Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst
Ein Werbeschild für diese Schule ist er nicht gerade, oder? Also ich, als Direktorin, hätte da längst einige Worte mit ihm gewechselt.“
Überrascht blickten die beiden Polizisten auf ihre Kollegin, die selbstbewusst und ohne Scheu ihre Überlegungen vorbrachte. „Kann doch sein, oder?“, ging sie weiter ihren Gedanken nach. „Der Direktor versucht, ihn loszuwerden. Der Bedlinger hat sowieso einen schlechten Ruf als Lehrer, wie Sie, Chef, ja gesagt haben. Und läuft so rum. Vielleicht hat dieser Geißendörfner ihn zum Vorruhestand bewegen wollen, was weiß ich. Und irgendwann wurde es dann zu viel. Der kocht über. Tickt aus. Dass er seinen eigenen Wagen genommen hat, fällt ihm erst hinterher ein. Ein Alibi hat er auch nicht. Passt doch!“
Sie überlegte und wischte mit der rechten Hand gar nicht vorhandene Krümel von der klebrigen Tischdecke: „Okay, das ist nur eine Theorie. Ich weiß selbst nicht, ob ich die so richtig überzeugend finde. Aber unmöglich ist das nicht, oder?“ „Nee, interessant“, lobte Kellert. „Wir kommen ja nur über Hypothesen weiter. Irgendwann trifft eine davon zu. Ganz einfach. Und diese ist nicht schlecht. Selbst wenn ich Ihre Skepsis teile. So richtig vorstellen kann ich mir das auch nicht.“
„Und wieso?“, fragte Thiele. Kellert schaute auf seine beiden Mitarbeiter, dann grinste er breit: „Ja, wieso? Nicht lachen! Wenn ich es recht überlege, hatte ich in meiner ganzen Laufbahn in der Mordkommission noch nie einen Täter“ – er blickte zu Hannah Mellrich – „oder eine Täterin, der oder die mir von Grund auf unsympathisch war. Noch nie! Und dieser Bedlinger ist mir unsympathisch.“
Kellert grinste, schüttelte den Kopf und erklärte mit einem Zug von Selbstironie: „Gut, das gilt kriminalistisch wohl kaum als schlüssige Begründung, einen Verdächtigen vom Tatverdacht auszuschließen. Aber es ist eben meine Erfahrung! Ganz subjektiv.“ „Und auf dein Gespür ist schon meistens Verlass, Chef“, bestätigte Thiele, ohne dass es anbiedernd klang. Denn genau das war eben seine eigene subjektive Erfahrung.
„Und weiter?“, auffordernd nickte Kellert seiner jungen Mitarbeiterin zu. Dieses Mal war sie vorbereitet. „Die beiden Kolleginnen, die dieser Bedlinger im Schlepptau mit sich führte, waren ihm ziemlich ergeben, schien mir. Wie die den angeschaut haben! Als wäre er etwas ganz Besonderes. Nun, vielleicht hat er ja verborgene Qualitäten. Also: mir verborgen. Wir sollten auf alle Fälle damit rechnen, dass er im Kollegium durchaus seinen privaten Fanclub hat. So wenig nachvollziehbar mir das scheint. Und was immer das bedeutet. Isoliert ist er jedenfalls nicht.“
Kellert nickte nachdenklich, gleichzeitig zustimmend. Wieder meldete sich Thieles Smartphone mit dem schrillen Klingelton aus dem Kommissariat. Ein Anruf dieses Mal. Er nahm das Gespräch an, drehte sich zur Seite, lauschte längere Zeit hinein, bestätigte das Gehörte und bedankte sich. „Das war noch einmal Lena. Sie hat sich die Finanzen dieses Direktors vorgenommen. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber irgendwie kommt sie immer schnell und unkompliziert an all die Infos, denen ich ewig hinterherlaufen würde.“
„Weiblicher Charme?“, warf Hannah Mellrich verschmitzt grinsend ein. Kellert ignorierte ihre Bemerkung. Thiele grinste gönnerhaft, zuckte mit den Schultern und berichtete: „Also: Finanziell war bei dem anscheinend alles in Ordnung. Das Haus vom Vater geerbt. Und von dessen Vater erbaut. Wie das halt so läuft. Das habe ich mir irgendwie fast schon gedacht. Solche Häuser kauft man nicht, die erbt man. Ansonsten: keine Schulden, regelmäßiges Einkommen, solide Geldanlagen. Wenn der Eindruck nicht völlig täuscht, war das ein untadeliger Staatsbürger, gehobenes Bildungsbürgertum, wie man so sagt, oder? Also finanziell bestens abgesichert. Mehr als wir jedenfalls, weit mehr als wir. Alles unauffällig. Bis auf diese Affäre. Was aber vielleicht ja auch schon irgendwie dazugehört. Oder, Bernd?“
Sein unerwartet mit Vornamen angeredeter Chef nickte geistesabwesend, besann sich dann jedoch, schüttelte den Kopf und murmelte: „Frag mich was anderes. Nicht meine Welt. Und ich bin nicht böse drum!“ Er dachte eine Weile nach und sagte dann: „Ich will noch mehr über diese Schule wissen. Wie es da so zuging. So viele Menschen auf so engem Raum, natürlich gibt es da Reibungen. Und ständig geht es darum, welche zukünftigen Wege die Kinder und Jugendlichen vor sich haben.“
Kellert überlegte. Dann wandte er sich mit einem ungewöhnlichen Anliegen an seinen Mitarbeiter: „Dominik: Kannst du nicht deine Verena fragen, ob sie nachher ein halbes Stündchen für uns Zeit hätte? Wenn wir schon einmal ein Familienmitglied vor Ort haben. Vielleicht kann sie uns weiterhelfen. Sie hat ja – sozusagen – Insiderwissen. Das sollten wir schon anzapfen, oder? Jaja“, er blickte auf Thiele, der gerade empört zu einer Erwiderung ansetzte, „natürlich so, dass es ihr nicht schadet, ist schon klar. Wir wollen sie nicht in einen Rollenkonflikt bringen.“
Sie verabredeten sich in der Wohnung der Thieles, wo Verena gerade den Unterricht vorbereitete. Gut, da würden sie nicht gestört und auch nicht von unliebsamen Augen gesehen werden. „Chef, brauchen Sie mich da?“, fragte Hannah Mellrich. „Ich hätte nämlich für meinen anderen Fall noch einige Formblätter auszufüllen. Nicht, dass ich mich danach sehnen würde. Aber erledigt werden muss es nun einmal.“ Kellert überlegte kurz und stimmte dann zu: „Gut, machen Sie das. Und: Danke für Ihre Begleitung und Beobachtung.“
8.
