Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst

Toter Chef - guter Chef - Georg Langenhorst


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mir nicht das Herz. Das ist vor vielen Jahren zerrissen worden. Damit kann ich leben.“

      ‚Ob sie das wirklich so unberührt lässt?‘, überlegte Thiele, der sich in die ihm hier erzählte Geschichte nur bedingt einfühlen konnte. All das sprengte seine eigenen Erfahrungen. „Also keine Wut?“, fragte er nach, fast die ersten Worte seit seinem Eintreten. „Ach, Wut!?“, entgegnete sie. „Ja, doch: Auf das Leben! Aber nicht mehr auf ihn, das wollen Sie doch eigentlich fragen, oder? Keine ‚Mordswut‘, darauf wollen Sie ja hinaus, oder?“

      Thiele fühlte sich durchschaut. Und falls Thea Geißendörfner nicht eine begnadete Schauspielerin war, nahm er ihr auch ab, was sie ihm erzählt hatte. „Haben Sie denn Kinder?“, fragte er nach. Sie lachte bitter. „Aber ja, hören Sie: Wir sind katholisch. Das hieß damals noch etwas. Als Katholikin meiner Generation hat man Kinder. Das gottgeschenkte Leben soll doch weitergehen.“ Sie lächelte mit einem nachdenklichen Zug um die Mundwinkel in sich hinein. „Vier haben wir. Alle natürlich längst aus dem Haus. Drei Buben, ein Mädchen. Und ein Enkelkind gibt es auch bereits, Lotta. Die ist jetzt auch schon fast drei.“

      Thieles fragender Gesichtsausdruck ließ sie weiterreden. Wo es zuvor so geklungen hatte, als habe sie sich die Rede genau Wort für Wort zurechtgelegt, erzählte sie nun freier und offener. „Nein, keiner wohnt mehr hier in Friedensberg, falls Sie das interessiert. Für Bertram war klar, dass er hier leben wollte, hier, wo seine Familie seit drei Generationen ansässig ist. Aber für die heutige Jugend ist das anders. Mobilität ist das Zauberwort.“

      Ihr Blick wanderte nach links, wo auf einem alten, aufgeklappten Sekretär mindestens fünfzehn Bilder erkennbar waren. Alle in Silberrahmen: Kinderfotos, Hochzeitsbilder, Einzelporträts. Thiele konnte nur einen oberflächlichen Überblick gewinnen. „Alle ausgeflogen“, kommentierte sie, und dieses Mal lag ein wirklicher Kummer in ihrer Stimme, gepaart mit Stolz. Seltsame Mischung. „In die große, weite Welt. Peter lebt in Florida, Christian in Leipzig – das ist der Vater von Lotta, wissen Sie? –, Bettina in der Nähe von Hamburg und Benedikt, unser Jüngster, der studiert Mathematik in München. Den zog es schon vor dem Abitur fort von hier.“

      Sie drehte sich wieder ihrem Gesprächspartner zu: „Und ich?“, sinnierte sie. „Ich bin hier, in Friedensberg, seit meinem Studium. Hängengeblieben. So ist das nun mal.“ „Waren Sie denn auch berufstätig?“, fragte Thiele nach. Sie drehte den Kopf, so dass ihr gesundes linkes Ohr seine Frage aufnehmen konnte. ‚Vielleicht redet sie auch so viel von sich selbst, weil sie nicht mehr so gut hört‘, schoss es ihm durch den Kopf. Dieses Verhalten hatte er schon oft bei schwerhörigen Menschen beobachtet. Aber Thea Geißendörfner hatte ihn offensichtlich durchaus verstanden.

      „Wie denn?“, gab sie müde zurück. „Mit vier Kindern? Ich habe Pharmazie studiert, aber noch vor dem Examen kam Peter, der Älteste. Trotzdem, das Studium habe ich dann auch noch mit Kind abgeschlossen. Das war mir wichtig. Aber als Pharmazeutin gearbeitet habe ich nie. Das bereue ich auch nicht. Für die Kinder da zu sein, das war mir wichtiger. Vielleicht das Schönste in meinem Leben. Von heute aus gesehen. Na ja, und als dann auch noch Benedikt, der Jüngste, aus dem Haus ging, habe ich mir schließlich doch etwas gesucht. Ich arbeite mit halber Stelle drüben in der ‚Lese-Ecke‘ – ein wirklich schöner Buchladen, kennen Sie den?“

      Thiele schüttelte den Kopf. Er war kein großer Leser. Im Gegensatz zu Verena, seiner Frau, aber die war ja schließlich auch Deutschlehrerin, Deutsch und Katholische Religionslehre. „Wie haben denn Ihre Kinder damals auf die Affäre Ihres Mannes reagiert?“, fragte er nach und ertappte sich dabei, dass er mit etwas lauterer Stimme sprach, als es für ihn üblich war. Er wusste nur zu gut, dass die meisten Tötungsdelikte innerhalb einer Familie erfolgten. Danach würde Kellert ihn fragen.

