Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst

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      „Nein, definitiv kein Verkehrsunfall!“ Dr. Werner Jacobs war seit sechzehn Jahren Polizeipräsident von Friedensberg, zuständig für den ganzen Landkreis. In fünf Jahren würde er in den Ruhestand gehen, aber diese Perspektive lähmte seinen Arbeitseifer in keinster Weise. Friedensberg hatte eine der höchsten Aufklärungsquoten in Deutschland, darauf war er stolz. Und das sollte sich unter seiner Ägide auch nicht mehr ändern.

      Mittwochmorgen, acht Uhr dreißig. Jacobs hatte einige Mitarbeiterinnen und Kollegen zu einer Dienstbesprechung in seinem nüchtern-zweckmäßig eingerichteten Büro versammelt. Er fuhr fort: „Erst dachten wir das natürlich auch. Ein Unfall bei Regen und Dunkelheit. Tragisch, aber nichts, womit wir uns befassen müssten. Aber dann …“ Er nickte Polizeihauptmeister Peter Brändel wortlos zu. Brändel war am gestrigen Abend als zuständiger Polizist am Tatort gewesen.

      „Kein schöner Anblick, liebe Kollegen und“ – Brändel beugte sich demonstrativ zur Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler und zu einer jungen Polizistin, die unauffällig am Rande der Tischrunde saß – „Kolleginnen. Das Opfer wurde mindestens dreimal überrollt. Ohne Frage vom selben Fahrzeug. Von hinten und von vorn. Das war Absicht! Böse Absicht!“

      „Außerdem“, mischte sich sein Chef wieder in das Gespräch, „haben wir das Auto ja gefunden …“ Wieder ließ er den Satz ausklingen und blickte auffordernd zu seinem Mitarbeiter. Alle im Raum kannten diese Art von Impulsen. So war nun einmal der Kommunikationsstil ihres Präsidenten. So war er, der Dr. Jacobs. Wenn man ihn kannte, konnte man gut mit ihm auskommen.

      Polizeihauptmeister Peter Brändel war seit mehr als elf Jahren im Dienst. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, schluckte die Unterbrechung hinunter und ergriff wieder das Wort: „Genau, das Tatfahrzeug stand drei Straßen weiter, in der Sackgasse beim Priesterseminar. Kellert, Sie kennen sich da ja aus. Der Motor lief noch, Licht eingeschaltet, Zündschlüssel im Schloss, Fahrertür weit offen, von Insassen natürlich keine Spur …“

      Wieder unterbrach ihn der Polizeipräsident: „Das werden wir ja noch sehen!“ Seine Mitarbeiter schauten ihn fragend an, deshalb erklärte er: „Na, ob es von den Insassen wirklich keine Spur gibt. Die KTU hat sich das Auto längst vorgenommen. Die werden schon etwas finden. Dann wissen wir mehr.“

      Kommissar Bernd Kellert, zuständig für Verbrechen gegen Leib und Leben bei der Kriminalpolizei von Friedensberg, schaute skeptisch. Das entging auch seinem Chef nicht. „Oder, Herr Kellert? Sind Sie anderer Ansicht?“

      „Nichts dagegen, wenn die etwas finden. Am liebsten gleich die entscheidende Spur zum Täter. Aber ich fürchte, das wäre zu schön, um wahr zu sein“, entgegnete der hochgewachsene, kurzgeschorene immer noch sportlich-drahtig wirkende Fünfzigjährige nur. „Ob uns das wirklich weiterhilft, werden wir sehen. Ich bin skeptisch.“

      „Skeptisch hin oder her, es ist jedenfalls Ihr Fall!“, raunte Dr. Jacobs Kellert zu. „Und heikel, das wissen Sie ja. Meine Güte, Bertram Geißendörfner, der Chef vom KaReGe, vom Domgymnasium, der ist hier natürlich bekannt wie ein bunter Hund. Mitglied im Stadtrat, in vielen Vereinen, beim Rotary Club. Wir brauchen eine rasche Aufklärung. Und diskret. Die Presse rennt mir ja jetzt schon die Bude ein.“

      Kellert nickte bitter. Tolle Arbeitsbedingungen! Aber er konnte es sich natürlich nicht aussuchen. „Wer hat das Opfer gefunden?“, fragte er betont sachlich. „Eine ältere Dame aus der Nachbarschaft, die noch spät ihren Hund ausführte, trotz Wind und Wetter“, antwortete Brändel nach einer fast unmerklichen Geste seines Vorgesetzten. „Aber die hat von dem Vorgang selbst nichts mitgekriegt. Und einen schweren Schock erlitten. Von der werden Sie kaum hilfreiche Informationen erhalten, Herr Kommissar.“

      Peter Brändel sprach Kollegen, die in der Polizei-Hierarchie über ihm standen, grundsätzlich ‚per Sie‘ an. Kellert hatte ihm über die langen Jahre der gelegentlichen Zusammenarbeit mehrfach das eigentlich übliche ‚Du‘ angeboten, aber der Polizeihauptmeister hatte es immer wieder ausgeschlagen. Nun waren sie an diese Form der Anrede gewöhnt. „Weiß man denn, wem der Wagen, also das Tatfahrzeug, gehörte?“, mischte sich Kellerts Mitarbeiter, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, in das Gespräch ein.