„Und, wie macht sie sich so, die Neue?“, fragte Thiele, während sie völlig gegen alle Gewohnheit zu zweit zu seiner Privatwohnung fuhren. Wie immer steuerte er den Dienstwagen. Kellert fuhr nicht gern selbst. Er blickte nach links, murmelte zunächst etwas Unverständliches, räusperte sich dann und antwortete: „Gut. Das hast du ja selber mitbekommen. Aufmerksam, genau, nicht zu aufdringlich – das passt!“
Er blickte nach rechts aus dem Fenster und auf das dort langsam vorbeiziehende Friedensberger Panorama. „Aber ungewohnt ist es schon. Mit einer Frau unterwegs zu sein. Das ist doch …“ – er suchte nach Worten – „irgendwie anders. Da ist schon eine Art Spannung in der Luft. Irgendwie. Und ich habe das Gefühl, als müsste ich ihr etwas beweisen.“ Er feixte. „Sag es nicht weiter“, fügte er an. Sein Blick verlor sich in nicht fixierbaren Fernen. „Na ja, das wird schon“, kommentierte er abschließend, als müsste er sich selbst von dem Gesagten überzeugen. Und als hätte er nun schon mehr als genug von seinem Innenleben preisgegeben.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Seit mehr als zwei Jahren wohnte Kriminalhauptmann Dominik Thiele zusammen mit seiner Frau – sie waren seit sechs Monaten verheiratet – in einer geräumigen Mietwohnung im dritten Stock eines Neubaus in den Außenvierteln von Friedensberg. Thiele wusste, dass sich Verena in der Gegenwart seines Chefs immer ein bisschen gezwungen fühlte. Sie hatten sich bei einem Mordfall in der Theologischen Fakultät von Friedensberg kennengelernt, als Verena dort noch Studentin war. Inzwischen trafen sie sich auch privat, aber eher selten.
Die Kellerts waren selbstverständlich zur Hochzeit der Thieles eingeladen gewesen. Eine echte Lockerheit im Umgang wollte sich gleichwohl nicht so recht einstellen. Lag es am Altersunterschied? Oder daran, dass der erste Eindruck eben aus dem Zusammentreffen zwischen einem Kriminalkommissar und einer potentiell – aber natürlich völlig grundlos – Verdächtigen entstanden war?
Der großzügige Wohnbereich der Mietwohnung des jungen Paares eröffnete einen weiten Blick über die Hänge auf der anderen Seite des breitgeschwungenen Flusstales von Friedensberg. Sie saßen in den modischen Sesseln, Verena hatte einen Kräutertee aufgebrüht, der Kellert erstaunlich gut schmeckte.
„Na, wie ist denn so das Leben als Lehrerin?“, fragte er in angestrengter Ungezwungenheit. Verena lächelte etwas bemüht. Sie hatte eigentlich gar keine Zeit. Der Unterricht für morgen war noch nicht vorbereitet und eine Klassenarbeit war erst zur Hälfte korrigiert. Lehreralltag halt. Aber sie wollte dem Chef ihres Mannes den Wunsch nach einem Gespräch natürlich nicht abschlagen.
„Das kannte ich ja schon aus dem Referendariat. Aber jetzt bin ich endlich selbstständig. Keiner mehr, der mir über die Schulter guckt und Ratschläge gibt, egal ob gebeten oder ungebeten. Das genieße ich schon. Und ich wusste ja, dass ich gern mit den Kids arbeite. Und dass ich das auch kann. Dazu kommt: Ich habe ja nur eine Dreiviertelstelle. Das lässt mir natürlich ein bisschen Freiraum. Da kann ich mich besser vorbereiten, und das nehme ich auch ernst. Also, Bernd“ – immer