Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst

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KaRaGe eingebracht, dass man ihr eine Perspektive aufzeigen konnte. Zunächst hatte sie einen Zeitvertrag über eine Dreiviertelstelle erhalten, daraus sollte aber möglichst bald mehr werden.

      „Hm, das kann ich verstehen“, brummte Kellert nach längerem Nachdenken. „Das wäre wirklich eine ungute Rollenkollision. Ehemann einer Kollegin der zu Befragenden und gleichzeitig ermittelnder Kriminalbeamter vor Ort? Nein, das geht nicht. Aber was sollen wir tun? Ich brauche dich da!“

      „Ich könnte ja alle Hintergrundrecherchen übernehmen. Und Gespräche außerhalb der Schule führen. Und an das KaRaGe nimmst du die Hannah mit!“, schlug Thiele vor. „Hannah?“ Kellert blickte verwundert. „Na, Hannah, Frau Mellrich, die PKA!“, entgegnete Thiele. Richtig, seit zwei Wochen war Hannah Mellrich ihnen als Polizeikommissars-Anwärterin zugeteilt worden. Furchtbares Wort. Aber so war nun einmal das Beamten-Deutsch. Sie war bei der von Dr. Jacobs anberaumten Besprechung als zweite Frau mit im Raum gewesen, hatte sich aber völlig ruhig verhalten.

      Kellert hatte sie bislang eher ignoriert, hatte kaum mit ihr gesprochen. Offensichtlich im Gegensatz zu Thiele, der sie bereits beim Vornamen nannte. Klar, sie war hübsch und jung. Kellert selbst war die Zusammenarbeit mit Kolleginnen nur wenig vertraut. Sicherlich, mit der Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler kam er bestens aus, aber sie war ja auch eher eine Zu- als eine Mitarbeiterin. Doch im täglichen Zusammenspiel der Alltagsarbeit? Ob das funktionieren könnte?

      ‚Bernd, alter Chauvi‘, hörte er plötzlich die Stimme seiner Frau Beate. Sie waren schon so lange verheiratet, mehr als fünfundzwanzig Jahre, dass er sich ihre Worte und den Tonfall sofort vorstellen konnte. Als würde er ihre Stimme tatsächlich hören. Er seufzte. „Okay, so machen wir das. Es gefällt mir zwar nicht, aber was soll’s? Ich frage Frau Mellrich, ob sie mich begleitet, du bleibst im Hintergrund.“

      Kellert strich sich nachdenklich über das glattrasierte Kinn. „Vielleicht kann uns Verena ja sogar den ein oder anderen Hinweis geben. Sie kennt die Schule von innen. Das kann sich als großer Vorteil erweisen. Den wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollen. Also: Zumindest versuchen wir es so! Du bleibst im Gymnasium außen vor. Ungewohnt wird das für mich schon, ohne dich.“

      Der Kommissar schmunzelte. „Ja, so ist das: Ich habe mich gut an unsere Teamarbeit gewöhnt“, grinste er seinen Mitarbeiter an. „Aber versprechen kann ich nichts. Wenn es nicht anders geht, musst du dann eben doch mit ans KaRaGe!“ Kellert überlegte kurz und legte sich dann fest: „Heute übernimmst du jedenfalls die Familie von diesem Dr. Geißendörfner. Er war verheiratet, das weißt du ja. Das wird also nicht ganz einfach.“

      2.

      Ruhig, zügig und sicher steuerte PKA Hannah Mellrich den Dienst-BMW durch die engen Straßen der Friedensberger Innenstadt. Nicht ganz so souverän fühlte sie sich. Endlich hatte der für sie zuständige Kommissar sie einmal direkt angesprochen. Aber er war ihr nicht ganz geheuer, dieser Bernd Kellert. Schweigsam ihr gegenüber. Und ruppig, vielleicht aus Unbeholfenheit. Dass er mit Dominik Thiele bestens harmonierte, hatte sie in den zwei Wochen auf der Dienststelle bereits mehrfach beobachten können. Aber sie selbst hatte er einfach ignoriert. Sie konnte sich auf sein Verhalten ihr gegenüber keinen rechten Reim machen.

      Aber jetzt waren sie zu zweit unterwegs: Hannah Mellrich, siebenundzwanzig Jahre alt, kurzer blonder Haarschnitt, ehrgeizig, und er: der Fünfzigjährige, Erfahrene, Unnahbare. „Überlassen Sie mir das Reden!“, ermahnte er sie, während sie in die hohen Vorhallen des KaRaGe eintraten. Sie nickte. Aber was sollte sie dann hier? Kellert bemerkte ihre unausgesprochene Frage, schmunzelte kaum merklich und fügte hinzu: „Aber ich brauche Ihre Beobachtungen. Schauen Sie genau hin! Hören Sie auf die Zwischentöne! Nichts darf uns entgehen. Sie wissen schon: Vier Augen sehen mehr, vier Ohren hören mehr.“ Das klang schon besser.

