Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst

Toter Chef - guter Chef - Georg Langenhorst


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mit einer Insel der Seligen zu tun haben.“ Damit wies er mit der rechten Hand auf eines der großen, goldgerahmten Ölgemälde an der Wand, das die selige Lissi von Friedensberg zeigte, eine Ordensfrau des 17. Jahrhunderts. Erst vor siebzehn Jahren war sie seliggesprochen worden. „Aber gab es in letzter Zeit Konflikte, die über das Normalmaß hinausgingen?“

      „Sie suchen ein Mordmotiv, oder?“ Kalt blickte ihn Ingrid Wiesmüller über die Halbmondgläser ihrer soeben aufgesetzten Brille an. „Sie haben mich also nicht verstanden. Sie suchen nach etwas Besonderem. Nach einer monströsen Geschichte, die alles Verstehen sprengt. Was ich sagen wollte, war aber genau das Gegenteil: Unser Alltag ist so voller versteckter Aggression, unterdrückter Gewalt und zivilisierter Frustration, dass es das Besondere nicht braucht. Das ist Alltag hier, verstehen Sie? Das kann sich überall entladen. Ohne großen Anlass. Was glauben Sie, warum es zu Amokläufen kommt? Irgendwann kocht etwas über. Dafür braucht es manchmal nur einen dummen Zufall, einen eigentlich belanglosen Auslöser.“ Zufrieden schaute sie ihn an, faltete die Arme vor der Brust und fügte hinzu: „So: Da haben Sie Ihr Motiv.“

      Ulrich Schongauer hatte den Ausführungen seiner Kollegin zugehört, mehr und mehr aber seine wachsende Distanz signalisiert. Nun schüttelte er stirnrunzelnd den Kopf: „Also so negativ sehe ich das nicht, Frau Wiesmüller.“ – ‚Kein Duz-Verhältnis‘, notierte sich Hannah Mellrich in Gedanken – „Als säßen wir hier permanent auf einem Pulverfass. Als gäbe es nur ein ständiges Gegeneinander: Lehrer gegen Schüler, Kollegen gegen Kollegen. Wir sind immerhin auch eine Gemeinschaft. Eine Schulfamilie. Wenn das so schrecklich wäre, wie Sie, geschätzte Kollegin, das schildern, dann würde ich mich sofort um eine andere Stelle bewerben. Sofort! Ja, Konflikte sind Teil des Lebens, das habe ich vorhin schon betont. Aber sie sind es hier nicht mehr als anderswo.“

      „Aber auch nicht weniger, Pater Schongauer, auch nicht weniger!“, fiel ihm Ingrid Wiesmüller ins Wort. „Und ich sage ja auch gar nicht, dass all das die Oberfläche unseres Alltags bestimmt. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, diese Gemengelage zu kontrollieren und zu beherrschen. Und genau dafür sind wir zuständig: die Schulleitung! Das ist unser Job. Dafür bekommt man nicht nur Applaus. Da wird man nicht everybody’s darling. Wenn alles glattläuft, halten viele das für normal. Aber sobald es Schwierigkeiten gibt, fallen sie von allen Seiten über uns her. Ist doch so.“

      Nun schaltete sich Thomas Brox ein: „Herr Kommissar. Ich stimme der Kollegin Wiesmüller zwar nicht in allem zu. Aber in einem schon: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie den Täter – oder die Täterin – hier in der Schule finden werden. Also mir ist jedenfalls kein Konflikt bekannt, der aus dem alltäglichen Miteinander und Gegeneinander herausragen würde. Kein Grund, warum der Kessel explodieren müsste, um im Bild der werten Kollegin zu bleiben. Oder?“

      Zustimmung heischend blickte er auf seine beiden Kollegen. Die waren ausnahmsweise einmal einer Meinung und nickten: Ulrich Schongauer zögerlich und mit nur angedeutetem Heben und Senken des rundlichen, leicht rot angelaufenen Kopfes, Ingrid Wiesmüller mit energischen, ruckartigen Bewegungen. Obwohl ihr Kollege Brox ihren Hauptgedanken gar nicht aufgenommen hatte.

      Es klopfte. Ohne auf eine Reaktion zu warten, öffnete sich die Tür zum Empfangszimmer des Direktorates. Eine vielleicht vierzigjährige, schick gekleidete und dezent, aber perfekt geschminkte, schlanke Frau trat ein, beladen mit einem Tablett voller Tassen, Untertassen, kleinen silbernen Löffeln, einem Zuckerdöschen, einem Milchkännchen und einer Kanne frisch aufgebrühten Kaffees. Die Frau warf einen freundlichen, offen lächelnden Blick in die Runde und fragte: „So, möchte jemand einen Kaffee?“

      „Danke, Frau Blum, Sie sind ein Schatz! Aber das wissen Sie ja!“, antwortete Ingrid Wiesmüller sofort, und ihre Stimme nahm eine Wärme an, die sie vorher noch nicht hatte erkennen lassen. „Frau Blum, unsere Chefsekretärin!“, stellte die Lehrerin die Mitarbeiterin vor. „Erst seit zwei Jahren bei uns, aber schon absolut unbezahlbar.“

