"Chemin Neuf" in kirchenrechtlicher Sicht. Andreas Friedel
teilweise einer rationalen Überprüfung. Als Kriterien nennt er den Maßstab der Heiligen Schrift und die Beurteilung und Prüfung durch die Gemeinschaft.182
2.1.4.3.3 Gebetsheilungen
Zu den Spezifika der charismatischen Glaubenspraxis gehört das Heilungsgebet. Im Jahr 1974, also relativ kurz nach seinem charismatischen Bekehrungserlebnis, veröffentlichte Fabre mit einem Koautor einen Aufsatz zum Thema „Heilung durch Gebet“.183 Darin bemüht er sich, charismatische Gebetsheilungen vor dem Hintergrund eines wissenschaftlich-rationalen Weltbildes zu deuten. Er betont, Glaube und Gebet könnten potentiell seelische und körperliche Krankheiten heilen. Er unterstreicht, es handle sich in den meisten Fällen nicht um mirakulöse Ereignisse, sondern um Heilungen als Prozess. In dem Heilungsprozess gehen eine Erneuerung des Lebens und die allmähliche körperliche Genesung Hand in Hand. Die beiden Autoren sprechen daher von den „gewöhnlichen und banalen Heilungen“.184 CCN greift damit auf die Konzepte von aus dem nordamerikanischen Kulturkreis stammenden Protagonisten der charismatischen Heilungsbewegungen zurück. Fabre nennt als Leitfigur z. B. Agnes Mary White Sanford. Ihr Buch „Das heilende Licht“ wird von charismatischen Gruppen als Klassiker auf dem Feld des Heilens betrachtet. Sanford war eine Schlüsselfigur der charismatischen Bewegung in den Vereinigten Staaten.185 Fabre verweist ebenso auf Francis Scott Mac Nutt, der ein führendes Mitglied der charismatischen Erneuerung ist und Autor mehrerer Bücher, die sich mit den Themen Heilung, Gebet und Befreiung von bösen Geistern befassen.186 CCN sieht die charismatische Heilungspraxis, wie sie in der Kommunität praktiziert wird, im Rahmen dieses ideengeschichtlichen Kontexts.
CCN verbindet die charismatischen Heilungen mit Elementen traditioneller katholischer Theologie. Das Sakrament der Krankensalbung und der Buße haben im Glaubensvollzug und Ideengebäude von CCN eine neue Relevanz gewonnen. Die heilende Dimension dieser beiden Sakramente wird in Veröffentlichungen der Gemeinschaft herausgestellt.187 Neben dem Festhalten an der realen Möglichkeit von außergewöhnlichen Heilungen verweist Fabre aber auch auf einen anderen theologischen Gedanken, nämlich auf den erlösenden Charakter des angenommenen Leidens und das Geheimnis des Kreuzes, womit den Wunderheilungen ein Korrelat gegenübergestellt wird.188
Der Vergleich zwischen den charismatischen Glaubensvollzügen, wie sie in der theologischen Literatur beschrieben werden, und der spirituellen Praxis bei CCN, zeigt eine weitgehende Übereinstimmung. Die Grundelemente der charismatischen Glaubenspraxis finden sich in der Kommunität wieder: die Taufe im Heiligen Geist als Initiationsritus, das spontane-ekstatische Gebet, die besonderen Geistesgaben wie Glossolalie, Prophetie und Heilung.
2.2 Die ignatianische Spiritualität in der Umsetzung bei Chemin Neuf
2.2.1 Der Umfang des reklamierten ignatianischen Erbes
Als weiteres Element im verbandstypischen spirituellen Dreiklang nennt CCN die ignatianische Tradition. Die Konstitutionen schreiben dazu:
„Diese Erfahrung der Taufe im Heiligen Geist empfängt ihre Stabilität in der Begegnung mit der ignatianischen Tradition, die uns lehrt, Gottes Gegenwart zu erkennen und den apostolischen (missionarischen) Dienst im Hören auf den Heiligen Geist und die gemeinschaftliche Unterscheidung zu wählen. Jeder von uns wird regelmäßig die ignatianischen Exerzitien von einer Woche und vor seinem endgültigen Engagement die ‚30-tägigen Exerzitien‘ machen.“189
Der ignatianischen Tradition wird eine stabilisierende Wirkung zugeschrieben. Die „Taufe im Heiligen Geist“ – also die charismatische Spiritualität – soll durch diese zweite geistliche Tradition gefestigt werden.