      „Ach Gott, ja“, antwortete Thea Geißendörfner mit wegwerfender Handbewegung. „Wie stecken Kinder so etwas weg? Peter und Christian waren ja damals schon im Studium. Und die beiden Kleinen – so nennen wir die, auch heute noch – am Ende ihrer Schulzeit. Die Großen haben auf Bertram eingeredet, wollten ihn zur Besinnung bringen. Peter hat ihn dann im Laufe der Zeit irgendwie verstanden, schien mir. Während Christian immer ganz auf meiner Seite war.“

      Sie hing ihren Gedanken nach. Erinnerungen schienen durch ihr Hirn zu blitzen und hinterließen ein Flackern in ihrem Gesicht. Schließlich führte sie den aufgenommenen Gedanken zu Ende: „Wir haben das dann alle verdrängt. Mehr oder weniger erfolgreich. Sie hätten all das bei unseren Familientreffen nicht gemerkt, als Außenstehender, glauben Sie mir. Manchmal ist das ganz gut, etwas zu verdrängen.“

      Wieder lachte sie bitter auf: „Früher dachte ich immer, dass man über alles reden kann, wirklich über alles. Dass man mit Offenheit und der Bereitschaft zur Vergebung auch noch so schwierige Situationen bewältigen kann. Heute weiß ich es besser: Man kann nicht alles im Gespräch klären. Gerade das wirklich Wichtige nicht. Oft hilft es nur, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Vielleicht ist das übrigens das beste Erfolgsrezept für eine gute Ehe: schweigen zu können.“

      Sie verfiel wieder ihren Gedanken. Thiele hatte ihr verwundert zugehört. Auf jeden Fall ließ er ihr Zeit. Er spürte, dass sie noch etwas loswerden wollte. Und richtig: „Doch, wir haben funktioniert, Bertram und ich. Die Geißendörfners. Das geht. Und, falls Sie das vorhin wissen wollten: Nein, mein Mann hatte keinen Streit mit unseren Kindern. Bettina hielt sowieso immer zu ihm. Vater-Tochter-Beziehung, Sie wissen schon. Da bleibt man als Mutter manchmal außen vor; egal, was passiert.“

      Sie lächelte müde: „Nein, Herr Kommissar“ – ‚Schön wär’s‘, dachte Thiele –, „ein Motiv für einen Mord werden Sie in unserer Familie nicht finden. Wahrlich auch keine heile Welt.“ Sie lachte verbittert vor sich hin. „Nur Normalität. So sieht die nämlich aus. Genau so.“

      Für Thea Geißendörfner schien das Gespräch damit beendet, aber Thiele, der bislang ja vor allem als Zuhörer fungiert hatte, stellte noch eine letzte Frage: „Haben Sie denn einen Verdacht, wer Ihren Mann ermordet haben könnte? Hatte er Feinde? Gab es irgendwelche Streitigkeiten?“

      Sie überlegte einen Moment lang, schüttelte dann den Kopf. „Nicht dass ich wüsste. Natürlich gab es immer auch Probleme an der Schule, mit Kindern, mit Eltern – vor allem mit denen! Auch mit Kollegen. Das hat er immer wieder loswerden müssen. Er hat viel von seiner Arbeit erzählt. Ich wollte das auch wissen, denn so konnte ich ihm nah sein. Nah bleiben. Und ich habe ihm manchmal Ratschläge gegeben, wie er sich verhalten soll. Ganz gute, glaube ich. Aber etwas Besonderes war nicht dabei. Nichts, an das ich mich erinnern könnte. Nichts, weswegen man einen Menschen umbringen könnte. Das bleibt für mich ein völliges Rätsel.“

      Sie endete. Das Entscheidende war gesagt. Beide verloren das Interesse an einer Fortführung des Gesprächs. Aber sie tauschten noch einige Belanglosigkeiten aus, mit denen man eine solche Begegnung eben zu Ende führte. Die alte Frau, die ihn hineinbegleitet hatte, führte Dominik Thiele schließlich auch wieder hinaus. Eine Freundin, die ihr beistehe, so hatte Frau Geißendörfner sie in einer Nebenbemerkung vorgestellt. Ein Name wurde nicht genannt. Und bis zuletzt beschränkte diese Freundin sich auf Gesten und Mimik. Sie sprach kein Wort.

      6.

      Bernd Kellert und Hannah Mellrich waren immer noch im Karl-Rahner-Gymnasium. Der Kommissar hatte erstaunlich lange mit der Chefsekretärin geplaudert. ‚Fast schon geflirtet‘, hatte Hannah Mellrich gedacht, die wie ein drittes Rad am Roller unbeteiligt danebengestanden hatte. Als sie nun das vom Pausenlärm gefüllte Schulgebäude gerade verlassen wollten, kam ein gehetzt wirkender Mann auf sie zu, gefolgt von zwei Frauen. „Herr Kommissar! Warten Sie! So warten Sie doch! Ich muss mit Ihnen reden!“, rief er.

      Kellert musterte den Mann, der ihn mit nikotinfleckigen Fingern am linken Jackenärmel festhielt. Derartige Übergriffe hasste er. Mit einem leichten Ruck riss er sich daher unwirsch los. Er straffte sich und wirkte noch einmal deutlich größer, als es seine eins einundachtzig hergaben. Der deutlich kleinere Mann vor ihm war Ende fünfzig, vielleicht Anfang sechzig, so schätzte er. Die beige Cordhose hatte schon bessere Tage gesehen, auch das rotweiß karierte Hemd und die blaue Weste waren zwar nicht schmutzig, wirkten aber abgetragen. Die fahlblonden, an einigen Stellen fast zur Farblosigkeit verblichenen


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