Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst
mehr ansteht …“
Sie ließ den Satz ausklingen. Die Botschaft war deutlich. Kellert überlegte kurz, schien noch etwas anfügen zu wollen, verabschiedete sich dann jedoch und verließ mit seiner jungen Mitarbeiterin das Direktorat. Sie würden aber gewiss noch im Sekretariat vorbeischauen, um sich von Saskia Blum zu verabschieden.
5.
Dominik Thiele war überrascht, welchen inneren Zwiespalt er empfand. Einerseits war es seltsam, seinen Chef nicht zu begleiten. Viereinhalb Jahre lang waren sie nun schon ein Team, und sie hatten sich wirklich sehr gut eingespielt. Ohne viele Worte. Blicke und Gesten reichten inzwischen aus, um sich perfekt zu verständigen.
Auf der anderen Seite spürte er ein großes Gefühl von Befreiung. Er selbst – nur er! – war allein unterwegs. Einen Chef, der das Kommando hatte, brauchte er nicht. Nicht mehr. Er würde das auch so hinbekommen, da war er sich sicher. Schon viel zu lange – so empfand zumindest er das – stand nun auch die nächste Beförderung aus. Doch, er wollte und würde Kriminalkommissar werden. Und dann sein eigener Chef sein, soweit das möglich war. Die Zeit als Mitarbeiter von Bernd Kellert lief aus. Gewiss, das war einerseits durchaus schade. Andererseits: Gut so! Er hatte genug gelernt.
Er parkte seinen Dienstwagen mitten im Villenviertel von Friedensberg. Geräumige, zwei- bis dreigeschossige Bauten erhoben sich hinter hohen Grundstücksmauern und inmitten weitläufiger Gartengrundstücke, die von mächtigen alten, noch blätterlosen Laubbäumen überwölbt wurden. Diese Gründerzeitvillen waren inzwischen über einhundert Jahre alt. Sie kosteten unendliche Gelder zur Unterhaltung und Heizung, das wusste Thiele. Auch jetzt, im März, musste man diese Häuser noch komplett heizen. Sonst würde es kühl und klamm. Kinder, die in solchen Villen wohnten, waren gerade in dieser Jahreszeit oft erkältet. So zumindest hatte es Verena aus ihrer Schulerfahrung berichtet.
Thiele mochte die hohen Räume in diesen Villen, auch die ausladenden Gärten mit den alten, majestätischen Bäumen. Hier wohnen wollte er jedoch kaum. Und würde es auch nicht. Dazu fehlten ihm die familiären Einbindungen in die Erbfolgen, die die Bewohner auszeichneten. Ganz abgesehen von den finanziellen Mitteln.
„Geißendörfner“ stand auf einem alten Messingschild rechts neben einem schon etwas verwitterten Tor in den brusthohen Umgrenzungsmauern aus dunkelrotem Ziegelstein. Ohne Vornamen, ohne Titel. Thiele klingelte, sofort öffnete sich das Tor. Er hatte sein Kommen angekündigt und wurde erwartet. Wortlos öffnete eine vielleicht siebzigjährige, unscheinbar gekleidete grauhaarige Frau die Haustür und führte ihn durch einen dämmrigen Flur in ein geräumiges Wohnzimmer. Gediegene Kirschholzmöbel, bis zur Decke reichende, maßgefertigte und bis zum letzten Platz gefüllte Bücherregale, eine Sitzgruppe auf hochflorigem Teppich. Trotz der zwei großen Fenster blieb es hier leicht dämmrig.
Eine ‚Dame‘ – das Wort fuhr Thiele zu seiner eigenen Überraschung durch den Kopf – erhob sich, zierlich, mit einem silbern glänzenden Kurzhaarschnitt, elegant gekleidet. „Thea Geißendörfner“, stellte sie sich unnötigerweise vor, reichte ihm die schmale, mit drei Ringen geschmückte rechte Hand mit kaum wahrnehmbarem Druck und wies auf einen Sessel ihr gegenüber: „Bitte sehr, setzen Sie sich doch.“ Die alte Frau, die ihn bis hierher begleitet hatte, zog sich zurück, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben.
Thiele versuchte, die Gesichtszüge seines Gegenübers zu erforschen, ohne dabei allzu aufdringlich zu wirken. Hinter dem rechten Ohr entdeckte er ein silbern aufblitzendes Hörgerät, fast unsichtbar, aber doch erkennbar. Ungewöhnlich bei einer Frau, die noch keine sechzig Jahre alt sein konnte. Müde wirkte die Hausherrin, ein eingefallenes Gesicht, erloschene Augen, das ja. Aber Spuren von Verzweiflung und tiefer Trauer konnte er nicht entdecken. Gefasst blickte die formvollendet gestylte Frau ihn an. Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht, denn natürlich bemerkte sie seinen Blick.
„Sie suchen die trauernde Witwe, nicht wahr?“, fragte sie mit klarer, fester, eher dunkler Stimme. „Und finden sie nicht. Und überlegen, warum das so ist. Habe ich Recht?“ Thiele rutschte auf seinem Sitz hin und her, wollte antworten, doch sie kam ihm zuvor: „Das ist schon in Ordnung, junger Mann. Äh, Herr Thiele.“ Sie erinnerte sich seines Namens, der ihr bei der Ankündigung seines Besuchs genannt wurde.