      Die derart Gelobte lächelte, hob aber abwehrend die Hände. „Nein, nein. Sagen Sie das nicht. Ich tue doch nur meine Pflicht. Das aber einfach gern.“ „Und gut“, ergänzte Thomas Brox schmunzelnd. „Lassen Sie das Lob doch einfach mal so stehen, Saskia! Das Sekretariat ist das Herzstück einer Schule. Nicht das Direktorat, wie viele von uns in dreister Selbstüberschätzung meinen.“ Sein Blick verlor sich für den Bruchteil einer Sekunde im Raum. Aber er fuhr fast unmittelbar danach fort: „Und wenn das Herz nicht schlägt, wie es soll, dann leidet der ganze Körper. Seit Sie da sind, Saskia, geht es uns prächtig.“

      Brox hielt kurz inne, besann sich und ergänzte: „Was nicht heißen soll, dass es uns vorher schlecht ging.“ Saskia Blum lächelte, warf den Kopf abwägend hin und her und machte sich dann daran, den Raum wieder zu verlassen. „Wenn Sie noch etwas brauchen: Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“

      4.

      Die beiden Kriminalbeamten hatten dem freundlichen Austausch neugierig gelauscht, wortlos, aber mit unausgesprochener Dankbarkeit der Sekretärin zugenickt und nahmen sich nun jeweils einen Kaffee. „Gratuliere!“, mischte sich Kellert nun ein. „Da haben Sie einen guten Fang gemacht. Das sieht man gleich. Also wenn unsere gute Sekretärin in zwei Jahren in den Ruhestand geht, melde ich mich bei Ihnen.“

      „Unterstehen Sie sich!“, gab Ingrid Wiesmüller spielerisch mit dem Zeigefinger drohend zurück. „Die brauchen wir schon selbst!“ Das kleine, unaufgeregte verbale Intermezzo tat allen im Raum gut, das war deutlich zu spüren. Selbst Ingrid Wiesmüller hatte sich in ihrem Sessel zurückgelehnt und saß nun viel entspannter da als zuvor. Aber es half ja nichts. Sie waren nicht zum Plaudern zusammengekommen.

      „Nun sind wir hier, weil Ihr Alltag völlig aus den Angeln gehoben wurde“, führte Kommissar Kellert zum eigentlichen Anlass des Gespräches zurück. „Ihr Chef, Dr. Geißendörfner, ist ermordet worden. Äußerst brutal. Da hat jemand in großer Wut und aus tiefem Hass gehandelt. Der Kessel ist explodiert. Darum geht es. Wir“ – hier deutete Bernd Kellert auf seine Mitarbeiterin, was diese dankbar zur Kenntnis nahm – „müssen und werden diese Tat aufklären.“

      Seine Augen verengten sich, seine Miene drückte bittere Entschlossenheit aus. „Und ob das nun aus einem scheinbar nichtigen Anlass heraus passierte“ – hier blickte er nickend zu Frau Wiesmüller – „oder ob da doch eine schwierigere Geschichte dahintersteckt, das werden wir sehen. Auch, ob es etwas mit Dr. Geißendörfners Tätigkeit hier am Domgymnasium zu tun hat. Das ist natürlich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Keine Sorge, unsere Ermittlungen setzen breit an. Wir werden alles prüfen, das kann ich Ihnen versichern! Alles!“

      Er blickte konzentriert, aber lächelnd auf die drei Mitarbeitenden des Direktorates. Sie bildeten nun die Leitung des KaRaGe. „Ich bin Ihnen für alle Form der Mitwirkung dankbar“, sicherte der Kommissar ihnen zu, „und glauben Sie mir: Ich weiß, wie heikel diese Angelegenheit ist. Ihr Schulbetrieb muss weitergehen. Das ist mir völlig klar. Und ich verspreche Ihnen größtmögliche Diskretion und Vorsicht. Soweit es eben machbar ist.“

      Dankbar und Zustimmung signalisierend lächelte ihn der Schulpfarrer an. Thomas Brox nickte, ohne große Gefühlsregungen erkennen zu lassen. Ingrid Wiesmüller hingegen schaute Kellert herausfordernd und mit leicht skeptischem Schmunzeln an. Wenn ein Kommissar so begann, würde er etwas wollen, da war sie sich sicher. Rhetorisch geschult war sie selbst eben auch. ‚Gib ihnen etwas, bevor du etwas von ihnen willst.‘ Jaja, leicht durchschaubar. ‚Also: Nur heraus damit!‘, dachte sie.

      Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht: „Ja, wie war er denn nun, Ihr Chef?“, fragte Kellert. „Als Direktor der Schule und als Mensch. Ich möchte, nein muss mir ein möglichst genaues Bild von ihm machen. Bitte, es geht nicht um eine verklärende Erinnerung von wegen ‚über Tote sagt man nichts Schlechtes‘. Das würde weder Ihnen helfen noch mir. Ich muss verstehen, was für ein Mensch er war.“

      Die stellvertretende Schulleiterin fühlte ganz selbstverständlich sich selbst als Erste angesprochen und antwortete ganz direkt: „Da kann ich Ihnen nur wenig sagen, Herr Kommissar. Ich bin erst vor zweieinhalb Jahren an diese Schule gekommen. Vorher war ich an einem kirchlichen Gymnasium in Würzburg. Als hier am KaRaGe die Stellvertretung ausgeschrieben war, habe ich


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