"Chemin Neuf" in kirchenrechtlicher Sicht. Andreas Friedel


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für das Studium der alten Sprachen, „um die Vulgata in jeder Hinsicht besser verteidigen zu können“.220 Im Vergleich zur protestantischen Theologie seiner Zeit zeigte Ignatius kein Interesse am „Wort der Schrift“. Das lag teilweise in der Lebensgeschichte des Heiligen begründet. Seine Bekehrung speiste sich aus einem mystischen Erleben, nicht wie bei Luther, der durch das Wort der Schrift getroffen worden war.221 Bei den Exerzitien, an denen der ignatianische Umgang mit der Bibel gut ablesbar ist, steht nicht die Heilige Schrift in ihrer Gesamtheit und ihrer theologischen Aussageabsicht im Mittelpunkt. Vielmehr werden die Evangelien reduziert auf einen Lebenswandel Christi. Die geistlichen Übungen konfrontieren den Gläubigen weniger mit der Textaussage der Evangelien als mit anschaulichen Episoden aus dem Leben Jesu. Damit folgt Ignatius dem Vorbild der mittelalterlichen Erbauungsliteratur. Ignatius ist ebenso nur bedingt an der Historizität der biblischen Überlieferung interessiert. Zum Zweck der Kontemplation und besseren Visualisierbarkeit schmückt er die biblischen Überlieferungen aus. Dabei greift er auf apokryphes und legendarisches Material zurück. So verwendet er Stoffe aus der „Legenda Aurea“222 und der „Vita Christi“ von Ludolf von Sachsen.223 Inwieweit die in mittelalterlichen Denkbahnen verhaftete ignatianische Herangehensweise an die Bibel ein Vorbild für das tägliche Lesen und Meditieren des Wortes Gottes bei CCN sein kann, erschließt sich nicht.

      Die von CCN reklamierte ignatianische Tradition erweist sich als widersprüchlich und schwer einzuordnen.224 In einigen Punkten, wie der Priorität des Apostolats, ist durchaus eine Verwandtschaft zum ignatianischen Geist erkennbar. Die Exerzitien stehen als ein Beispiel für transformiertes ignatianisches Erbe. Die Konzepte und Methoden des heiligen Ignatius sind dabei mit neuem Gedankengut gefüllt worden. In die inhaltliche Neufüllung fließen unter anderem Ideen aus der charismatischen Glaubenslehre oder ökumenisches Gedankengut ein. In anderen Vollzügen wie der geistlichen Schriftlesung erschließt sich nicht, wo der Vergleichspunkt liegen soll.

      Die Einschätzung, dass nur teilweise ein authentisches ignatianisches Erbe vorliegt, wird durch die Aussagen des CCN-Autors Timothy Watson bestätigt. Dieser attestiert, CCN habe das ignatianische Ideengut adaptiert und teilweise neu erfunden. Er nennt es „the reinvention and adaptation of Ignatian models for the new context of charismatic community life“.225 Watson sieht in der ignatianischen Lehre und Spiritualität hilfreiche Anknüpfungspunkte und eine Ergänzung für das charismatische Glaubensleben. Dieser Hinweis von Watson deutet an, dass CCN entsprechend den eigenen Bedürfnissen aus dem Fundus ignatianischer Instrumentarien geschöpft hat und sich dabei von den Bedürfnissen der charismatischen Glaubenspraxis leiten ließ. Im Übernahmeprozess ist das ignatianische Erbe nicht unwesentlich durch die dominierende pfingstkirchliche Spiritualität überformt worden.

      Fragt man nach der Herkunft des ignatianischen Erbes bei CCN, zeigt sich, dass auch hier die Entwicklungslinien weniger eindeutig verlaufen, als es auf den ersten Blick scheint. Das ignatianische Erbe wurde nicht durch den Jesuiten Laurent Fabre in die Kommunität hineingetragen, wie es das Gründungsnarrativ nahelegt. Fabre sei sehr zurückhaltend gewesen und habe der Kommunität die ignatianische Tradition nicht auferlegt, erklärt Jacqueline Coutellier.226 Sie berichtet, innerhalb der Kommunität habe eine kleine Gruppe sich zur Aufgabe gestellt, über Ausbildungsfragen zu reflektieren. CCN-Verantwortliche hatten den Eindruck, die charismatische Spiritualität bedürfe einer mehr rationalen Überprüfung und Beurteilung. Die Mitbegründerin Coutellier und einer der ersten CCN-Priester Pierre Laslandes beschlossen deshalb 1976 im Prozess des Suchens, die 30-tägigen ignatianischen Exerzitien zusammen mit den Novizen des Jesuitenordens in Aix-en-Provence zu besuchen. Wie Coutellier ausführt, schätzt sie an den Exerzitien die „ignatianische Pädagogik“.227 In den folgenden Jahren nahmen weitere CCN-Mitglieder an den Exerzitienangeboten des Jesuitenordens teil, bis CCN es 1978/1979 erstmals wagte, in eigener Regie die siebentägigen Exerzitien im damals neu errichteten Bildungshaus in Les Pothières durchzuführen. Allerdings wurden auch die ersten CCN-Exerzitienkurse von Patres aus dem Jesuitenorden begleitet.228 Die ursprüngliche Befürchtung, die ignatianische Frömmigkeit würde nicht zur pfingstkirchlichen-charismatischen Glaubenspraxis passen, hat sich nach Einschätzung von CCN-Verantwortlichen nicht bewahrheitet. Aus dem Bemühen, die ignatianische Tradition kennenzulernen, erwuchsen freundschaftliche Kontakte zu einer Reihe von Jesuiten. Die Beziehung zum Jesuitenorden wird als eine „privilegierte Beziehung“229 beschrieben. Auf vielfältige Weise hätten Ordensleute aus dem Jesuitenorden CCN unterstützt.230 Der Prozess des Suchens und Ausprobierens von Formen der ignatianischen Frömmigkeit dauerte etliche Jahre an. Erst 1992, bei einer Gemeinschaftswoche der CCN-Vollmitglieder in der Abtei Sablonceaux, wurde die ignatianische Tradition definitiv als ein Element der Spiritualität anerkannt und in den Konstitutionen verankert.231

