche gaben sich darüber hinaus Mühe, Dozenten im eigentlichen Sinne zu sein, Hochschulpädagogen, die ihr Wissen so gut wie möglich an ihre Studierenden weitergeben wollten. Was sie jedoch allesamt nicht waren: Verwaltungsexperten; Leiter von Großinstitutionen wie einer Fakultät. Das hatten sie nicht gelernt, das wollten sie auch gar nicht. Die Pflichten der universitären Selbstverwaltung nötigten ihnen das Amt freilich auf, ob von ihnen gewollt oder nicht, ob dazu befähigt oder nicht.
Fast alle waren heilfroh, wenn sie das Amt wieder los waren, im Normalfall nach zwei Jahren. Und dazwischen ließen sie die Dekanatssekretärin gewähren. Sie kannte die Strukturen, die wichtigen Mitarbeiter in Universitätsleitung, Verwaltung und Bistum, die Dienstabläufe, die Zeitvorgaben der immer wiederkehrenden Aufgaben eines Semesters.
„Hobi macht das schon“, so lautete ein geflügeltes Wort in der Fakultät. „Hobi“, ihr Spitzname, gefiel Silvia Hoberg eigentlich nicht. Aber inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Wie an so vieles. Doch trotz der Routine, die sich im Laufe der Jahre eingestellt hatte, trotz der Hektik im Dekanatsbüro, in dem sich Professoren, Mitarbeiter des akademischen Mittelbaus und Studierende buchstäblich die Klinke in die Hand gaben, alle mit einem wichtigen und eiligen Anliegen, trotz alldem ging sie fast jeden Morgen gern zur Arbeit. Irgendwie war sie auch mit allen Dekanen gut ausgekommen. Das lag wohl an ihrem einzigartigen Talent, sich auf ganz unterschiedliche Menschen gut einstellen zu können und trotzdem immer ganz und gar sie selbst zu sein. „Hobi“ eben.
Umso schwerer fiel es ihr zu akzeptieren, dass sie mit dem jetzigen Dekan, Professor Gerstmaier, beim besten Willen nicht klarkam. Es passte einfach nicht. Er hatte von vornherein ihre starke Stellung in der Fakultät zu untergraben versucht, hier kritisiert, dort eingeschränkt. Viele Prozesse liefen nun an ihr vorbei, andere musste sie Schritt für Schritt durch den Dekan absegnen lassen.
Sie hatte nun wirklich versucht, sich auf den neuen Chef einzustellen und trotzdem ihre Eigenständigkeiten zu bewahren. Umsonst. Menschliche Wärme wollte sich einfach nicht einstellen. Früher war das Dekanat ein Ort von Humor und Geselligkeit gewesen. Hier war Raum für private Sorgen und Freuden, hier wurde auch gelacht, gelästert, Neues ausgetauscht, Altes umgewälzt. Seit Gerstmaier die Fakultät leitete, gab es all das nicht mehr.
Silvia Hoberg hatte sich allmählich damit abgefunden und sich auf die routiniert beherrschten Arbeitsabläufe konzentriert. Ohne dass es je zu einem lauten Streit zwischen ihr und ihrem jetzigen Chef gekommen wäre, hatte sie sich in ihr eigenes inneres Reich zurückgezogen. „Sie kommen mir vor wie in einer Art inneren Emigration“, hatte Füstner, ihr alter Chef und bleibender Vertrauter, ihr einmal bei einer Tasse Kaffee in der Fakultätscafeteria sanft vorgeworfen.
„Stimmt schon, Chef“, hatte sie in alter Verbundenheit und Anrede zurückgegeben. „Aber auch dieses Dekanat geht vorbei, und mit Kösters“ – Hermann-Josef Kösters war der Professor für die Exegese des Neuen Testamentes, derzeit Prodekan und damit designierter Anwärter auf das nächste Dekansamt – „mit Kösters wird das schon wieder passen.“
Dann war aber alles anders gekommen. Gerstmaier hatte zur Überraschung aller für eine zweite Dekanatszeit kandidiert. Kösters, froh, sich weitere zwei Jahre nur der geliebten Forschung und der gewohnten Lehre widmen zu können, hatte den Vorschlag vehement unterstützt, wohl wissend, dass nicht alle in der Fakultät eine Fortsetzung des Dekanats Gerstmaier gutheißen würden.
Angesichts dieses einmütigen Vorschlags hatte der Fakultätsrat den einzigen Kandidaten Gerstmaier tatsächlich in geheimer Wahl wiedergewählt, auch wenn es anfangs beträchtliche Vorbehalte gegen eine zweite Amtszeit gegeben hatte. Letztlich wurde er jedoch mit erstaunlich deutlichem Ergebnis in seinem Amt bestätigt. Sichtlich verärgert hatte der Dekan die skeptischen bis kritischen Äußerungen im Vorfeld registriert.
Und seitdem regierte