      Die seit etwas mehr als zwanzig Jahren Karl-Rahner-Gymnasium genannte Schule war das traditionsreichste Gymnasium vor Ort. Jahrhundertelang hatte es nur ‚das Domgymnasium‘ geheißen. Ältere Bürger von Friedensberg nannten es immer noch so. Jüngere meistens bei der Abkürzung KaRaGe. Von den Jesuiten kurz nach der Reformation gegründet, hatte hier in fast fünf Jahrhunderten die Bildungselite Friedensbergs ihre schulische Ausbildung erhalten. Bis in die 1970er Jahre war die Schule ausschließlich männlichen Schülern vorbehalten gewesen.

      Seitdem gab es auch Schülerinnen. Vieles hatte sich allein dadurch geändert. Früher war man stolz darauf, immer wieder Abiturienten an das nahe Priesterseminar weiterzureichen. Ungezählte Friedensberger Priester und fünf Bischöfe waren zuvor Schüler am Domgymnasium gewesen. Heute stand das Gymnasium immer noch unter kirchlicher Trägerschaft. Aber das religiöse Leben prägte die Schule nur noch zu einem geringen Teil, so wie Religion insgesamt immer weniger Bedeutung für das Leben der Menschen hatte. Trotzdem: Das KaRaGe, das Domgymnasium, hatte immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Weit über Friedensberg hinaus.

      „Wir haben einen Termin im Direktorat“, erklärte Kellert, aber das wäre nicht nötig gewesen. Eine junge Frau hatte sie am Haupteingang des Gymnasiums erwartet. Neben ihr stand schweigend der an seinem Blaumann unschwer erkennbare Hausmeister, ein hochgewachsener, kräftiger älterer Mann mit großem, buschigen Oberlippenbart. ‚Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher‘, dachte Kellert. ‚Zumindest erinnert es mich an jemanden, den ich kenne. Aber an wen?‘

      „Svenja Kaiser“, hatte sich die junge Frau vorgestellt und „Deutsch und Englisch“ hinzugefügt, als markiere das ihre Persönlichkeit. ‚Kaum älter als Jenny!‘, dachte der Kommissar, während ihm als Vergleich das Bild seiner noch studierenden Tochter durch den Kopf blitzte. Wortlos und mit undurchschaubarer Miene zog sich der Hausmeister zurück. Die junge Lehrerin aber nahm den Gesprächsfaden auf und erwiderte: „Ich weiß, wer Sie sind. Die Herrschaften von der Kriminalpolizei. Ich soll Sie empfangen und begleiten, kommen Sie bitte!“

      ‚Herrschaften!‘, dachte Hannah Mellrich. ‚So bin ich ja auch noch nicht angesprochen worden!‘ Aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Zu dritt schritten sie durch die hohen, breit gemauerten Hallengänge. Es war erstaunlich still, nur hinter den Türen rechts und links konnte man immer wieder gedämpfte Geräusche hören. Sobald das Pausenzeichen ertönte, würden kreischende Schülermassen die Gänge füllen. So war das zumindest normalerweise. Das wussten die beiden Polizisten noch zu gut aus ihren eigenen Schülerzeiten. Und Kellert kannte es noch aus den Schilderungen seiner beiden längst erwachsenen Kinder.

      Immer wenn er selbst Schulen betrat, fühlte er sich seltsam beklommen. Als raubte ihm jemand heimtückisch sein Selbstvertrauen und seine berufliche wie private Routine und Erfahrung. Ihm war, als würde er hier ständig beobachtet, und als könne er den Beobachtungsblicken nie genügen.

      Kellert war sich natürlich bewusst, dass das mit seinen eigenen Erfahrungen als Schüler zusammenhing. Er war ein durchschnittlicher Schüler gewesen, nicht schlecht, nicht gut. Das hatte ihn alles irgendwie nicht interessiert, was man ihm da vorsetzte. Ein Mitschwimmen im trägen Strom des Unterrichts hatte gereicht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Nicht hier am KaRaGe, das zu seiner Zeit einfach nur ‚Domgymnasium‘ geheißen hatte, sondern am staatlichen Gymnasium von Friedensberg, dem Henri-Dunant-Gymnasium. HaDeGe. Diese Opposition prägte bis heute die kleinstädtische Welt der Bischofsstadt Friedensberg. War man ein KaRaGeler oder ein HaDeGeler? Eigentlich lächerlich, solche kleinen Eitelkeiten. Aber sie hielten sich hier über Generationen.

      Bernd Kellert blickte hinüber zu seiner jungen Kollegin, die nicht in Friedensberg aufgewachsen war. Hannah Mellrich stammte aus Rheinland-Pfalz, so glaubte er sich zu erinnern. Aus Speyer? Er war sich nicht sicher. Er wusste auch nicht, warum sie sich ausgerechnet hierher hatte versetzen lassen. Irgendeine private Geschichte, an so viel glaubte er sich zu erinnern. Ob es ihr auch so ging wie ihm, wenn sie Schulen betrat? Anzusehen war es ihr nicht.

      Dass es im Schulgebäude so still war, hatte aber nicht nur etwas damit zu tun, dass der Unterricht sich hinter dicken Mauern und schallisolierten Türen abspielte. Als sie in die große Halle kamen, von der aus verschiedene Gänge und das weit geschwungene Treppenhaus abzweigten, sahen sie einen Tisch, der aussah, als sei er ein Altar. In der Mitte war ein Bild – doch wohl das des ermordeten Direktors – aufgestellt, geschmückt mit einer dunkelvioletten Schleife. Rund herum ein Meer


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