      In einer wiederkehrenden Formulierung stellt sich CCN als eine „katholische Gemeinschaft mit ökumenischer Berufung“232 vor. Viele Informationsbroschüren und Programmhefte gebrauchen diese Formulierung, manchmal sprachlich leicht variiert.233 Damit wird signalisiert, dass es sich um ein weiteres wichtiges Element des spirituellen Selbstverständnisses handelt. CCN versteht sich zunächst als eine katholische Gemeinschaft, die ökumenische Berufung tritt als eine weitere Eigenschaft hinzu. Die Vorstellungsbroschüre gibt in komprimierter Form einen Überblick über den Ursprung der Ökumene, über die biblischen Bezüge, über die christlichen Kirchen und Gemeinschaften, mit denen man in Beziehung steht, und zum Schluss folgt ein Hinweis auf die Umsetzungsmethode:

      „Von Anfang an ist die Gemeinschaft durch die Begegnung von Geschwistern unterschiedlicher christlicher Konfessionen geprägt. So möchte sie dem Gebet, das Jesus vor seinem Tod gesprochen hat, treu sein: ‚Alle sollen eins sein.‘ (Joh. 17,21) Die Geschwister der Gemeinschaft sind Mitglieder verschiedener Kirchen: katholisch, orthodox, anglikanisch, evangelisch, freikirchlich oder aus einer Pfingstgemeinde stammend. Ohne ihre eigene Identität aufzugeben, leben, beten und evangelisieren sie gemeinsam in Verbundenheit mit ihrer jeweiligen Kirche.“234

      Das Gemeinschaftsmanifest gibt weitere Erläuterungen zum ökumenischen Ideengut und unterstreicht die Bedeutung, indem der Ökumene auch in diesem Basistext Raum gegeben wird:

      „Da die Trennung der Christen das größte Hindernis zur Evangelisation ist und da wir glauben, dass das Gebet Jesu Christi um die Einheit ‚Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt‘ erhört werden wird, teilen wir, orthodoxe, evangelische, freikirchliche und katholische Christen, ohne länger zu warten, demütig unseren Alltag.“235

      Das Gemeinschaftsmanifest legt den Akzent auf das Ärgernis der Kirchenspaltung und auf die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei den Apostolats- und Evangelisationsbemühungen. Mit dem Stichwort „Alltag“ wird ein bestimmtes Ökumenekonzept angedeutet, auf das bereits eingegangen worden ist.236

      Als Erklärung für die ökumenische Ausrichtung von CCN bemüht Fabre das Gründungsnarrativ – das Gemeinschaftswochenende, bei dem er die Taufe im Heiligen Geist empfing. Fabre macht den Ursprung und die Bedeutung der ökumenischen Ausrichtung der Kommunität an diesem Ereignis fest, bei dem Christen der katholischen und episkopalen Kirche zusammenwirkten. Die Angehörigen beider Konfessionen waren zugleich Anhänger der pfingstkirchlichen Erweckungsbewegung. Fabre sieht in dem Schlüsselerlebnis, das durch das Zusammenwirken von Christen verschiedener Konfessionen zustande gekommen war, die ökumenische Ausrichtung der Kommunität in nuce vorgeformt.237 Fabre liest aus der Lebensgeschichte der beteiligten Personen noch mehr versteckte Hinweise heraus. Einer der beiden amerikanischen Episkopalisten hatte jüdische Wurzeln. Damit deutet Fabre eine tendenzielle Offenheit nicht nur gegenüber verschiedenen christlichen Konfessionen, sondern auch gegenüber unterschiedlichen Religionen an. Die beiden Episkopalisten kamen von Taizé, einem Pilgerort, der durch die Spiritualität der konfessionsüber-greifenden Bruderschaft von Taizé geprägt


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