Die Vorstellungsbroschüre, ein CCN-Basisdokument, umschreibt mit sieben Stichworten, worin die Gemeinschaft ihr ignatianisches Erbe sieht:
1) tägliches Lesen und Meditieren des Wortes Gottes;
2) geistliche Begleitung;
3) ignatianische Exerzitien;
4) Entscheidung zum Gehorsam und zur geschwisterlichen Unterordnung;
5) Vereinfachung des Lebensstils (Teilen der Güter);
6) Erlernen der geistlichen Unterscheidung;
7) Verfügbarkeit für die Mission und den Dienst in Kirche und Welt sowie Engagement für Gerechtigkeit.190
Analysiert man diese sieben Punkte des ignatianischen Erbes, was nachfolgend an Fallbeispielen exemplarisch geschehen soll, stellt sich die Frage, inwieweit man tatsächlich von einer authentischen ignatianischen Tradition bei CCN sprechen kann.
2.2.2 Vergleich zwischen ignatianischer Tradition und CCN-Praxis
2.2.2.1 Wiedererkennbarer ignatianischer Geist
Bei den Jesuiten hat die Seelsorge den ersten Rang. In der Formula – der Ordensregel des Jesuitenordens – nennt Ignatius von Loyola als Ziel des Ordens, den Menschen zu helfen und den Glauben und die christliche Lehre zu verbreiten. Die Berufung als Jesuit wurde zugleich als ein Ruf zum apostolischen Dienst verstanden.191 Die Metapher vom christlichen Soldaten betont geradezu einen kämpferischen Einsatz in der Welt. Den Seelen zu helfen, war das erklärte Ziel des Ordensgründers.192 Die Modalitäten des Ordenslebens waren im Jesuitenorden ganz auf einen aktiven missionarischen und seelsorglichen Dienst zugeschnitten. So ordnete Ignatius das Gebet und das Gemeinschaftsleben der aktiven Seelsorge unter. Die Jesuiten lebten nicht in der Zurückgezogenheit von Klöstern, sondern in Häusern oder Kollegien in den Zentren der Städte. Die Ordensleute trugen keine mönchische Kleidung und waren nicht zum Chorgebet verpflichtet. Die Novizen wurden zur praktischen Seelsorge hinzugenommen, und ihre Eignung dafür entschied, ob sie zu den Gelübden zugelassen wurden.193 Die Liste der apostolischen Tätigkeiten ist lang: Exerzitien, Volksmissionen, Predigttätigkeit, Publikation religiöser Literatur, Betreiben von Schulen und Universitäten, Leitung von Bruderschaften und marianischen Kongregationen und nicht zuletzt die umfangreiche Missionstätigkeit in Südamerika und Asien.
In der aktiven seelsorglichen Tradition der Jesuiten sieht sich auch CCN. Die Konstitutionen weisen darauf hin, die Gemeinschaft existiere nicht um ihrer selbst willen, sondern habe sich das Ziel gesteckt, die christliche Botschaft zu verbreiten:
„Unsere Gemeinschaft hat also ihr Ziel nicht in sich selbst. Die Freude, Brüder und Schwestern in Jesus Christus zu sein, ist nur so groß, wie unser gemeinsamer Wunsch, die Frohe Botschaft von der Auferstehung den Menschen zu bringen.“194
Die Evangelisation195 wird in den Konstitutionen als essentielles Element angesehen, dem sich alles andere unterordnen muss:
„Dieses Grundelement, die Evangelisation, bezieht die anderen Elemente wie Fortbildung, gemeinsames Leben, Liturgie […] je nach ihrer Notwendigkeit mit ein; doch müssen all diese Aspekte relativ bleiben und der Evangelisation, die Priorität hat, untergeordnet sein.“196
Der Duktus der Vorstellungsbroschüre lautet ähnlich:
„Als Antwort auf die Berufung, die Liebe Christi allen Menschen zu verkünden, hat die Gemeinschaft seit ihrer Gründung den Auftrag zu evangelisieren. Sie hat außerdem den Auftrag, die Christen zur Stärkung ihres Glaubens zu schulen und ihnen Wege zu eröffnen, sich zu engagieren, und sie in ihrer Verantwortung im Dienst der Kirche und der Gesellschaft zu unterstützen.“197
Das aktive Apostolat wird in dieser Broschüre als Erbgut der Gemeinschaft bezeichnet, welches schon im Gründungsimpuls enthalten war. Fabre betrachtet es geradezu als eine Gefahr für die Kommunität, sich an den Rand der Gesellschaft zu stellen und sich von der Welt und ihren Kämpfen zurückzuziehen. Die Flucht aus der Welt ist für ihn keine Option.198 Die Kommunität wird nicht müde hervorzuheben, dass man sich als eine apostolische Gemeinschaft betrachtet, die im Dienst der Welt und der Ortskirche steht.199 Diese Ausrichtung wird mit der ignatianischen Tradition in Verbindung gebracht. Die beanspruchte geistige Verwandtschaft zur Ordenstradition der Jesuiten in Bezug auf die apostolische Ausrichtung kann man durchaus gelten lassen. Bei diesem Teil aus dem ignatianischen Erbgut handelt es sich allerdings um eine Gesinnung, die von Natur aus wenig quantifizierbar