„Nun, die werden Sie nicht finden, die am Boden zerstörte Ehefrau“, fuhr sie fort. „Und ich bin es auch nicht. Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Sie es vielleicht vermutet haben. Und ich will Ihnen auch sagen, warum das so ist. Damit Sie von Anfang an klar sehen. Was soll man da groß darum herumreden?“ Sie hatte sich offenbar genau überlegt, was sie sagen wollte. Ihre Worte kamen ohne Stocken und Zögern.
„Wir sind“ – sie korrigierte sich – „wir waren vierunddreißig Jahre verheiratet, der Bertram und ich. Er war vierundzwanzig und ich dreiundzwanzig, als wir heirateten. Beide noch im Studium. Vierunddreißig Jahre! Da kennt man sich gut. In- und auswendig. Stärken und Schwächen. Da gibt es keine Geheimnisse, jedenfalls nicht viele.“
‚Was will sie mir sagen?‘, überlegte Thiele. ‚Sie will doch auf etwas hinaus!‘ Er musste nicht lange rätseln. „Sie werden es sowieso herausfinden, deswegen sage ich es jetzt lieber gleich“, fuhr Thea Geißendörfner fort. „Unsere Ehe war nicht mehr das, was sie früher einmal war. Ja, wir haben noch zusammengelebt. Und ja, wir haben uns auch noch einigermaßen gut verstanden. Aber eher wie alte Freunde. Wie Weggefährten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Thiele war sich nicht ganz sicher, ob er das verstand, ihm blieb aber keine Zeit zum Nachdenken. „Sehen Sie“, Thea Geißendörfner blickte ihm fest in die Augen, „der Bertram hatte eine Geliebte. Das ist neun Jahre her. Da musste er sich irgendetwas beweisen, bevor er fünfzig wurde, oder was weiß ich. Er hatte eine Affäre. Mit einer Kollegin seiner Schule. Monika Höffgen. Den Namen werde ich nicht vergessen. Fünfzehn Jahre jünger als ich, wenig überraschend. Alles wenig spektakulär, so etwas hören Sie sicherlich ständig. Halt eine Affäre wie viele andere auch.“
Der Kriminalhauptmann, frisch verheiratet, wusste gar nicht, ob er das ‚ständig‘ zu hören bekam. Eigentlich nicht. Aber natürlich dachte er gar nicht daran, sein Gegenüber zu unterbrechen. Die Frau des Ermordeten redete sowieso zielbewusst weiter: „Ich versuche es Ihnen zu erklären: Ihm ging es dabei nicht um Sex. Zumindest nicht nur. Es brauchte einige Zeit, bis ich verstand, dass er diese Frau wirklich liebte. Wie weh das tut, wenn einem das klar wird, das lassen wir hier mal außen vor. Er wollte mit ihr, ja was: Noch einmal neu anfangen? Die Zeit aufhalten? Eine zweite Chance? Natürlich ohne mir wehtun zu wollen, das hat er immer beteuert. Als wäre das möglich!“
All das berichtete Thea Geißendörfner gefasst. Sie wirkte nicht verbittert. Eher abgeklärt. „Eine Zeit lang ging das so, mehrere Monate. Ich hier, er mal bei ihr, mal bei mir. Dann habe ich ihn vor die Entscheidung gestellt: entweder sie oder ich. Und seine Schule auch: An einem katholischen Gymnasium war eine Affäre zwischen dem damals noch stellvertretenden Direktor und einer Kollegin untragbar. Und Direktor wäre er sicherlich nicht geworden, wenn er mich verlassen hätte.“
Die Hausherrin verzog das gekonnt geschminkte Gesicht zu einer Grimasse, bei der die Falten sichtbar wurden. Kaum hörbar zog sie die Luft durch die Nase ein und ergänzte: „Denn natürlich ließ sich all das nicht völlig geheim halten. Obwohl nicht viele an seiner Schule davon wussten. Sagte er zumindest. Lilli natürlich, seine Trauzeugin. Also: Lilli Schildbach, damals auch schon Mitarbeiterin im Direktorat und später dann seine Stellvertreterin. Aber die hat natürlich nichts herumerzählt. Die gehörte ja praktisch zur Familie.“
Nach kurzem Innehalten fuhr sie fort: „Nun: Er hat sich dann entschieden – für mich. Oder die Schule. Oder beides? Seiner weiteren Schulkarriere stand anschließend jedenfalls nichts mehr im Weg. ‚Fehltritte‘ kann man verzeihen oder beichten, so ist das bei uns Katholiken. Monika Höffgen wurde versetzt. Und er war wieder bei mir.“ Sie überlegte. „Zumindest oberflächlich. Er hat ihr lange, lange nachgetrauert. Das merkt man als Ehefrau schon. Und das war für mich das Schlimmste: Wie tief das ging, wie sehr er wirklich an ihr hing. Oder an seinen Vorstellungen, die er mit ihr verband.“ Bevor Thiele nachfragen konnte, führte sie das Gespräch in Eigenregie weiter. „Wir? Wir haben uns arrangiert. Irgendwann habe ich all das akzeptiert. So war es und