      Peter Brändel blickte zum Polizeipräsidenten. Der gab ihm erneut ein kaum wahrnehmbares, zustimmendes Signal, dann erst antwortete der Polizeihauptmeister: „Klar. Das haben wir selbstverständlich als Erstes gecheckt. Irgendeine alte Kiste, ein Toyota. Gehört einem der Lehrer des Gymnasiums. Der benutzt es aber wohl fast nie. Es steht auf dem Lehrerparkplatz herum, immer am gleichen Platz. Und der Schlüssel liegt offen auf seinem Arbeitsplatz im Lehrerzimmer. Den kann jeder nehmen. Und darf das auch. So ist das da wohl üblich.“

      Er blickte kurz in sein Notizbuch, las dann daraus vor: „‚Wenn du mal schnell ein Auto brauchst, nimmst du den alten Toyota vom Torsten. So haben wir das alle gemacht.‘ Sagt eine seiner Kolleginnen, mit der ich gestern Abend noch gesprochen habe.“ Kellert blickte ihn fragend an. Dieses Mal antwortete der Polizeihauptmeister direkt: „Da war Lehrersport, im Gymnasium. Volleyball. Da habe ich zwei der so spät noch anwesenden Kolleginnen sprechen können.“

      Kellert nickte. „Und … Torsten?“ Brändel antwortete sofort: „Torsten Bedlinger. Mathelehrer. Muss ein ziemliches Original sein, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Kellert zuckte zusammen: „Der Bedlinger!? Ach je, wenn das wirklich der ist …“ Nun schauten die Kollegen ihn fragend an. Auch Dr. Jacobs.

      „Eine meiner Nichten, Julia, hatte zwei Jahre lang bei dem Unterricht. Und der ist, wie sie sagte, ein unglaublicher Chaot. ‚Total verpeilt‘, so hat sie den beschrieben. Pädagogisch völlig unfähig. Einmal hat er kurz vor den Sommerferien einen Klausurtermin schlicht und einfach vergessen. Die Schüler mussten die Arbeit an einem Samstag nachschreiben. Die waren vielleicht begeistert! Wegen dem hat Julia nie einen Zugang zu Mathe gefunden.“ Er überlegte: „Gut, zumindest auch wegen dem. Aber über den hat man schon die ein oder andere Story gehört. Pfff. Na ja, solche Lehrer gibt es an jeder Schule …“

      „Wie dem auch sei“, unterbrach Polizeipräsident Dr. Jacobs seinen Kommissar, der eigentlich kein Mann der langen Rede war. „Sie werden sich an der Schule umhören müssen, Kellert. Am Domgymnasium. Und das Privatleben von Dr. Geißendörfner durchleuchten. Und seine Verbindungen hier in Friedensberg!“, zählte der Dienststellenleiter die anstehenden Aufgaben auf. Als ob Kellert das nicht alles wüsste. „Los, Dominik, auf!“, grimassierte er in Richtung seines Mitarbeiters.

      Kriminalhauptmann Dominik Thiele druckste herum, zögerte, tappte verlegen von einem Fuß auf den anderen. Seltsam, das entsprach nicht seinem normalen Verhalten. Kellert schaute ihn verwundert von der Seite an. Beim Verlassen des Dienstzimmers stammelte Thiele: „Äh, Chef!?“

      „Ja?“, fragend blickte Kellert seinen Mitarbeiter an. Nach mehr als vierjähriger Zusammenarbeit kannten sie sich gut, waren menschlich und dienstlich ein bestens eingespieltes Team. „Was ist denn los?“, fragte er, als er bemerkte, dass sein Mitarbeiter nicht recht mit der Sprache herausrücken wollte. Schließlich rang dieser sich doch die Frage ab: „Kann ich vielleicht andere Arbeiten übernehmen? Ich würde nur höchst ungern da im KaRaGe auftreten.“ Bernd Kellerts Verblüffung stieg. „Warum das denn?“, fragte er irritiert nach.

      Dominik Thiele, ein sportlicher, durchtrainierter, normalerweise keineswegs wortkarger Mittdreißiger, noch etwas größer als sein Chef, suchte sichtlich nach Worten. „Weil die Ena da doch jetzt unterrichtet! Wie sieht das denn aus, wenn ich als ihr Ehemann da herumschnüffele? Sie hat doch auch nur einen Jahresvertrag. Ich will ihr da nichts kaputtmachen …“

      Richtig! Bernd Kellert tippte sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand an den Kopf. Dominik Thiele hatte letztes Jahr geheiratet. Und seine Frau Verena hatte am KaRaGe ihr Referendariat absolviert, aber dann trotz glänzender Examensnoten im ganzen Bundesland keine Planstelle gefunden. So war das zurzeit. Die Kultusministerien stellten einfach keine Gymnasiallehrer ein, auch wenn an den Schulen durchaus Bedarf bestand. Bestens qualifizierte Leute standen auf der Straße, zogen in ein anderes Bundesland, wo es Jobangebote gab, oder hielten sich mit Übergangsverträgen über Wasser.

      So auch Verena.


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