Toter Dekan - guter Dekan. Georg Langenhorst
Sie war eine gerade im Fachbereich Theologie auffallende Erscheinung. Lange schwarze Haare, dezent geschminkt, selbstbewusst gekleidet und – wie Kösters aus einem Seminar wusste – wissbegierig, fleißig, intelligent und redegewandt.
„Ja, ich war bis kurz nach vier hier“, bestätigte sie. „Ich musste die Einladungen für den Gastvortrag übernächste Woche fertig machen. Kurz bevor ich ging, schaute Gerstmaier, ich meine: der Herr Dekan, noch einmal herein. Er suchte etwas in den Ordnern, fand es aber wohl nicht. Mit mir hat er kein Wort geredet, aber das“ – sie blickte sich im Kreis Verständnis heischend um und ihr Blick blieb bei der Sekretärin haften – „das hat er eigentlich nie getan. War also nichts Besonderes.“
„Haben Sie sich noch von ihm verabschiedet?“, fragte unvermutet Professor Günter Brossl, ein junger Kirchengeschichtler, der erst vor einem halben Jahr an die Universität Friedensberg berufen worden war. Verena Obmöller schaute ihn kurz an und meinte dann: „Nee, das haben wir nie gemacht, das hätte ihn doch auch nur gestört!“
„In jedem Fall“, so ergriff Kösters nun wieder das Wort, „sind Sie damit die Letzte, die den Dekan noch lebend gesehen hat.“ „Bis auf den Mörder“, flüsterte die Religionspädagogin Klara Mechtersheim dazwischen, gerade laut genug, dass jeder es hören konnte. Erschrocken legte sie sich die Hand auf den Mund, zog den Kopf zwischen die Schultern und wurde rot.
Der Prodekan sprach ungerührt weiter: „Der Tod von Kollege Gerstmaier muss zwischen zehn und elf Uhr am gleichen Abend, also mindestens sechs Stunden später eingetreten sein. So lautet zumindest die Auskunft von der Gerichtsmedizin drüben in der Gmeinerstraße. Was Gerstmaier in dieser Zeit gemacht hat, ob er noch Termine hatte, ist noch nicht bekannt. Von hier aus telefoniert hat er nicht, zumindest nicht von den offiziellen Telefonen. Oder hat irgendjemand von Ihnen noch Kontakt zu ihm gehabt?“, fragte Kösters in die Runde.
Das hätte er besser nicht getan. Sofort erhob sich ein Getuschel und Gemaule, in dem man kaum das eigene Wort verstehen konnte: „Wieso Kontakt?“ „Ich war doch in Tübingen auf dem Ethikerkongress!“ „Freitags, dass ich nicht lache!“ „Mit dem spreche ich schon seit sieben Monaten nicht mehr!“ „Unverschämtheit!“ …
Kösters wollte gerade wieder um Aufmerksamkeit bitten, als ein lautes Klopfen an der Tür zu hören war. „Entschuldigung.“ Mit diesen Worten trat Sebastian Tränkner, seines Zeichens ausgebildeter Schreiner und nun fünfundzwanzigjähriger Student der Diplomtheologie, Mitglied der Fachschaft und studentischer Vertreter im Fakultätsrat, ein und wies einem energisch eintretenden Mann Anfang vierzig den Weg. „Hier ist der Herr Kommissar Kellert.“
‚Erstaunlich, wie folgsam der eben noch so wild durcheinanderredende Haufen plötzlich den Worten des Kommissars lauscht‘, dachte Kösters, froh, die Gesprächsführung an den Polizisten abgeben zu können. „Wir tappen noch völlig im Dunkeln“, sagte der, nachdem er sich am Kopfende des Tisches aufgebaut hatte. Die Anwesenden konnten es kaum spüren, aber Kellert war sich unsicherer als sonst. Wie geht man mit Professoren um? Wie redet man zu Priestern? Das war ein Gebiet, in dem er überhaupt keine Erfahrung hatte.
„Einfach so sein wie immer“, hatte ihn seine Frau Beate ermuntert. Er versuchte, ihren Ratschlag zu befolgen. „Bitte verstehen Sie, dass ich deshalb mit jedem von Ihnen sprechen muss.“ „Geh, sie verdächtigen doch nicht etwa uns?“, rief mit tief bellender Stimme und unverkennbar österreichischer Dialektfärbung Elmar Maria Brandtstätter, ein mindestens eins neunzig großer, rundgesichtiger Mann mit mächtigem Körper, der Pastoraltheologe der Fakultät.
„Nein, nein“, beschwichtigte Kellert und strich sich durch sein millimeterkurz geschnittenes blauschwarz schimmerndes Haar, „aber wir müssen alle relevanten Informationen zusammentragen. Ich bitte Sie um Verständnis und um Ihre Kooperation.“ „Selbstverständlich werden wir Ihnen in allem nach bestem Vermögen helfen“, versicherte Kösters, der sich nun aufgefordert sah einzugreifen, eilfertig.
„Wir alle haben das größte Interesse, dieses furchtbare Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Eine Bitte habe ich jedoch, Herr Kommissar: Wenn es geht, bitte ich Sie darum, den Studienbetrieb so wenig wie möglich mit den Ermittlungen zu belasten. Die Studierenden sind schon so total ausgelastet und ziemlich verstört.“ „Jep“, ließ sich Verena Obmöller vernehmen und Schulze-Vorrath ereiferte sich: „Mein Seminar gestern, das konnte ich völlig vergessen!“.
Kommissar Kellert blickte in die Runde und sagte dann: „Also versprechen kann ich nichts. Aber ich werde tun, was in meiner Macht steht, damit Ihr Betrieb hier so normal wie möglich weitergehen kann.“ Dabei schlug er mit der rechten Hand einen großen Bogen. „Darf ich Sie nun bitten, mir einzeln einige Fragen zu beantworten? Können wir dazu vielleicht in Ihr Büro gehen?“, fragte er Kösters. „Das Dekanat wird ja noch vom Spurendienst untersucht.“
Bevor Kösters antworten konnte, wurde er von Frau Hoberg unterbrochen. „Entschuldigen Sie, Herr Kommissar!“, stammelte sie. „Kellert, bitte nennen Sie mich einfach Kellert“, sagte er in die Runde. „Was gibt es denn?“ „Mir ist noch etwas aufgefallen. Ich glaube, dass einige Akten fehlen. Bei mir im Büro, aber auch im Zimmer vom Chef, äh, vom Herrn Dekan. Ich weiß aber nicht genau, was. Er hat sich seine Unterlagen meistens selbst geholt und zusammengestellt, wissen Sie. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da einiges fehlt.“
Aufmerksam hatte Kellert zugehört und pfiff sich kaum hörbar durch die Zähne. Eine erste Spur! Niemand lässt grundlos Akten verschwinden! Das vergrößerte die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod des Dekans etwas mit seiner Arbeit hier an der Universität zu tun hatte. Womöglich war einer der Anwesenden in den Mord verstrickt. ‚Sei vorsichtig! Hör genau hin, auch auf die Zwischentöne! Stelle die richtigen Fragen! ‘, gab er sich mit auf den Weg.
„Danke, Frau, äh“ – „Hoberg“ – „Ja, danke für die Information, das ist sehr wichtig. Bitte versuchen Sie herauszufinden, was genau alles fehlt. Ich werde Mansfeld, meinen Kollegen von der Spurensicherung, gleich anweisen, dass er Sie in das Dekanszimmer hineinlässt und dort mit Ihnen auf die Suche geht. Wir aber“ – hier wandte er sich an die Übrigen – „sollten uns im Zimmer des Herrn Prodekan unterhalten. Kommen Sie bitte mit!“
Dienstag, 11. Mai, abends
Pizza, Pasta und ProfessorInnen
Ganz dezent untermalte italienische Musik die gedämpften Gespräche und Geräusche bei ‚Da Luigi‘. Eine geschmackvolle Einrichtung betonte zwar den italienischen Charakter des Ambientes, versagte sich aber jeglichen Eindruck von billigem Kitsch. Die Tische standen so weit voneinander entfernt, dass man sich an jedem von ihnen ungestört unterhalten konnte. Bernd Kellert hatte die Idee gehabt, sich abends hier mit seiner Frau zu verabreden. Das würde ihm lange Wege ersparen und sie würde sich auf den Abend bei gepflegten Speisen in angenehmer Atmosphäre freuen.
Gerade hatten sie sich über ihre Kinder ausgetauscht. Tobias studierte Wirtschaftsingenieurswesen im zweiten Semester in München. Er hatte die Metropole ihrer überschaubaren Universitätsstadt vorgezogen. „Friedensberg, da kennt jeder jeden“, hatte er zum Abschied gesagt. „Das ist mir zu klein und zu eng, große Tradition hin oder her.“ Und Jenny, die inzwischen sechzehnjährige Tochter, war gerade für ein Jahr an einer Austauschschule in Leeds in Nordengland.
Beate Kellert fiel es auch nach mehr als acht Monaten nicht leicht, nach so langer gemeinsamer Zeit ohne ihre beiden Kinder zu leben. Selbst Barry, der Kater, war die meiste Zeit unterwegs. Sie hätte sich gern noch einen Hund angeschafft. „Zu Hunden kann man eine ganz andere Beziehung aufbauen als zu Katzen“, sagte sie immer. „Außerdem sind sie treu. Treuer als Männer …“
Aber erstens war ihr Mann, der diesen letzten Halbsatz nur kopfschüttelnd und schweigend zur Kenntnis nahm, alles andere als begeistert von dieser Idee und zweitens: Solange der Kater in ihrem Haushalt lebte, war das Ganze sowieso nicht mehr als nur ein Hirngespinst „Hund und Katze, ich glaube du träumst!“, hatte Bernd Kellert geknurrt, als sie diesen Gedanken einmal probehalber ausgesprochen hatte. Der Kater gehörte ja eigentlich Jenny, aber nun kümmerte sich eben hauptsächlich ihre Mutter darum. Sie war halbtags in einer Steuerkanzlei tätig, aber diese Tätigkeit